Nachsitzraum

Beschreibung: Wer etwas verbrochen hat, der darf sich auf einen (oder mehrere) Nachmittag(e) in diesem schönen Zimmerchen freuen. Viel gibt's hier nicht zu tun, außer widerwillig die Aufgaben zu erledigen, die einem der Lehrer aufgetragen hat. Immerhin gibt es aber ein Fenster, aus dem man sehnsüchtig blicken kann!

Geknickt war Delia den Flur entlang getrottet, welcher um diese Uhrzeit relativ leer war. Kein Wunder, die meisten ihrer Mitschüler waren ja auch bereits auf dem Heimweg. Nur ein Bruchteil der Gesamtmenge besuchte um diese Uhrzeit noch Nachmittagskurse oder irgendwelche AGs. Nicht aber Delia! Eigentlich sollte sie sich schon längst auf ihr blumiges Fahrrad geschwungen haben, um nach Hause zu düsen. Stattdessen aber stand sie nun vor der Tür des berühmt-berüchtigten Nachsitzraums. Nachsitzen! Delia Hollingsworth musste nachsitzen! Eigentlich hielt sich die Blauhaarige mit den hellgrünen Augen für unsichtbar. Zumindest vermittelten ihre Mitschüler ihr dieses Gefühl. Und wenn sie einmal sichtbar wurde, dann, um als Freak betitelt zu werden. Warum, das wusste Delia nicht genau. Sie hatte aufgegeben, danach zu fragen.

Jedenfalls dachte Delia, dass nicht nur ihre Mitschüler, sondern vielleicht auch das Kantinenpersonal sie für unsichtbar halten könnte. Die junge Dame war eine begeisterte und talentierte Köchin - zumindest würde sie bald eine Ausbildung in diesem Bereich beginnen. Da hätte es doch nicht schaden können, das für jenen Tag geplante Essen ein wenig liebevoller, spannender und vorzüglicher zuzubereiten, als man es sonst von der Schulkantine kannte. Und obwohl Delia gehört hatte, wie begeistert alle waren, wurde sie trotzdem mit einem Verweis und Nachsitzen bestraft, als man sie erwischt hatte. Frech!

Nachdem sie angeklopft hatte und hereingebeten wurde, betrat die Blauhaarige den Raum. Verunsichert ging sie zu dem Lehrer, welcher am Pult saß und reichte ihm einen Zettel, welchen sie ihm abgeben sollte. Während der Mann las, ließ Delia ihren Blick durch den Raum schweifen. Allerdings saß dort bisher nur dieser gutaussehende, blonde Softball-Typ. Er passte bestimmt besser in diesen Raum als Delia, denn sie hatte sich bisher nichts zu Schulden kommen lassen. „Sie haben sich in die Kantine geschlichen, um das Essen zu manipulieren?!“, fragte der Lehrer empört. Delia zuckte zusammen und sah den Mann mit großen Augen an. „Also.. eigentlich habe ich es nur.. besser zubereiten wollen..“, entgegnete sie verunsichert. „Wann?!“, fragte der Lehrer aufgebracht und hielt sich den Bauch besorgt. Delia hob die Augenbrauen. Dachte der etwa, sie würde die Leute vergiften wollen? „Letzten Montag“ Da seither einige Tage vergangen waren, atmete der Mann erleichtert auf. „Das war doch der mexican Monday? Ich erinnere mich an die Quesadillas“, meinte der Lehrer ruhiger und lächelte sanft bei der Erinnerung an das sagenhaft gute Essen. „Sie haben Ihnen also geschmeckt?“, fragte Delia hoffnungsvoll. Doch der Lehrer ließ sie eiskalt abblitzen: „Setz dich“ und deutete auf einen der vielen, freien Plätze.

Während die Blauhaarige geknickt zu den Schülerplätzen ging, sah sie einmal zu dem Blonden, nur um dann wieder wegzusehen. Dann nahm sie einen Platz ein, in derselben Reihe wie er, nur mit zwei freien Plätzen dazwischen.

„Entschuldigt mich einen Moment. Macht keinen Ärger“, meinte er Lehrer dann, sah zwischen den beiden hin und her und verließ schließlich den Raum.

Hätte Delia gewusst, dass dieser Softballtyp sie bei ihrem Eintreten gedanklich als unbeliebte Schnepfe bezeichnet hatte, hätte sie das wirklich verletzt. Wie war sie nur in diese Rolle geraten? Noch auf der Middle School hatte Delia diese Probleme nicht gehabt. Sie war zwar nicht bekannt oder super beliebt gewesen, aber sie war voll akzeptiert und hatte Freunde gehabt. Doch seit sie auf der Magic High School war, hatte sich alles verändert. Plötzlich drehte sich alles darum, dass ihr super schickes Blümchenfahrrad uncool war. Dass sie ein Freak war, weil ihr Haar so dunkelblau schimmerte und das zu ihren hellgrünen Augen total unpassend war. Dabei hatte sich Delia beide Farben nicht ausgesucht. Dann kam hinzu, dass sie in ihrer Freizeit Fachliteratur über Lebensmittelverarbeitung und das Kochen las. Es gab ein, zwei Personen, mit welchen sich Delia soweit gut verstand. Aber das war es auch schon, denn irgendwie war sie in die Rolle des unbeliebten Freaks geraten. Es war keine glückliche Schulzeit, aber die stets optimistische und positive junge Dame ließ sich nicht unterkriegen und zeigte sich trotz der Häme ihren Mitschülern gegenüber immer freundlich und zugewandt. Allerdings hatte sie mittlerweile Hemmungen, von sich aus auf diese zuzugehen. Und weil sich Delia manchmal so unsichtbar und ungesehen fühlte und das Essen in der Caféteria schrecklich fand, kam sie auf eine ihrer vielen - zugegeben - verrückten Ideen. Und nun saß sie hier.

Der Aufsicht habende Lehrer musste den Raum für einen Moment verlassen. Während Delia die Warnung des Mannes stillschweigend angenommen hatte, gab der Blonde einen saloppen Kommentar der Zustimmung ab und schwang seine Beine auf den Tisch, kaum war der Lehrer aus der Tür. Innerlich erschrak Delia beinahe über dieses respektlose Verhalten, doch sie ließ sich nach außen hin nichts anmerken. Minimal drehte sie ihr Gesicht in seine Richtung, erhaschte einen Blick auf seine Füße, welche auf dem Tisch lagen und blickte sogleich wieder nach vorne. Die Hände voll Unbehagen in den Schoß gelegt suchte Delia nach der Wanduhr, welche in jedem Klassenzimmer hing. Noch so lange.. Im Augenwinkel bemerkte sie, dass dieser Softballheini sie anstarrte. Aber Delia erwartete nichts Nettes von ihm und machte daher keinerlei Anstalten, den Blick zu erwidern. Sie bemerkte im nächsten Moment nur noch, wie er etwas auf einen Zettel kritzelte, welchen er dann klein zusammenfaltete.

Zack!

Delia zuckte zusammen, als sie etwas am Kopf getroffen hatte. Entgeistert fasste sie sich an jene Stelle und stellte aber erleichtert fest, dass dort nichts war. Spuckekugeln waren nämlich richtig eklig! Dann sah sie aber tatsächlich zu ihm und blickte ihm direkt in die Augen. Goldfarbene Iriden? Wow, so etwas hatte sie noch nie gesehen! Er sah insgesamt enorm gut aus, aber charakterlich schien er sich von den meisten nicht zu unterscheiden. Verständnislosigkeit lag in ihrem Ausdruck. Aber nicht auf die schnippische, sondern auf eine traurige Art. Was sollte das? Sie kannten einander doch nicht einmal. Wortlos wandte sich Delia wieder ab, erinnerte sich dann aber, dass der Typ vorhin etwas auf den Zettel gekritzelt hatte. Und da platzte sogar ihr mal die Hutschnur. Eilig griff sie nach dem Papier, welches auf ihrem Tisch lag und kündigte in wenig überzeugendem Ärger an: „Ich warne dich, wenn da jetzt zu allem Überfluss auch noch was Fieses drinsteht..“ Dann.. dann.. dann würde sie.. Naja, da würde ihr schon noch etwas einfallen. Delia hatte sich ja nicht einmal getraut ihn anzusehen, während sie so schwach drohte. Dann faltete sie das Zettelchen auf und las den Inhalt. Ein zweites Mal. Ein drittes Mal.

Langsam und mit großen Augen blickte sie wieder zu dem Blonden. Dann verließ sie ihre verkrampfte Körperhaltung endlich und drehte sich auf ihrem Stuhl in seine Richtung, ihm eindeutig zugewandt. Ein aufgeregtes, aber nicht minder erfreutes Lächeln zierte nun ihr Gesicht. „Ehrlich? Denkst du das wirklich?“, fragte sie zur Sicherheit nach, denn noch konnte sie nicht sicher sein, dass er sie nicht veräppeln wollte. „Und was hast du gegessen? Auch die Quesadillas? Oder die Tacos? Oh!“, fiel es ihr aufgeregt ein. „Nein, du siehst aus wie jemand, der gerne Enchiladas isst! Hab ich recht?“, fragte sie ihn lachend und war gespannt, ob sie richtig lag.