Ortsname: Nanto Art: Ortschaft Spezielles: Bekannt für den besten Tee Fiores und ein beliebter Luftkurort. Beschreibung: Bei Nanto handelt es sich um ein kleines, idyllisches Dörfchen, welches an einem Berghang im südlichsten Zipfel der Zentral-Region Fiores liegt. Bekannt ist das Dörfchen vor allem für den riesigen Wasserfall, der sich aus den Bergen in das Tal stürzt und den Fluss, der das Dörfchen in zwei Gebiete unterteilt. Aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit ist das Örtchen ein beliebter Luftkurort, an welchem man sich erholen und einfach die Seele baumeln lassen kann. Generell gibt es in dieser Gegend einen hohen Niederschlag, was der Grund dafür ist, dass Nanto vor allem für den Teeanbau bekannt ist. Durch die zentrale Lage, wird der berühmte Tee von hieraus nach ganz Fiore versandt. Außerdem gibt es hier viele tolle Teehäuser, die einen Besuch wert sind.
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"Sprechen" ~ *Denken* ~ *Wukong*
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Lian Thief in Distress
Anmeldedatum : 03.10.20 Anzahl der Beiträge : 2005 Alter : 31
Natürlich feuerte Yuuki zurück – das war nicht verwunderlich, wenn man den bisherigen Gesprächsverlauf zwischen den beiden jungen Männern bedachte, der alles andere als deeskalierend gewesen war. Mit ein bisschen weniger Emotion und einem Hauch mehr Sachlichkeit hätte man die Problematik deutlich besser angehen können. So, wie die Dinge standen, war die Reaktion des Grynders mehr als nachvollziehbar und doch war es genau dieser Umstand, der dafür sorgte, dass sich Lians Gesichtsmuskulatur sichtlich verspannte. Er war einfach nur wütend. Er macht es schon wieder, schoss es dem Falls entnervt durch den Kopf, kaum dass er die ersten Worte des Gegenübers vernommen hatte. Setzte Yuuki sich mit den Vorwürfen auseinander? Dachte er über sie nach? Nein, das tat er nicht. Es wurde sogar noch viel schlimmer, als er versuchte, den Spieß umzudrehen und zum Gegenangriff ausholte. Lian würde sie Welt um sich herum also erkennen? Der Braunhaarige wollte nicht als ein Dieb abgestempelt werden? Es waren Dinge, die er so niemals geäußert hatte und einzig das Ziel verfolgten, die Aufmerksamkeit umzulenken, weshalb der Lockenkopf sich auch davor hütete, auf diesen wenig fundierten Gegenangriff des Grynders einzugehen. Es war eine Tatsache, dass Lian ein Dieb war und ein Umstand, der sich seiner Meinung nach auch niemals ändern würde – er war mehr ein Dieb als ein Magier. Aber sein Diebesdasein war nur der Bruchteil einer Gesamtheit an Umständen und er hatte den Diplomaten dazu auffordern wollen, endlich die Augen zu öffnen, um mehr als nur das zu erkennen. Aber es klappte nicht, es wollte nicht funktionieren, der Grynder konnte die Scheuklappen nicht ablegen. So war es auch nicht mehr als ein abfälliges Schnauben, das der Bogenschütze für seinen Kollegen übrighatte, als dieser davon sprach, in den Spiegel schauen zu können, ohne sich schämen zu müssen – anders als der Falls. Ja, vermutlich hatte der rothaarige Magier mit dieser Vermutung sogar Recht, denn Lian mochte sein Spiegelbild nicht sonderlich gerne. In seinem Leben hatte es schon immer diverse Selbstzweifel gegeben – egal ob es mit seiner Familie, seiner Zeit auf den Straßen Aloes oder auch seinem Dasein als Magier zu tun hatte. Der Lockenkopf hatte es nie jemandem Recht machen können – weder sich selbst, noch den Menschen in seinem Umfeld – und daher irgendwann einfach damit aufgegeben. Aber war Yuuki deshalb ein besserer Mensch als er? Der einzige Grund, warum er im Gegensatz zum Illusionisten mit Stolz sein Spiegelbild betrachten konnte, war jener, dass er sich viel weniger mit sich selbst, mit seiner Umwelt und den Menschen in seinem Leben auseinandersetzte. Könnte er es immer noch, wenn er mehr über die Gilde Crimson Sphynx wüsste? Oder wenn er wüsste, dass Isabelle nie gestorben war, sondern sie in Gefahr schwebte und er ihr nicht half? Je mehr der 19-Jährige darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, was er Yuuki besonders vorwarf: Er gab sich nicht einmal Mühe, die Dinge zu hinterfragen. Er nahm Isabelles Tod einfach hin, anstatt sich damit auseinanderzusetzen. Lian biss sich geschwind auf die Zunge, bevor er in seinem Zorn Dinge sagte, die er später bereuen würde. Er musste vorsichtig bleiben, wenn er das Versprechen an Isabelle nicht brechen wollte. Vielleicht wechselte der Falls unterbewusst deshalb das Thema zu seiner Verwandtschaft mit Aram – Isabelle zuliebe. Nachdem er mit einer Frage geschlossen hatte, die natürlich genauso einen vorwurfsvollen Unterton gehabt hatte wie der Rest seiner Ansprache, hatte Lian durchaus damit gerechnet, irgendeine Antwort zu erhalten. War es nicht das gewesen, was Yuuki hatte erfahren wollen? Zuerst war es nur Irritation, die man aus dem Gesicht des anderen Magiers ablesen konnte. Die Verwirrung wandelte sich in Schock, dann in Entsetzen und sprachlos starrte er den Bogenschützen an. Das ist es also, was dein Weltbild zerstört? Das?, fragte der Falls seinen Kollegen in Gedanken und musste sich zusammenreißen, um nicht den Kopf zu schütteln. Wie der Grynder wohl erst reagieren würde, wenn er wüsste, dass Isabelle noch lebte? Dass ihr Tod seit jeher nur vorgetäuscht gewesen war? Es war nicht an Lian, seinen Kollegen hier eines Besseren zu belehren. Anstatt eine Antwort zu geben, stand Yuuki wortlos auf und trat auf den Ausgang des Zuges zu. Lian folgte nicht sofort, sondern wandte sein Gesicht herum und betrachtete die am Fenster vorbeisausenden Bäume und Sträucher, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Erst dann stieß er angestrengt die Luft aus, die er zwischenzeitlich angehalten hatte. „Lieber fliehen, das kannst du ganz hervorragend. Wie passend“, brummte er leise. Das Herz des 19-Jährigen hämmerte und die Schläfe pochte. Er hatte sich viel zu sehr von Yuuki aus der Reserve locken lassen. Einerseits fragte er sich, ob es richtig gewesen war, dem Druck nachzugeben und seine Verwandtschaft mit Aram offenzulegen. Andererseits war es ganz egal, ob richtig oder nicht, denn es war zu spät, um die Zeit zurückzudrehen. Der Braunhaarige seufzte leise, packte seine Tasche und stand vom Platz auf. Erst dann fiel ihm auf, dass die restlichen Fahrgäste in dem Abteil ihn irritiert anstarrten. Hatten sie die Diskussion zwischen ihm und Yuuki ernsthaft belauscht? Hatten die kein eigenes Leben? „Was gibt’s da zu glotzen?“, blaffte der 19-Jährige die Fahrgäste rabiat an, was sogleich zur Folge hatte, dass sich sämtliche Blicke geschwind von ihm abwandten. Natürlich, offensichtlich hatte absolut keiner in diesem erste Klasse Abteil die Eier, um sich der Auseinandersetzung bis zum Ende zu stellen. Genau das war es, was Lian von diesen ganzen verwöhnten Schnöseln erwartet hatte. Er schulterte seine Tasche aufs Neue und wandte sich endgültig ab.
Der Weg, den Lian und Yuuki bis Nanto zurücklegten, war alles andere als angenehm. Da das Dörfchen im Süden Zentral-Fiores nicht direkt an das Bahnnetz Fiores angebunden war, hatten die beiden Magier einem Pfad folgen müssen, der sie vorbei an Wiesen, Wäldern und so manchem Fluss geführt hatte. So schön die Natur, die die beiden Männer bei sonnigem Wetter und milden Temperaturen durchquerten, auch war – der Falls hatte absolut keinen Blick dafür übrig. Unzufrieden trottete er hinter dem Diplomaten her, versuchte zwar meistens, irgendwo anders hinzusehen, blieb am Ende aber doch immer wieder am Rücken des Kollegen kleben. Woran genau es lag, konnte Lian nicht sagen, aber er versuchte wirklich für einen Moment, sich in Yuuki hineinzuversetzen. Er erinnerte sich an das, was Isabelle über ihn erzählt hatte – der Verlust seiner Familie und auch von ihr. Ja, er konnte sich vorstellen, dass dieser Typ einsam war. Aber… es reichte einfach nicht. Es reichte nicht aus, damit der Falls ihm verzeihen konnte, ein aufgeblasener Fatzke zu sein, der auf ihn herabsah, als wäre er nicht mehr Wert als der Dreck unter seinen Fingernägeln. Trotz aller Unterschiede, die sie hatten, war immerhin das eine Gemeinsamkeit, die Yuuki und Lian sich teilten: Sie waren gleichermaßen unfähig, sich Fehler im Umgang mit dem jeweils anderen einzugestehen. Der Braunhaarige schloss die Augen und wandte den Blick ab. Als sich seine Lider wieder anhoben, stutzte er. Moment – waren die Bäume in der Umgebung geschrumpft? Und… was machten die ganzen Menschen inmitten dieses Mini-Waldes? Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Erkenntnis in den hellgrünen Augen aufblitzte: Teeplantagen? Ja, tatsächlich. So tief, wie er in Gedanken versunken gewesen war, hatte der Falls die Veränderung der Umgebung gar nicht richtig wahrgenommen, aber jetzt war es umso deutlicher. Große, weite Hänge erstreckten sich rechts und links der Magier und schienen die einzelnen Menschen, die inmitten des satten Grüns unterwegs waren, förmlich zu verschlucken. Das nächste, was Lian bemerkte, war die gestiegene Luftfeuchtigkeit – nicht zuletzt daran, dass sein ohnehin wildes Haar sich nochmal mehr kräuselte. Irritiert zog der Braunhaarige an einer seiner Haarsträhnen und blinzelte, als ein Geräusch an sein Ohr drang, das er so noch nie gehört hatte. Ein Rauschen… der 19-Jährige sah nach vorne und sein Mund öffnete sich einen Spalt breit. Nicht das kleine Dörfchen, das sich vor ihnen erstreckte, war der Grund für das Erstaunen von Lian. Es war vielmehr der malerische Anblick, der sich ihm bot: Die Häuser im Vordergrund, die sattgrünen Plantagen in der Umgebung und im Hintergrund eine steile Bergwand, von der ein gigantischer Wasserstrom in die Tiefe stürzte. Noch waren er und Yuuki nicht ansatzweise in die Nähe dieses Naturphänomens gekommen und doch konnte man die Feuchtigkeit in der Luft spüren und hörte das Rauschen des Wassers. Wie musste es sich erst anfühlen, wenn sie diesem Wasserfall noch näherkamen? Vielleicht hätte Lian diesen Anblick dafür genutzt, um Smalltalk zu halten… doch ehe er die Stimme erhoben hatte, erinnerte er sich daran, mit wem er gerade unterwegs war. Und so schloss der Illusionist die Lippen wieder, steckte die Hände in die Hosentaschen und legte den Kopf gefrustet zur Seite. Kaum dass sie die Schwelle zum Dorf übertreten hatten, blieb der Falls stehen. Ob Yuuki das überhaupt auffiel? „Was…“ Links des Dorfeingangs standen unzählige Kerzen, Blumenkränze und Karten, die man kaum übersehen konnte. Und dazu stand dort ein... Foto? Ohne darauf zu achten, ob sein Kollege ihm folgte oder nicht, schritt der Falls auf das Foto zu, ging davor in die Hocke und nahm den Bilderrahmen in die Hand. Es war eine junge Frau, die ihn breit anlächelte und ihn im ersten Moment an Isabelle erinnerte. Die Kränze und Karten, auf denen Sprüche wie „Wir werden dich nicht vergessen“ standen, gaben Lian alle Informationen, die er benötigte. “Ihr kommt nicht von hier, oder?“, fragte eine fremde, dunkle Stimme in Lians Rücken. Der Braunhaarige stellte das Foto zurück, richtete sich auf und drehte sich auf dem Absatz herum. Vor ihm stand ein älterer Herr mit grauem Haar und ebenso ergrautem Bart. Noch mehr als die Falten in seinem Gesicht war es die Stimme des Fremden, die von einer gewissen Lebenserfahrung zeugte. Lian überlegte, ob er antworten sollte… aber hatten sie nicht die Abmachung getroffen, dass er sich im Hintergrund hielt? Er wollte dem großartigen Diplomaten ja nicht die Show stehlen. Und so schwieg der Falls, der doch sonst so unglaublich stolz auf seine Redegewandtheit war. Wer da wohl vor ihnen stand?
#10 Wie konnte es eigentlich sein, dass zwischen den beiden Crimson Sphynx Magiern keine richtige und gesittete Konversation entstehen wollte? Immerhin handelte es sich bei Lian um jemanden, der sich stets eloquent auszudrücken wusste und bei Yuuki um eine für gewöhnlich besonnene und ruhige Persönlichkeit. Wieso also reagierte der Rotschopf stets derart abweisend und verhalten auf den anderen? Für gewöhnlich hätte man doch mehr Dankbarkeit darüber zeigen sollen, wenn einem aufgezeigt wurde, dass die eigentlich heile Welt in den eigenen Augen letzten Endes doch nicht so heile war, wie es den Anschein hatte? Hätte er also nicht an dieser Stelle lieber innehalten und darüber reflektieren sollen, ob jeder in Crimson Sphynx wirklich denselben Anspruch und die Werte an den Tag legte, wie er selbst? Oder ob die Worte des anderen nicht doch wahr waren und sich viele gar nicht wirklich um den Ruf der Gilde kümmerten und tatsächlich auch dann und wann unfeine Absichten gegenüber ihren Mitmenschen hegten? Nun, aus irgendeinem Grund war der Grynder nicht in der Lage, in dieser Situation darüber zu reflektieren – wobei gesagt sein musste, dass dies nicht bedeutete, dass er überhaupt nicht in der Lage zur Reflektion war, ganz im Gegenteil. Es spielten mehrere Faktoren zusammen, die dafür sorgten, dass es seitens des eigentlich entspannten Diplomaten stets zur Eskalation kam. Auf der einen Seite wäre da die spezielle Rolle, welche die Gilde Crimson Sphynx in seinem Leben spielte. Da er seit frühester Kindheit Teil der Gilde war und seinem Bruder nacheiferte, nahm sie einen besonderen Stellenwert in seinem Herzen ein. Es war praktisch seine Ersatzfamilie und es hatte sich ja schon gezeigt, wie der Rotschopf auf Angriffe auf seine Familie und Liebsten reagierte: Nicht sonderlich diplomatisch. Diese Nähe und Verbundenheit mit der Wüstengilde führten jedoch zu einem recht beschränkten Bild, welches er von ihr hatte: Jeder musste jeden Tag sein oder ihr Bestes geben, um den Ruf der Gilde aufzubauen und das Vertrauen der Bewohner Fiores für sich zu gewinnen. Und nun ein weiterer Faktor dazu: Lian. In seinen Augen war der Kerl ein unverbesserlicher Dieb, der ihn um seinen wertvollsten Besitz gebracht hatte. Damit hatte er den Rotschopf ordentlich vor den Kopf gestoßen. Schlimmer noch, er war tatsächlich ebenfalls ein Magier der Gilde und drohte mit seinen unachtsamen Aktionen und Diebstählen ihren Ruf zu beschmutzen. Ergo war ihm der andere ein dauerhafter Dorn im Auge. Wenn der dunkelhäutige Magier also das Gefühl von Yuuki erhielt, dass er weniger Wert wäre als der Dreck unter seinen Fingernägeln, dann hatte er damit absolut ins Schwarze getroffen. Denn aufgrund ihrer bisherigen Historie und den Umständen, sah er den Dieb nicht als gleichwertig und auf gleicher Augenhöhe an. Jegliche Aussagen oder Kritik über Crimson Sphynx konnte und wollte er nicht akzeptieren, denn in dem Weltbild des jungen Mannes war alles in Ordnung – mit Ausnahme des Diebes, der es sich aus irgendeinem Grund in seiner Gilde gemütlich gemacht hatte. Nun wäre es eine andere Sache gewesen, wenn eine rechtschaffene Person wie zum Beispiel der Diplomat von Fairy Tail Akay Minoru oder gar seine enge Freundin Linnéa Metherlance von den Rune Knights ihn auf Missstände in der Wüstengilde angesprochen hätten. Auch hier hätte der Grynder vermutlich zunächst defensiv reagiert und hätte seine Gilde in Schutz genommen. Allerdings hätte es dazu geführt, dass er den Anschuldigungen auf den Grund gegangen, um ihnen entweder die Unschuld seiner Gilde beweisen zu können oder aber auch, um das Problem an dem Wurzeln anzupacken und rauszureißen. Immerhin waren sie seine Freunde und wollten ihm nichts Böses. Und hier lag eben der kritische Unterschied zu Lian, der nicht außenstehend war und das heile Weltbild von Crimson Sphynx allein mit seiner Anwesenheit und Zugehörigkeit störte. Mehr noch, er hatte den Magnetismusmagier bestohlen, also blockte der junge Mann reflexartig jegliche Anschuldigungen des anderen ab, anstatt darüber zu reflektieren.
Das war zumindest der Stand der Dinge gewesen, bis der Falls ihm mitgeteilt hatte, was ihn zu Crimson Sphynx geführt hatte und wer er war: Der Neffe des Gildenmeisters. In diesem Moment war die Welt des Grynders erschüttert worden und für einen klitzekleinen Augenblick waren ihm die Risse in seinem heil wirkenden Weltbild aufgefallen. Vielleicht war das der erste Schritt in die richtige Richtung, um ein zivilisiertes Gespräch auf Augenhöhe führen zu können. Man würde noch sehen, was ihr Aufenthalt in Nanto so mit sich brachte. Fürs Erste war aber davon nichts zu sehen und die beiden schweigenden Männer waren vielmehr damit beschäftigt, einen Schritt nach dem anderen vor sich zu setzen, als sich miteinander zu unterhalten. Sicherlich war der Falls entnervt nach dieser Unterhaltung und auch Yuuki hatte mehr als genug zu schlucken und zu verdauen. Es war ein Jammer, dass der junge Mann keinen Blick für die wunderschöne Umgebung übrig hatte, durch die sie wanderten. Solch ein Anblick wäre bestimmt Balsam für die Seele gewesen: Grün, soweit das Auge reichte. Ab und zu mal das Plätschern eines kleinen Flusses und hier und da stoben Vögel aus den Büschen in die Luft, als sich die beiden Menschen näherten. Dafür ging einfach viel zu viel in seinem Kopf vor. Der Diplomat versuchte einfach, aus dem ihm verfügbaren Informationen schlau zu werden. Lian hieß also in Wahrheit Lian Falls und war der Neffe des Gildenmeisters. Aram Falls war also sein Onkel und hatte ihn auf Wunsch seiner Mutter in die Gilde aufgenommen. Doch wieso, weshalb, warum, das erschloss sich dem Rotschopf in diesem Moment noch nicht. Warum zum Teufel würde ihr Gildenmeister einen Dieb in die Gilde mitaufnehmen? Die Gedanken des Grynder schweiften zum Treffen mit Juno und Lian ab. Hatte der Dieb da nicht behauptet, dass ihr Gildenmeister von seinem Treiben wusste? War das einfach nur ein Bluff und eine Lüge gewesen? Oder hatte der dunkelhäutige Magier doch die Wahrheit gesprochen. *Argh, das ergibt doch alles einfach keinen Sinn!* Irgendwie war ihm die Fähigkeit rationalen Denkens abhandengekommen. *Also eines nach dem anderen.* Vielleicht war das Treiben des jungen Mannes ja genau der Grund, warum ihn der Gildenmeister seiner Schwester abgenommen und in die Gilde aufgenommen hatte. Im Versuch, ihn zu läutern und auf einen besseren Weg zu bringen? Ihm einen Sinn im Leben zu geben. So oder so ähnlich konnte er sich das vorstellen. Wenn dem aber so war, dann hatte er bisher gehörig versagt, denn Lian trieb nach wie vor Unsinn. War es dem Gildenmeister also egal, wenn er davon wusste? Nur weil der Dieb zu seiner Familie gehört? Eine kalte Faust schloss sich um sein Herz und er spürte, wie ihn der Zorn überkam. Wie konnte Aram Falls ihnen nur so etwas antun? Nach allem, was sie jeden Tag vollbrachten. Nach allem, was er jeden Tag tat. Nach den diplomatischen Treffen und den Versprechungen, Recht und Ordnung aufrecht zu halten und dass die Wüstengilde ihre dunkle Diebesvergangenheit hinter sich gelassen hatte. Da nahm er einfach einen Dieb auf und ließ ihn gewähren, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass er sich irgendwann besserte. *Das kann doch nicht wahr sein.* Das durfte nicht wahr sein. Denn das bedeutete, dass er in einer Lüge lebte und dass nicht alles so war, wie er glaubte. Wenn das wahr war, dann …
Es war die gestiegene Luftfeuchtigkeit und das entfernte Rauschen von Wasser, welches den rothaarigen jungen Mann aus den Gedanken riss. Mit großen Augen stellte er fest, dass sie den einsamen Waldweg längst hinter sich gelassen hatten und sie sich nun inmitten von Teefeldern befanden. Rings um sie herum arbeiteten schwitzende Menschen und kultivierten die Teepflanzen. Und dort in der Ferne, nicht mehr weit entfernt, am Fuß des Berges, konnte man einen gewaltigen Wasserfall sehen, um den sich herum Häuser befanden: Sie waren in Nanto angekommen! Mit jedem Schritt vergrößerte sich das Staunen auf seinem Gesicht und für einen kurzen Augenblick war er von seinen eigenen Sorgen abgelenkt. Das war ja der Wahnsinn! Überwältigt, schwenkte der Rotschopf den Kopf, um die Szenerie in ihrer Gänze einzusaugen, als er den Falls entdeckte und seine Laune sogleich wieder sank. Ach ja, da war ja was … Da er sein Auge auf seinen Gildenkollegen geworfen hatte, entging ihm nicht, dass sich dieser entfernte und zum Straßenrand begab. Hier brannten Unmengen an Kerzen und Kränze waren abgelegt worden, alles um ein Bild herum, welches der Dieb nun in die Hände nahm. Auch der Zwanzigjährige erhaschte einen Blick auf das Bild und erkannte eine lächelnde, junge Frau. Bei diesem Anblick begann das Blut in seinem Kopf zu rauschen und drohte, alles um sich herum auszublenden. Genau wie Lian, wurde nämlich auch der Grynder an Iris erinnert und diese Erinnerung brachte Schmerz mit sich, großen Schmerz. War er nicht mit diesem Anblick begrüßt worden, als er all die Jahre her glücklichen Herzens mit dem Geburtstagsgeschenk für Iris nichtsahnend heimgekehrt war? Und statt dem strahlenden Lächeln des Mädchens hatten ihn auch Kerzen und Kränze vor dem abgebrannten Laden erwartet. Unbewusst stellte er fest, dass ihm sein Herzschlag bis zum Hals ging und er angefangen hatte, schnell und stoßartig zu atmen. Hoffentlich hyperventilierte er jetzt nicht, bei der Erinnerung an … *Nein, nicht dran denken!*, ermahnte sich der Grynder und versuchte seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Glücklicherweise nahte Ablenkung, als er eine tiefe Stimme zu seiner linken vernahm: Ein ergrauter Mann blickte die beiden Magier misstrauisch an. Obwohl Yuuki noch einen Kloß im Hals hatte, schluckte er und begab sich nach vorne, um sich vorzustellen. „Mein Name ist Yuuki Grynder und das hier ist Lian … und wir sind aus Crimson Sphynx.“ Nein, er konnte den Nachnamen des anderen nicht aussprechen. Das fühlte sich einfach falsch an. Und er wollte ihn nicht auch noch der ganzen Welt bekannt machen, denn das würde vielleicht wirklich Konsequenzen nach sich ziehen, falls er doch der Elster in sich nachgab. „Wir sind im Auftrag von Aram Falls hier. Könnten Sie uns bitte mitteilen, wo wir den Bürgermeister der Stadt finden?“ Der ältere Herr schaute die beiden Magier nochmal eingehend an, ehe er gemächlich nickte. „Sein Haus befindet sich am Ende der Straße, gleich da hinten. Ich kann euch hinbringen.“ Bei diesen Worten führte er eine Handbewegung aus und signalisierte den beiden Magiern damit, ihnen zu folgen. Sogleich lief ihm der Rotschopf hinterher und ließ seine Seelenspiegel durch die Gegend wandern. Kleine, gemütliche Häuser und im Hintergrund der riesige Wasserfall. Wenn sie nicht aufgrund eines solch ernsten Grundes hier wären, hätte er sich einen Kurzurlaub durchaus vorstellen können. Eine schöne Tasse Tee am Abend im traditionellen Yukata, dazu noch einige Spezialitäten aus der Region, was gab es Tolleres? Aber wie gesagt, dafür waren sie nicht hier. Falsche Begleitung und falsche Umstände, mochte man sagen. Während sie durch das Städtchen schritten, entdeckte Yuuki noch einen weiteren Ort mit Kerzen und Kränzen am Straßenrand. Aus der Entfernung konnte er auch das Bild eines lächelnden jungen Mannes mit schwarzen Haaren erkennen. Das Herz von Yuuki wurde wieder schwerer. Das waren offensichtlich die Opfer der Mordserie, die Nanto heimsuchten!
An einem recht großen Haus angekommen, drehte sich ihr Führer schließlich zu ihnen um. „Hier sind wir.“ Und mit diesen Worten holte er einen Schlüssel aus seiner Tasche, steckte ihn ins Schloss und öffnete den beiden Magiern die Tür, um sie einzulassen. „Mein Name ist Hugo Brown, Bürgermeister von Nanto. Kommt herein, dann können wir in aller Ruhe sprechen.“ Ein leckerer Duft dran nach außen und als der Rotschopf das Haus betrat, erkannte er auch den Grund dafür: In der Küche befand sich eine Frau mit grauen Haaren über einem Kochtopf und rührte kräftigt. „Meine Frau Dorte.“, stellte der Bürgermeister seine bessere Hälfte vor, woraufhin sich diese umdrehte und die Magier warm anblickte. „Gäste? Das Mittagessen ist gleich fertig, bleibt Ihr zum Essen?“ Nun, eigentlich waren sie ja geschäftlich hier, aber jetzt wo sie es ansprach, verspürte der Grynder durchaus Hunger? Vielleicht konnte man ja das eine mit dem anderen verbinden und dabei in Erfahrung bringen, was hier vor sich ging?
Plötzlich setzte Lians Herz einen Schlag lang aus. Was… was war denn jetzt los? Unerwartet fiel ihm das Atmen schwerer, sein Brustkorb zog sich schmerzlich zusammen und ein Gefühl des Erstickens machte sich in ihm breit. Und… ein Schwindel, der ihn drohte, direkt von den Füßen zu holen. Die rechte Hand wanderte irritiert an die Stirn des Falls, er kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an. Das Herz, das eben noch ausgesetzt hatte, raste mit einem Mal wie wild – aber warum war das so? Es war doch überhaupt nichts… und dann fiel der Groschen. Langsam hoben sich die Lider des 19-Jährigen an und er schielte zu Yuuki, der wie gebannt auf das eingerahmte Foto der verstorbenen Frau blickte. Na klar, die Ähnlichkeit zu Isabelle hatte das alles hier ausgelöst. Es ging überhaupt nicht darum, was mit ihm los war, sondern vielmehr, was in dem Grynder vor sich ging. Der Illusionist hatte es einfach nicht unter Kontrolle, er sog die Gefühle und Emotionen des anderen Magiers auf wie ein Schwamm und daher entging ihm auch der kurze Panikanfall nicht, der sich in dem Diplomaten aufbaute. Nein, es ging noch weiter: Es entging ihm nicht nur, Lian musste den Panikanfall ebenso miterleben, mit allen körperlichen Reaktionen, die damit einhergingen. Verdammter Mist, knurrte er gedanklich. Am liebsten hätte er dem Rothaarigen gesagt, dass er sich zusammenreißen sollte, dass Isabelle noch lebte und er ihnen beiden daher vollkommen umsonst solche Probleme verursachte. Aber… das konnte er nicht, denn das Versprechen an die blonde Frau versiegelte seine Zunge. Außerdem hätte Lian sich gegenüber Yuuki offenbaren müssen, wäre gezwungen gewesen, ihm mitzuteilen, dass er seine Gefühle spüren konnte. Und auch daran hatte er kein Interesse. So wie seine Lust, sich mit dem Gildenkollegen zu unterhalten, allgemein gen null ging. Der Falls löste die zitternde Hand von seiner Stirn, holte bewusst tief Luft…
Und wurde zum Glück erlöst, als Yuuki sich dem nähergetretenen Mann widmete.
Da das Zittern nicht sofort verschwand, huschten die Hände von Lian geschwind in die Taschen seines Kapuzenpullovers, darum bemüht, sich nichts von seinem Unbehagen anmerken zu lassen. Sein Herz beruhigte sich, das Atmen fiel ihm leichter. Zum Glück… Hoffentlich war das das einzige Bild von dieser Frau, dachte der junge Mann und musterte den Grynder beiläufig mit einem Seitenblick. Wer konnte schon garantieren, dass Yuuki nicht sofort in die nächste Panikattacke rutschte, sobald er noch ein Bild von dieser blonden Frau sah? Müsste Lian das dann nochmal mit durchmachen? Die Vorstellung, wie sie beide plötzlich nebeneinander in Ohnmacht fielen, war nicht sonderlich reizvoll. Und wie genau der Falls im Anschluss erklären wollte, wie es dazu hatte kommen können, wusste er auch nicht. Er schüttelte den Kopf und merkte erst mit Verzögerung, dass sowohl der alte Mann als auch der Diplomat sich bereits auf den Weg gemacht hatten. Lian stolperte hinterher, bevor er den Anschluss endgültig verlor. Eine Schande, dass der Schütze für das idyllische Dörfchen, durch das sie schritten, nicht besonders viel Aufmerksamkeit übrighatte. Immer wieder huschte der Blick der hellgrünen Seelenspiegel prüfend und skeptisch zum Grynder, natürlich nur so, dass dieser es – hoffentlich – nicht mitbekam. Es fühlte sich so an, als wäre Yuuki eine tickende Zeitbombe für sie beide. Der Falls ärgerte sich, seine Magie immer noch nicht richtig unter Kontrolle zu haben. Wenn es anders wäre, müsste er sich jetzt keine Sorgen darüber machen, ob es dem Grynder gutging. Scheiße, es sollte ihm eigentlich ganz egal sein, wie dieser hochnäsige Fatzke sich fühlte!
Schließlich kamen sie an einem Haus an, das im Verhältnis zu den umliegenden Gebäuden deutlich durch seine Größe und auch das auffallend gepflegte Äußere hervorstach. Nicht nur stellte sich heraus, dass der Bürgermeister von Nanto hier wohnte, sondern auch, dass der ältere Herr, der sie hergebracht hatte, genau jener Bürgermeister war. Hugo Brown? Irgendwie hatte Lian einen spektakuläreren Namen erwartet, aber der Falls war wohl der Letzte, der sich wegen unspektakulären Namen hätte beschweren dürfen. Drinnen wurden die Magier sogleich von einem angenehm würzigen Geruch willkommen geheißen, bei dem sich auf den zweiten Blick herausstellte, dass es sich um das fast fertig bereitete Mittagessen handelte, das von der Frau des Bürgermeisters zubereitet wurde. Leider verspürte der Illusionist nicht nur Hunger, sondern sein Magen knurrte auch lautstark, kaum dass er den Topf in der Küche erblickt hatte. Er sah auf, direkt zu der vielsagend lächelnden Dame und kam nicht umhin, das Lächeln zu erwidern. Wie war ihr Name gewesen? Dorte? Ehe Lian etwas sagen konnte, spürte er, wie sich eine Hand von hinten auf seine Schulter legte. Hugo Brown war zu ihm getreten und sah in die Küche zu seiner Frau. “Ganz offensichtlich haben die beiden Hunger, ich denke, das ist Antwort genug“, übernahm er die Antwort und als sich ihre Blicke trafen, musste Lian doch grinsen. Man hätte das Verhalten von Hugo Brown als übergriffig bezeichnen können, aber ehrlich gesagt war es dem Falls gerade enorm sympathisch.
Und so fanden sich die Spyhnx-Magier, der Bürgermeister und auch seine Frau einige Zeit später an einem großen Esstisch wieder. Vor jedem von ihnen stand ein Teller mit frischem Erbseneintopf, der nicht nur herrlich duftete, sondern auch mindestens genauso gut schmeckte, wie sich bereits nach dem ersten Löffel herausstellte. Lian musste sich zusammenreißen, um nicht zu schlingen, denn er fühlte sich mit einem Schlag nochmal hungriger. “Mein Junge, bist du immer so schüchtern?“ Huch? Der Falls blickte auf, direkt zum Bürgermeister, der ihn fast schon besorgt ansah. Hatte er ihn gerade wirklich… schüchtern genannt? Schüchtern war wohl die letzte Beschreibung, die auf den Braunhaarigen zutraf und doch konnte er sich vorstellen, warum er einen solchen Eindruck bei den Einheimischen hinterließ – immerhin hatte er bisher absolut kein einziges Wort gesagt. Doch der Grund dafür war keinesfalls Schüchternheit, sondern saß genau auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches und hatte feuerrote Haare. Der Blick von Lian war nur so kurz zu Yuuki gegangen, dass es die Gastgeber wohl kaum hatten mitbekommen können, der andere Magier aber durchaus. Der Schütze räusperte sich, um seine Stimme überhaupt erstmal wiederzufinden. „Hm. Es ist sehr lecker“, äußerte er schließlich recht leise und wandte sich an Dorte. Die klatschte erfreut in die Hände und die Falten in ihren Mundwinkeln wurden deutlich. Sie war offensichtlich eine Frau, die gerne lächelte. “Oh, er hat doch eine Stimme! Und das freut mich. Wenn ihr Nachschlag haben wollt, müsst ihr nur etwas sagen!“ Lian stellte mit einer gewissen Irritation fest, dass diese Dame etwas von einer Oma hatte, die er nie gehabt hatte. Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in ihm breit, dass er allerdings schleunigst beiseiteschob. Ehe er sich näher damit auseinandersetzen konnte, hörte er Schritte, die sich von hinten näherten. Als der Falls sich umwandte, erkannte er eine Frau mittleren Alters mit langen, braunen Haaren, die zu einem Zopf geflochten über ihrer Schulter nach vorne hingen. Lian erkannte sofort die Ähnlichkeit, die diese Fremde zu Dorte hatte… eben nur einige Jahre jünger. Eine Tochter? Es war der Bürgermeister, der sich an den Neuankömmling wandte. “Oh, Edith, mein Liebes. Du bist schon zurück? Hol dir doch gerne auch einen Teller und setz dich zu uns. Das hier sind die Magier, die beauftragt wurden, um die schreckliche Mordserie in unserem Dorf endlich aufzuklären und zu beenden.“ Interessanterweise sagte Edith nichts, sondern musterte sowohl Yuuki als auch Lian mit einem kurzen aber intensiven Blick, bevor sie kurz in Richtung ihres Vaters nickte und sich umdrehte, um in die Küche zu entschwinden. Hugo Brown sah ihr nur kurz hinterher, bevor er sich an die Crimson Sphynx Magier wandte: “Aber wo wir jetzt schon beim Thema sind…“ Sie kamen also endlich zu dem wirklichen Grund ihres Herkommens? Der Falls nutzte die Zeit, die ihm noch blieb, um weitere Löffel Erbseneintopf in sich zu schaufeln. Irgendwie vermutete er, dass ihm gleich der Appetit vergehen könnte und dann wäre es doch sehr schade um das Essen, oder?
#11 Selbstredend bekam Yuuki keinen von Lian’s Blicken mit, da er weder über sagenhafte Augen verfügte, die ihn mit einem 360 Grad Blick segneten, noch er wirklich einen Kopf für seinen Gildenkollegen hatte. Zu aufgewühlt war er noch aufgrund des Bildes und den Erinnerungen, die bei diesem Anblick hochgekommen waren. Erinnerungen aus einer längst vergessenen Zeit, als der unschuldige Jugendliche von damals eine erneute Lektion des Lebens erhalten hatte. Damals wie heute hatte es ganz den Anschein, dass ihm kein Glück dieser Welt vergönnt war – seine Eltern verschwunden, sein Bruder war ihnen gefolgt und nicht mehr zurückgekommen, die einzig andere Bezugsperson in seinem Leben bei lebendigem Leibe verbrannt. Ja, das Leben hatte es bisher nicht einfach mit dem Rotschopf gemeint. Und doch war es verwunderlich, dass der junge Mann selbst nach all diesen Rückschlägen das Ziel vor Augen nicht verloren hatte. Er glaubte ganz fest daran, dass seine Familie da draußen war und auf ihn wartete. Zumindest klammerte er sich an diesen Gedanken, der ihn Tag für Tag antrieb. Er hatte es sich geschworen, sobald er stark genug war, so stark wie Ryo, dann würde er die Reise antreten und sich auf die Suche nach seiner Familie begeben. Und er hatte es beinahe geschafft! Sobald er zum S-Rang Magier ernannt würde – und er war sich sicher, dass es lediglich eine Frage der Zeit war – wäre das für ihn die ultimative Bestätigung, dass er sich nun auf Augenhöhe mit seinem älteren Bruder befand. Und das bedeutete wiederum, dass er erfahren und stark genug war, um die Fährte seiner verschwundenen Familie aufzunehmen. Eines stand fest: Wenn weder seine Eltern noch sein Bruder zurückgekehrt waren, dann würde es kein Zuckerschlecken und Spaziergang im Park werden. Aber genug zum Hintergrund des Grynders und den Beweggründen, die ihn begleiteten und vorantrieben. Hier und jetzt war kein Gedanke an seine Familie verloren, denn diese kreisten einzig und allein um Iris, seiner verstorbenen Jugendliebe. Der Anblick des Bildes hatte tatsächlich eine Wunde in seinem Herzen aufgerissen, denn zu ähnlich waren die Bilder und zu ähnlich die Umstände.
Insofern war Yuuki echt froh, dass sich mit dem Bürgermeister von Nanto eine willkommene Ablenkung ergeben hatte. Auf die Frage seiner Frau hin, ob die beiden Magier zum Essen blieben, folgte ein lautes Knurren von Lian’s Magen. Das hatte zur Folge, dass die Familie Brown wohl die Antwort erhalten hatte, die sie sich erhofft hatten, sodass sie sich alsbald alle zusammen am Essenstisch befanden und jeder einen Teller leckeren Erbseneintopfes vor sich hatte. „Vielen Dank für die Einladung.“, bedankte sich der Rotschopf höflich zwischen zwei Bissen und griff nach einer Scheibe Brot, die sich in einem kleinen Körbchen in der Mitte des Tisches befand. Hier fühlte man sich richtig wohl und auch der Crimson Sphynx Diplomat merkte, wie er sich langsam beruhigte und entspannte. Dennoch entging ihm nicht der kurze Blick des Falls, als ihn Dorte fragte, ob er immer so schüchtern sei. Daraufhin hätte der Zwanzigjährige vermutlich am liebsten aufgelacht, denn die Frau des Bürgermeisters hatte ja keine Ahnung, wie der braunhaarige Magier eigentlich wirklich drauf war. Und doch musste er feststellten, dass sich Lian zurückhielt und nicht aus der Reihe tanzte, so wie er es befürchtet hatte. Wäre die Situation nicht sowieso schon angespannt zwischen ihnen gewesen und jetzt sogar noch seltsamer – wer hätte das jemals gedacht?! – da er wusste, dass er der Neffe von Aram Falls war, hätte er seinen Gildenkollegen zum Sprechen aufgemuntert. Zum Glück betrat in diesem Moment jemand Neues den Raum, sodass der Rotschopf sich nicht den Kopf über die aktuelle Situation zerbrechen musste. Eine junge Frau, wahrscheinlich ein paar Jahre älter als Lian und Yuuki, hatte den Raum betreten. Interessanterweise sprach sie kein Wort, doch ihre taxierenden Blicke sagten genug. Aufmerksam verfolgte der Diplomat die Regungen der jungen Frau, die auf die Einladung ihres Vaters an den Essenstisch hin lediglich nickte, ehe sie sich umdrehte und in der Küche verschwand. In diesem Augenblick überkam ihn ein Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Ehe sie sich nun der Mordserie widmeten, nutzte der Grynder die Gunst der Stunde, um sich bei Dorte nach einer weiteren Portion Erbseneintopf zu erkundigen. „Es war wirklich sehr lecker! Falls es für Sie in Ordnung ginge, könnte ich noch einen kleinen Nachschlag haben?“, fragte er höflich bei der Frau des Bürgermeisters nach. Hätte sie es nicht von sich aus angeboten, hätte er wohl nicht nachgefragt. Aber das alte Schleckermaul ließ sich diese Gelegenheit sicherlich nicht entgehen, dafür war der Eintopf wirklich zu lecker! Überrascht zuckte er zusammen, als die ältere Frau erfreut in die Hände klatschte. „Aber natürlich, immer gerne! Und für dich auch?“, fragte sie den anderen Crimson Sphynx Magier mit einem breiten Strahlen auf dem Gesicht, welches sicher kein Nein als Antwort akzeptieren würde. In dem Moment, in welchem Dorte in die Küche huschte, kehrte die Tochter Edith an den Tisch zurück und begann stumm ihren Eintopf zu essen. Hin und wieder blickte sie kurz auf und warf Lian und Yuuki abwechselnd einen taxierenden Blick zu, ganz so, als ob sie nicht wusste, was sie von ihnen denken sollte. Indes erzählte Hugo Brown mit bedächtiger Stimme von der Mordserie in Nanto. „… jeden dritten Tag gibt es ein weiteres Opfer. Nach der alten Elfriede, dem tüchtigen Fisnik und dem tapferen Georg, ist die liebe Anna ebenfalls Opfer dieser Gräueltat geworden.“ Kaum hatte der Bürgermeister seinen Satz beendet, als Edith urplötzlich ihren Löffel auf den Tisch haute, sodass Erbseneintopf in alle Richtungen spritzte – und damit ihren Vater genau wie die beiden Crimson Sphynx Magier vollspritzte – ehe sie aufstand, und wortlos den Raum verließ. Ganz und gar nicht zur Situation passend, kehrte Dorte mit Nachschlag zurück. „Edith Liebes, bist du schon fertig? Oh, du meine Güte!“, ließ sie vertönen, als sie die mit Erbseneintopf bekleckerten Männer am Tisch erblickte. Wortlos wischte sich der Rotschopf etwas Eintopf von der Nase und blickte den Bürgermeister an, da er wissen wollte, was hier von sich ging. Hugo Brown ließ einen lauten Seufzer entweichen. „Bitte verzeiht, Edith meint es nicht so. Es ist nur … dass Anna ihre beste Freundin war und sie das Ganze wirklich schwer mitnimmt.“ Just in diesem Moment verflog jeder aufkeimende Ärger in Yuuki und stattdessen begann sein Herz schneller zu schlagen. Er konnte nur allzu gut nachvollziehen, wenn einem eine geliebte Person entrissen wurde. Doch es war mehr als das, was in ihm vorging. Seine Gedanken kreisten die Verstorbene, die seiner Jugendliebe zumindest auf den ersten Blick etwas ähnlich sah. Er hatte nie herausgefunden, wer den Brandanschlag auf den Laden von Iris‘ Mutter ausgeführt hatte. Welcher Unmensch hinter dieser grauenhaften Tat steckte. Der Rotschopf schluckte und sein Hals fühlte sich ganz trocken an. Aber hier … hier hatten sie die Chance, Licht ins Dunkel zu bringen. Sie hatten die Chance, den Mörder zu fassen und Nanto wieder Frieden zu bringen. Und auch Frieden für Edith, sodass sie anfangen konnte, ihren Verlust zu verarbeiten. Sicher würde das mehr als nur ein paar Tage in Anspruch nehmen. Vielleicht würde es sogar ein ganzes Leben andauern. Allerdings gab es nichts Schlimmeres, als nicht zu wissen, warum etwas so Grauenhaftes geschehen musste und zu wissen, dass diese Person noch da draußen herumspukte. „Wir werden der Mordserie ein Ende setzen und den Mörder finden.“, gab der junge Mann entschlossen von sich und ließ ihren Auftraggeber nicht aus den Augen. „Ihr habt mein Wort!“
Doch die Frage war doch jetzt, wo sollten sie mit ihrer Suche beginnen? Gut, sie hatten die Namen der Toten, aber bisher nichts anderes in Erfahrung gebracht. „Gab es denn irgendwelche Verbindungen zu den Opfern? Irgendeine Gemeinsamkeit?“ Daraufhin schüttelte der Bürgermeister den Kopf. „Keine. Zumindest keine, die wir fanden. Deshalb habe ich mich an Aram Falls gewandt und ihn um Hilfe gebeten.“ Hmm, Sackgasse also, was nun? Die rubinroten Seelenspiegel wandten sich zum Falls, der ihm Gegenüber saß. Es stand für das Dorf viel auf dem Spiel, viel zu viel, als dass er sich jetzt erlauben konnte, sich von Lian sowie seinen Umständen ablenken zu lassen. Er musste sich aufs Hier und Jetzt konzentrieren, so schwer ihm das auch fiel. Das hatte ihm Ryo eingebläut und er würde den Teufel tun, die Lehren seines Bruders in den Wind zu schlagen. Aus diesem Grund neigte er wortlos den Kopf und signalisierte seinem Gildenkollegen, dass er auch etwas sagen sollte. Möglicherweise hatte er ja einen anderen Blickwinkel auf die Geschichte als er selbst, der von den Parallelen zu seinem eigenen Leben zu abgelenkt war. Es ging hier nicht nur um den Ruf seiner Gilde, sondern um Nanto Gerechtigkeit zu bringen und auch der Tochter des Bürgermeisters zu helfen!
Im ersten Moment hatte Lian vermutet, dass die Tochter der Familie Brown irgendetwas gegen die Crimson Sphynx Magier persönlich hatte. Ihre Blicke waren undurchsichtig und ihr Schweigen konnte vielfach interpretiert werden. Als sich die braunhaarige Frau zu ihnen an den Tisch setzte, erkannte der Falls mal wieder durch seine unkontrollierte Magie, dass etwas anderes hinter der Stille lauerte. Lian spürte… Angst. Und eine tiefsitzende Trauer. Wenngleich er in diesem Moment noch nicht einschätzen konnte, woher genau diese Gefühle kamen, war er sich doch sicher, dass es nicht direkt mit Yuuki und ihm zu tun hatte. Was genau war dieser Frau geschehen? Den Gedanken noch nicht abgeschlossen, war es das laute Klirren von Metallbesteck in Kombination mit warmem Erbseneintopf, der quer über den Tisch flog, die den Falls aus seinen Grübeleien weckten. Genauso wie der Gildenkollege hatte auch Lian eine ordentliche Portion Essensreste im Gesicht abbekommen, anstatt diese sofort beiseite zu wischen, starrte er allerdings Edith hinterher, die aus dem Raum flüchtete. So langsam setzten sich die Puzzleteile zusammen, es war eine Vermutung, die der Braunhaarige gedanklich aufstellte. Eine Vermutung, die mit den erklärenden Worten, die Hugo Brown aussprach, bestätigt wurde: Edith stand in Verbindung zu einem der Opfer. Ob Anna das Mädchen auf dem Foto gewesen war? Das Mädchen, das solch eine verblüffende Ähnlichkeit zu Isabelle aufwies? Noch einmal ging Lian die Namen durch, die der Bürgermeister genannt hatte. Ja, wenn man bedachte, mit welchen Adjektiven die Opfer beschrieben worden waren, musste es sich bei der blonden Frau auf dem Bild um Anna handeln. Nur beiläufig schielte der Falls zu seinem Gildenkollegen. Der Bogenschütze konnte die Gefühle von Yuuki gerade nicht ganz so stark wahrnehmen wie bei ihrer Ankunft in Nanto, dennoch konnte er sich denken, was in ihm vorging. Wir? Moment, hatte er das gerade richtig gehört? Hatte der Grynder von ihnen beiden im Plural gesprochen? Lian unterdrückte ein Schmunzeln, denn er persönlich war noch nicht überzeugt davon, dass er und Yuuki im Team funktionieren würden – und ob sie es anders als im Team schaffen würden, hier zu einem Ergebnis zu kommen, war fraglich. Wie gut, dass du dein und nicht mein Wort gegeben hast, ergänzte er gedanklich, schnappte sich nun – mit einiger Verzögerung – auch endlich eine Serviette vom Tisch und wischte sich genauso wie der Rothaarige die Reste des Erbseneintopfs vom Gesicht.
Lian hatte nicht vorgehabt, sich groß in das Gespräch zwischen dem Diplomaten und dem Bürgermeister einzumischen. Eigentlich mochte er seine Rolle als stillschweigender Partner, der nebenbei ein wenig zuhörte, sich größtenteils aber mit dem Erbseneintopf beschäftigen konnte, der vor ihm auf dem Teller nur darauf wartete, vertilgt zu werden. Lian wollte gar keine Verantwortung übernehmen, genauso wenig, wie er die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Anders als Yuuki sah der Braunhaarige auch keine persönliche Verbindung zu den Opfern der Mordserie und so nett der Bürgermeister und seine Frau die Magier auch aufgenommen hatten: Auch hier konnte Lian keine wirkliche Verbindung spüren. Dass er keine Lust darauf hatte, mit dem Grynder unterwegs zu sein, war sowieso kein Geheimnis und die Tatsache, dass Aram seinen Neffen mal wieder über seinen Kopf hinweg auf irgendeinen Auftrag in unschöner Begleitung geschickt hatte, förderte die Motivation des Schützen genauso wenig. Alles in allem: Lian sah keinerlei Anlass dazu, hier für irgendetwas zu kämpfen. Er war anwesend, mehr allerdings auch nicht. Es traf ihn daher ziemlich unvorbereitet, dass ausgerechnet der Diplomat ihn nicht nur direkt anblickte, sondern mit einem kurzen Kopfnicken sogar andeutete… dass er reden sollte? Der Falls blinzelte, dann runzelte er die Stirn und fragte sich, ob er das Signal nicht vielleicht doch falsch verstanden hatte. Hatte Yuuki nicht Sorge gehabt, dass der Braunhaarige irgendwie aus der Reihe tanzen würde? Dass er dem Auftrag eher schaden als bei der Erfüllung der Quest helfen würde? Der 19-Jährige spürte den Drang in sich, die Aufforderung zum Sprechen einfach zu ignorieren. So zu tun, als hätte er es gar nicht wahrgenommen. Um dem Grynder eins auszuwischen? Um ihm zu zeigen, dass Lian nicht einfach so auf irgendwelche Befehle hören würde, die er von sich gab? Vermutlich. Und ja, es war nicht sonderlich erwachsen von dem Lockenkopf, so zu denken. Am Ende war es nicht seine eigene Vernunft und Selbstreflexion, die ihn dazu bewegten, doch den Mund aufzumachen. Es war auch keinesfalls Sympathie gegenüber dem rothaarigen Diplomaten. Im Endeffekt war es der Gedanke an Edith, die Trauer und Angst, die er von ihr wahrgenommen hatte, die dem Falls einen Schubs in die richtige Richtung gaben.
Ohne ein besonderes Signal an Yuuki gegeben zu haben, drehte Lian das Gesicht zum Bürgermeister und neigte den Kopf ein wenig nach vorne. Natürlich hatte Hugo Brown den Blickkontakt, den die beiden Magier ausgetauscht hatten, mitbekommen und man konnte ihm die Verwirrung vom Gesicht ablesen – aber er hielt sich zurück, direkt nachzufragen, sondern erwiderte schlicht den Blick des bisher sehr verschwiegenen Illusionisten. „Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Opfer einer Mordserie, tatsächlich zufällig ausgewählt werden. Allem voran in einer Mordserie, die einem so genauen Zeitplan folgt. Irgendeine Verbindung wird es daher geben, wenngleich man sie auf den ersten Blick nicht erkennen kann.“ Der Falls zuckte mit den Schultern, legte dann eine Hand ans Kinn und senkte den Blick. Auch wenn der Schütze es gerne für sich behielt: Er war keinesfalls auf den Kopf gefallen und konnte durchaus mitdenken. Es kam nur selten vor, dass er diese Gedanken auch öffentlich teilte. „Wo genau haben die Morde stattgefunden? Und wie genau wurden die Opfer ermordet?“ Lian hielt es für sehr unwahrscheinlich, dass der Mörder sich hier immer neue Wege ausgedacht hatte, um den ausgewählten Personen das Leben zu nehmen. Ganz offensichtlich war der Bürgermeister überrascht über die Direktheit, die der Falls plötzlich zeigte, weshalb er einen Moment brauchte, um sich die richtigen Worte zusammenzulegen. Am Ende setzte er aber doch zu einer Antwort an: “Die Opfer wurden allesamt am Morgen aufgefunden, weshalb wir davon ausgehen, dass sie immer in der Nacht ermordet wurden. Die Orte… variierten. Am Eingangstor von Nanto, bei den Wasserfällen, in der Nähe des Krankenhauses und auch auf dem Zentralplatz. Und sie wurden… erdrosselt.“ Während Hugo Brown den Blick abwandte und ein bisschen blasser um die Nase wurde, nickte Lian und sah seinerseits aus dem Fenster. Noch was es hell. „Die Orte sind unterschiedlich, aber es legt die Vermutung nahe, dass die Opfer allesamt draußen überfallen wurden. Die Frage ist allerdings: Warum waren sie in der Nacht draußen unterwegs? Obwohl sie wussten, dass ein Mörder frei herumläuft?“ Das war tatsächlich ein Gedanke, der den Braunhaarigen nicht so recht losließ, denn es machte seiner Ansicht nach keinen Sinn. Hatte der Mörder die Menschen irgendwie nach draußen gelockt? Aber wie? Vielleicht ein gemeinsamer Bekannter, dem alle ihr Vertrauen schenkten? Leider konnte auch Hugo Brown hier nicht weiterhelfen. “Ich weiß es leider nicht“, teilte er sichtlich bekümmert mit. Es hatte den Anschein, dass die Magier hier nicht weiterkommen würden. Sie mussten woanders nach Informationen suchen. Der 19-Jährige legte den Löffel neben dem mittlerweile geleerten Teller ab und hob die Mundwinkel zu einem Lächeln an – es war mehr gespielt als echt, so wie auch Yuuki in der Vergangenheit schon mit dem falschen Lächeln des Diebes in Kontakt gekommen war. Vielleicht erkannte er es ja wieder? „Könnt Ihr uns sagen, wo wir Familie oder Bekannte der Verstorbenen finden können, um uns weitere Informationen einzuholen?“ So wie Edith, ergänzte er gedanklich. Nach dem Abgang der jungen Frau vorhin wäre es aber vermutlich unklug, direkt das Gespräch mit der Tochter des Bürgermeisters zu suchen, solange ihr Gemüt noch aufgewühlt war. Zumindest Lian tendierte dazu, das Gespräch mit der Braunhaarigen eher an das Ende ihrer Befragung zu setzen. Und schlussendlich gab es noch eine letzte Frage, die offen geblieben war – die für den Falls aber mit eine der relevantesten war. Er löste die Hand von seinem Kinn und sah auf, direkt zum Bürgermeister. Alle drei Tage kam es zu einem Mordfall… „Wann hat der letzte Mord stattgefunden?“, formulierte er die Frage, die sowohl ihm als auch Yuuki aufzeigen würde, wie hoch der Zeitdruck war, unter dem sie standen.
Mit einem gequälten Lächeln legte ein junger, eleganter Herr sein weites, helles und blumig verziertes Oberteil wieder an, das er für ein paar kurze Momente an einen Zaunpfahl neben sich gehangen hatte – natürlich erst, nachdem er in ausreichendem Maße sichergestellt hatte, dass dieser Pfahl sauber war. Er hatte sich für eine kurze Zeit frei machen müssen, aus zweierlei Gründen. Zuerst einmal war er nicht allzu erfreut über die aktuelle Situation. Nanto war ein wunderschönes Örtchen, ohne Zweifel. Es war ein Ort umgeben von wunderschöner Natur – der schönsten im Zentrum von Fiore, was wohl kein Wunder war, da sie hier dem idyllischen Süden so nahe waren – und mit köstlichem Tee in Häusern mit mehr als hübschen Kellnerinnen, die, da sie allesamt in diesem Ort lebten, außerhalb der Öffnungszeiten auch wundervolle Begegnungen abzugeben wussten. Wenn es einen Ort gab, an dem sich ein Liebhaber der Schönheit entspannen konnte, dann war es Nanto. Insofern war es nicht das erste Mal, dass der junge Herr hier war, und es würde nicht das letzte Mal sein. Eigentlich war er hier, um ein wenig Ruhe zu finden. Nur war sein Herz nun mit dem genauen Gegenteil erfüllt, nach dem, was er im Inneren des Zuges hatte miterleben müssen. Und ja, das führte zu Punkt Nummer Zwei: Das Innere des Zuges! Anders als manch andere musste sich der zweifellos gutaussehende Herr mit der zweiten Klasse zufrieden geben, was ihm trotz aller Vorsicht ein gutes Stück Staub und ein paar Falten für seine Klamotten eingebracht hatte. Klamotten, die er nun zum Glück hatte richten können, ehe er sein Oberteil wieder ordentlich anlegte. Wenn die unteren Schichten nicht gut aussahen, konnte die oberste Schicht allein sie nicht retten, aber nun sah er wieder aus wie immer: Perfekt.
„Der letzte Mord... ist jetzt drei Tage her. Heute Nacht ist es wieder soweit.“ Die Worte der Frau umgaben Yuuki und Lian noch immer, als sie das Haus verließen. Sie hatten einiges gehört von ihren Auftraggebern, wenn auch nicht viel, das ein klares Licht auf die Vorfälle warf. Hätte der Bürgermeister bereits die Informationen, die sie brauchten, dann wäre es wohl kaum notwendig gewesen, die Magier hierher zu bestellen... Dennoch war es ein harter Schlag, so wenig zu wissen, wenn sie so wenig Zeit hatten, den nächsten Vorfall zu verhindern. Als ihre Blicke sich trafen, zeigte sich noch einmal, wieso sich die Gefahr so viel drückender anfühlte, als sie es auf manch anderer Quest getan hätte: Diese beiden Magier hatten kein Vertrauen ineinander. Sie sahen den jeweils anderen nicht als Hilfe an, wenn überhaupt erwarteten sie, dass er ihnen in die Quere kommen würde, und eine Spannung lag in der Luft, die deutlich darauf hindeutete, dass das nächste Mal, wenn jemand den Mund öffnete, schon der nächste Streit vom Zaun brechen würde...
„Na, na. Wer wird denn da so böse gucken?“ Die entspannte, geradezu fröhliche Stimme des jungen Mannes, der bereits gegenüber der Eingangstür auf die Magier gewartet hatte, schnitt durch die gespannte Luft und überraschte sie wohl beide. Ein Blick genügte, um sicher zu sein, um wen es sich bei ihm handelte. Das lange, samtige Haar, so strahlend weiß in der Sonne über Nanto. Die Gewänder, so teuer und gepflegt, die ihn wie einen Adeligen wirken ließen. Der Glanz in seinen violetten Augen, der ihn gleichzeitig so freundlich und abwesend wirken ließ. Ja, kein Zweifel: Das hier war Charon Dargin. „Was war ich doch überrascht, gerade euch beiden zufällig zu entdecken, da musste ich einfach warten, um euch zu begrüßen“, meinte er fröhlich und nickte den beiden zu. Dann fokussierte er den Rotschopf und deutete zur Seite. „Yuuki, mein Freund, macht es dir etwas aus, kurz unter vier Augen zu sprechen?“
Aufgefallen waren dem Dargin seine beiden Bekanntschaften, als er noch im Zug gewesen war. Nach einem kurzen, unfreiwilligen Powernap in einem der Gänge hatte er den Weg zu seinem Sitzplatz gesucht und war dabei an ihrem Abteil vorbei gekommen. Inhaltlich konnte er nicht recht sagen, worüber sie gesprochen hatten, vor Allem, weil sie an den wichtigsten Punkten sehr leise geworden waren, aber er hatte durchaus die Stimmung bemerkt, und spätestens, als Yuuki wieder laut geworden war, war klar, dass irgendetwas gar nicht richtig lief zwischen ihnen. „Ich habe dich noch nie so aufgebracht gesehen. Du hast dich doch sonst so gut unter Kontrolle“, meinte er, eine gewisse Besorgnis in seiner Stimme, während er den Rotschopf beäugte. „Ich weiß, wie schwer es normalerweise ist, deine Geduld zu brechen. Magst du mir erzählen, was passiert ist?“ Allzu viele Details darüber, worum es in der Unterhaltung zwischen Lian und Yuuki gegangen war, konnte Charon leider nicht erhaschen, so neugierig er auch sein mochte. Er achtete allerdings auch darauf, nicht zu bohren, wenn der Grynder irgendwo eine Grenze zu setzen schien. Stattdessen lenkte das Gespräch schnell um auf die Quest, die er mit Lian begonnen hatte, und den Ernst der Lage, der Charon das Lächeln aus dem Gesicht trieb. „Das ist ja schlimmer als auf Megumi“, meine er mitfühlend und legte Yuuki eine Hand auf die Schulter, nachdem er dieser einen besonders aufmerksamen Blick geschenkt hatte. Nur zur Sicherheit. „Yuuki... Ich sehe doch, dass dich etwas mitnimmt. Was auch immer ihr im Zug besprochen habt, es beschäftigt dich, nicht wahr? Ich glaube nicht, dass es in diesem Zustand gut für dich ist, so eine bedrückende Quest zu übernehmen... Besonders in so einer Teamzusammenstellung.“ Kurz blickten beide hinüber zu Lian. Charon hatte beim besten Willen kein Problem mit dem Brünetten, im Gegenteil. Trotzdem konnte er sich gut vorstellen, wieso diese beiden Männer aneinander eckten. Sanft lächelte er Yuuki an. „Was hältst du davon, diese Aufgabe mir zu überlassen? Ich habe bereits mit Lian und... vergleichbaren Personen gearbeitet, und das ziemlich erfolgreich. Du magst ein Talent dafür haben, mit Menschen umzugehen, die für logische Argumente offen sind, aber ich bin ziemlich gut darin, jene unter Kontrolle zu halten, bei denen das nicht so gut funktioniert.“ Er lachte auf, während er sich einen Schritt zurückzog und die Hände in die Hüften stemmte. Dass der Grynder zögerte war verständlich, aber er war auch jemand, der sich selbst und die Situation realistisch einschätzen konnte... und jemand, der bereits Erfahrungen damit gemacht hatte, wie es war, an Charons Seite zu arbeiten. „Ich würde mich auch damit schwer tun, so eine wichtige Aufgabe abzugeben“, nickte Charon. „Aber ich hätte das Vertrauen, dass sie bei dir in den richtigen Händen ist. Und ich denke, wenn du jemanden wählen musst, dem du dein Vertrauen schenken kannst... dann bin ich eine gute Wahl, nicht wahr?“
Endlich allein mit Lian führte Charon seinen guten Freund ein Stück weit vom Haus des Bürgermeisters weg, ehe er einen kurzen Blick über seine Schulter warf, sicher ging, dass Yuuki tatsächlich gegangen war. Dann wechselte er die Richtung, ging einen unerwarteten Weg hinab, der zwischen die Häuser und hinter sie führte zu einem hübschen, kleinen See, der sich am Rande Nantos zwischen einer dichten Baumgruppe versteckte. Ein ungestörter Ort, den nur ein wahrer Enthusiast dieses Ortes kennen und finden würde. „Ha! Und wieder geht ein wichtiger, Fingerspitzengefühl fordernder Auftrag an Charon Dargin! Aram wird schon sehen, dass er gleich mich hätte schicken sollen!“, meinte er zufrieden, ehe sein Gesichtsausdruck nachdenklich wurde. „Wobei er das vermutlich ohnehin getan hätte... Eigentlich ist es ja gut zu wissen, dass er Rücksicht auf meine freien Tage nimmt, aber für so eine Gelegenheit nehme ich mir die Zeit doch gerne...“ Sene Hand legte sich an sein Kinn, während er grübelte, es dauerte einen Moment, bis Charons Blick wieder auf Lian fiel, und er blinzelte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er Lian noch gar nicht so wirklich begrüßt oder zu seiner Entscheidung, die Teamkonstellation zu ändern, konsultiert hatte. „Ah, übrigens, hallo, Lian. Wie passend, dass gerade du die eine Person bist, die Yuuki Grynder dazu bringt, eine Szene in einem Zug zu machen“, meinte er und unterstrich mit einem Lachen, dass diese Aussage keinesfalls ein Vorwurf war. Schließlich hatte ihm genau das seinen Einstieg gegeben, um die Prestige dieses Auftrages für sich zu sichern. Trotzdem zuckte seine rechte Augenbraue leicht bei dem Gedanken an diese Situation. „Findest du es nicht ein wenig überheblich, für eine kurze, geschäftliche Zugfahrt in die erste Klasse zu steigen? Hast du eine Ahnung, wie teuer das ist...?“
Drei Tage. Der letzte Mord sollte wirklich schon drei Tage her sein. Lian war selbst überrascht davon, wie stark sich sein Brustkorb zusammenzog, wie schwer ihm für den Bruchteil einer Sekunde das Atmen fiel, kaum dass der Bürgermeister diese unheilvollen Worte ausgesprochen hatte. Eigentlich waren ihm diese Menschen hier egal, er interessierte sich genauso wenig für sie wie umgekehrt. Warum also nahm er es sich zu Herzen? Warum verspürte er den Druck, gar die Verantwortung dafür, hier irgendein Menschenleben zu retten? War es etwa mal wieder sein verdammtes… Gewissen?! Der 20-Jährige schnalzte missbilligend mit der Zunge und wandte den Blick ab, eine Bewegung, die er sogleich wieder bereute. Anstatt eines beruhigenden Ausblicks sah er nun in Richtung des Grynder. Gott, das machte alles nur noch schlimmer. Der Illusionist musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzustöhnen und sich die Schläfen zu massieren, denn das hätte nur noch mehr Fragen seitens des Bürgermeisters heraufbeschworen, die er nicht gewillt war, wahrheitsgetreu zu beantworten. Dieser ganze Tag war eine einzige Katastrophe! Der Falls dachte angestrengt darüber nach, wie er der unangenehmen Situation entkommen konnte, aber ganz gleich, wie stark er grübelte, ihm fiel einfach keine Lösung ein. Zumindest keine, die ihn davor bewahrte, nach Rückkehr in den Gildenpalast eine ordentliche Standpauke von seinem Onkel zu kassieren, wenn nicht gar Schlimmeres. Die Vereinbarung zwischen ihm und seinem Onkel war dem Braunhaarigen mehr als bewusst, genauso wie die Konsequenzen, die ihn erwarteten, wenn er sich nicht daran hielt. Etwas, worauf Lian trotz aller widrigen Umstände gut und gerne verzichten konnte.
Wer hätte auch ahnen können, dass die Flucht von diesem Ort überhaupt nicht die einzige Lösung war, um der unangenehmen Anwesenheit von Yuuki zu entkommen?
Obwohl Lian die dunkle Stimme, die an sein Ohr drang, auf Anhieb erkannte und auch richtig zuordnen konnte, wollte er es doch nicht glauben. Auch als er den Kopf drehte, als er das weiße Haar, die violetten Augen und das überhebliche Grinsen, das ihn in der Vergangenheit so manches Mal zur Weißglut getrieben hatte, erkannte… nein, das konnte nicht wahr sein. Der Illusionist hielt inne und starrte seinen Freund – vielleicht sogar seinen besten Freund – an, als hätte er einen Geist erblickt. Charon Dargin – was zum Henker machte Charon Dargin hier in Nanto? Heute, Jetzt, an ganz genau dieser Weggabelung? Schlagartig dachte Lian an seinen Onkel Aram und es erschien ihm naheliegend, dass der Gildenleiter zu wenig Vertrauen in die Fähigkeiten seines Neffen hatte, weshalb er Charon nachgeschickt hatte. Doch dann sah er mit einem unauffälligen Seitenblick zu Yuuki Grynder und verwarf diesen Gedanken wieder, kaum dass er aufgekommen war. Ja, Aram Falls mochte Lian vielleicht misstrauen, aber mit Sicherheit nicht seinem ach so geliebten Diplomaten. Was auch immer Charon hierher verschlagen hatte, es musste einen anderen Ursprung haben. Leider wurde dem Braunhaarigen keine Gelegenheit gegeben, um entsprechende Fragen zu stellen, denn der Finsternismagier steuerte auf Yuuki zu und zog ihn beiseite. Zwar konnte Lian die beiden jungen Männer aus der Ferne beobachten, doch welche Worte sie miteinander tauschten, blieb ihm verborgen. Ganz gleich, worüber sie redeten, es gab dem Falls die Gelegenheit, sich wieder zu sammeln. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich durch das lockige Haar und atmete tief ein und aus, schloss kurz die Augen und ordnete seine wirren Gedanken. Der Streit mit Yuuki im Zug, die Sache mit Isabelle, die Mordserie und nicht zuletzt diese erdrückenden Gefühlswellen vom Grynder, die Lian aufgrund seiner unkontrollierten Magie aufsog wie ein Schwamm… ja, es war ziemlich viel, das innerhalb kürzester Zeit auf den Bogenschützen eingeprasselt war. Charon verschaffte dem jungen Mann eine Verschnaufpause, die er dringend nötig gehabt hatte. Als die Lider sich wieder anhoben, glaubte Lian, sich wieder gesammelt zu haben – oder auch nicht? Sein Kinn klappte herunter, er blinzelte irritiert. Entfernte sich Yuuki dahinten gerade? Hatte er ihm den Rücken zugedreht? Ging er… ging er einfach so weg? Das konnte nicht sein. Das war einfach zu gut, um wahr zu sein. Selbst als der Dargin ihm entgegenkam, ihn sanft anstieß und durch die Straßen Nantos steuerte, wartete der Falls darauf, dass der vermeintliche Scherz aufgelöst wurde. Darauf, dass der Grynder gleich wieder auftauchen würde.
Aber das tat er nicht.
Sprachlos musterte Lian seinen Freund, weder die wunderschöne Umgebung, noch den selbstbewussten Worten von Charon richtig Aufmerksamkeit schenkend. Moment – hatte er etwas von einem freien Tag gesagt? In was für einer Konstellation hatten die Sterne stehen müssen, dass ausgerechnet der Dargin an seinem freien Tag hier nach Nanto kam und den Falls aus seiner misslichen Lage retten würde?! Das konnte kaum ein Zufall sein. Und doch… genau das schien es zu sein. Nicht mehr, als eine Verkettung glücklicher Umstände, die zu ihrem jetzigen Beisammensein geführt hatten. Die Aussprache seines Namens ließ den Falls in die Gegenwart zurückkehren und obwohl er eigentlich sofort auf die Stichelei seines Freundes eingegangen wäre, war Lian gerade überhaupt nicht danach. Er öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder und trat auf den Dargin zu.
Anstatt etwas zu sagen, umarmte er Charon.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals so froh sein würde, dich zu sehen, Charon“, entkam es ihm, immer noch ein bisschen entrückt, ohne von dem anderen Magier abzulassen. Erst danach löste er sich, hielt die Hände aber auf den Schultern des Anderen und sah ihm direkt in die Augen. „Ich meins ernst. Wenn das so weitergegangen wäre, wäre heute Nacht mit Sicherheit ein weiterer Mord geschehen. Und das Opfer wäre kein Einheimischer gewesen.“ Die Mordserie! Trotz aller Freude, die Lian über die Anwesenheit von Charon verspürte, erinnerte er sich wieder daran, warum er eigentlich in Nanto war. Er verspürte immer noch keine große Lust, nach Aram Falls Pfeife zu tanzen, aber der Braunhaarige wollte sich beim Schicksal dafür revanchieren, dass er von der Anwesenheit des Diplomaten erlöst worden war. Und was eignete sich dafür besser, als diese Quest zu einem erfolgreichen Ende zu führen? Der 20-Jährige verspürte eine unerwartete Motivation in sich aufsteigen – hoffentlich war das kein Zeichen dafür, dass er krank wurde. Charon lobte ihn dafür, dass er es geschafft hatte, Yuuki Grynder zu einer Szene im Zug zu bewegen? Der junge Mann grinste schief. „Oh, ich hätte gerne darauf verzichtet, der Auserwählte zu sein, glaub mir.“ Er löste die Hände von Charons Schultern und verschränkte stattdessen die Arme vor der Brust. Lian war es schon fast peinlich, dass er dabei erwischt worden war, wie ein verwöhnter Schnösel in der ersten Klasse gereist zu sein. Das Letzte, was er wollte, war mit dieser spröden High Society in einen Topf geworfen zu werden. Und doch erkannte Lian die Parallelen zu seiner eigenen Reaktion auf die Tickets, weshalb er es sich nicht verkneifen konnte, todernst zu zitieren: „Du weißt schon, was eine Spesenabrechnung ist, oder?“ Der Falls schüttelte den Kopf und grinste in sich hinein, ehe die hellgrünen Seelenspiegel wieder zum Dargin sahen. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass die erste Klasse auf meinem Mist gewachsen ist. Ich würde die zweite Klasse mit allen schreienden Kindern einem Abteil voller Lackaffen jederzeit vorziehen. Wie gut, dass meine erste Klasse Tickets für den Rückweg gemeinsam mit dem angesehenen Diplomaten der Gilde soeben verschwunden sind. Noch ein Problem weniger, um das ich mich kümmern muss.“ Erst jetzt fiel Lian auf, wie wenig er an diesem Tage gesprochen, wie wenige Gedanken er seinerseits geteilt hatte. Nein, er war nie ein besonders wortreicher Mensch gewesen, aber die Gesellschaft von Yuuki hatte es auf die Spitze getrieben. Umso rede- und kontaktfreudiger war der Braunhaarige jetzt – ein Umstand, der vielleicht auch Charon auffallen würde. Er hob die Hände an und zuckte mit den Schultern. „Okay, Charon. Was weißt du über den Auftrag? In Kurzform: Hier passieren Morde, alle drei Tage und heute Nacht könnte es wieder zu einem Mord kommen. Und obwohl mir diese Menschen hier eigentlich ziemlich egal sein sollten, verspüre ich nach den jüngsten Ereignissen tatsächlich eine gewisse Lust, den nächsten Mord zu verhindern und den Übeltäter zu stellen. Nicht, um Aram Falls oder Yuuki Grynder einen Gefallen zu tun, aber einem Charon Dargin gönne ich die Lorbeeren durchaus.“ Ganz bewusst hielt Lian sich selbst bei dieser ganzen Sache heraus. Er sah sich immer noch mehr als Begleiter, nicht als ein Protagonist bei diesen Magiergeschichten. „Wir könnten mit der Familie eines der Opfer sprechen, der Bürgermeister hat uns den Weg beschrieben. Vielleicht können wir von dort noch ein paar Hinweise erhalten. Hört sich das nach einem Plan an?“
Leicht verdutzt blinzelte Charon, als Lian ihn umarmte, auch wenn dabei ein Lächeln um seine Lippen spielte. „Also wirklich. Du solltest dich immer über meine Anwesenheit freuen“, meinte er und erwiderte kurz die brüderliche Umarmung, ehe er sich von Lian löste und seine Kleidung glatt strich. Ohne ihn wäre heute Nacht also jemand anders als die Einheimischen gestorben, ja? „Dann bin ich ja froh, dass ich dein Leben retten konnte.“ Mit einem Schmunzeln beäugte der Dargin seinen wohl besten Freund. So sehr er Lian auch schätzte, nicht einmal Charon höchstpersönlich hatte im Kampf gegen Yuuki mehr als ein Unentschieden herausschlagen können. Wer einen zynischen Blick auf ihr kleines Training warf, könnte sogar der Meinung erliegen, dass der Finsternismagier verloren habe, auch wenn das natürlich Irrsinn wäre. So oder so wäre es vermutlich nicht allzu gut gelaufen, wenn Lian sich ernsthaft mit dem Rotschopf angelegt hätte... „... Spesenabrechnung?“ Die Zähne zusammenbeißend hob Charon eine Augenbraue. Zugegeben... Das war etwas, woran er im Allgemeinen nicht dachte. Es war wohl, zugegeben, ein Weg, Geld zu sparen, was er eigentlich dringend nötig hatte... aber es fühlte sich nicht gut an. So sehr sich Charon in die Dinge einarbeiten konnte, die ihn interessierten, so schnell schob er Dinge beiseite, mit denen er nichts zu tun haben wollte. „Also bitte. Als wäre es besser, das Geld der Gilde auszugeben als dein Eigenes. Diese Art Argument zeugt von Rücksichtslosigkeit und Egoismus“, winkte er ab, die Nase hoch erhoben. Richtig, es war nicht sein Fehler. Es war eine moralische Sache! Wer seine Gilde wirklich liebte, würde ihr ja wohl kaum unnötige Kosten anlasten! Die Arme vor der Brust verschränkt schüttelte das Weißhaar den Kopf. „Hah, da sind wir wohl zu zweit. Keine Sorge, ich werde schon sichergehen, dass du auf der Rückfahrt nicht nochmal ein Ticket für die erste Klasse in die Hand nimmst.“ Amüsiert nickte er und legte eine Hand an seine Stirn, um sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen. „War ja klar, dass das Yuukis Einfluss ist... Mit mir wollte er das auch schon einmal machen.“
Wenn man mit Lian sprach, war es manchmal viel zu einfach, zu vergessen, was der eigentliche Fokus des Tages war. Charon kam selten so aus sich heraus, redete selten über seine Frustrationen oder über Dinge, die ihn an anderen Menschen störten. Dieses befreiende Gefühl konnte schon einmal dafür Sorgen, dass ein paar wichtige Gedanken in den Hintergrund rückten – beispielsweise der Ernst der aktuellen Situation. „Ahem. Du hast Recht. Fokussieren wir uns auf unsere Aufgabe“, nickte Charon nachdenklich. Wenn er diese Quest in den Sand setzte, nachdem er sie von Yuuki übernommen hatte, würde das seinem Ruf nicht helfen, im Gegenteil, es würde noch einmal hervorheben, warum der Rotschopf den S-Rang trug und Charon... nicht. Nein, dieser Ausgang war in keinster Weise akzeptabel. Davon abgesehen ging es hier um Menschenleben. Wie der Dargin es auch drehte und wendete, er konnte es sich nicht leisten, halbherzig an diese Quest heranzutreten. „Yuuki hat mir die Grunddaten dieser Quest mitgeteilt, ja. Im Prinzip haben wir nur den Rest des heutigen Tages, um einen Weg zu finden, den nächsten Mord zu verhindern, nicht wahr?“ Nun, da Charon erst einmal aus dem Plaudern herausgekommen war, betrachtete er das Thema ziemlich ernst. Er schenkte Lian ein sanftes Lächeln, als der meinte, er würde dem Weißschopf die Lorbeeren auch gönnen. „Nun, dann will ich sie mir einmal verdienen. Gehen wir erst einmal zu dem Opfer, das du angesprochen hast. Kannst du mir ein paar Daten dazu geben? Name, Art des Todes und das wievielte Opfer es war zumindest? Diese Art Gespräch sollte man nie unvorbereitet angehen.“ Zusammen traten die beiden Magier wieder zwischen den Häusern vor, dieses Mal auf einem anderen Weg, als sie genommen hatten, um zu dem versteckten See zu gelangen. Es war offensichtlich, dass Charon durchaus Ahnung davon hatte, wie dieses kleine Dörfchen strukturiert und ausgebaut war. Wissen, das sich hoffentlich als nützlich erweisen würde. „Weißt du vielleicht auch, wo die Morde stattgefunden haben? Die Tatorte zu betrachten wäre sicherlich hilfreich. Wenn du diese Information nicht hat, müssen wir sie uns auf dem Weg beschaffen.“ Kurz stoppte er, wandte sich Lian zu. In diesem Moment standen sie im Zentrum von Nanto, inmitten eines kleinen Platzes mit einem schwarzen Brett und einem Brunnen. Von hier aus war es ein kurzer Weg zu den paar Unterhaltungseinrichtungen des Ortes – zwei gute Restaurants, ein Bade, das direkt von den Wasserfällen bespeist wurde, und eine kleine Bürgerhalle, in der neben ein paar administrativen Prozessen primär Gesang und Tanz zur Unterhaltung der Anwohner und Touristen ausgeführt wurde. Aber auch alle anderen Punkte von Nanto konnte man über die Hauptstraßen, die von diesem Punkt ausgingen, gut erreichen. Ein guter Punkt, um ihre Suche zu starten. „Also, Lian? Wo müssen wir lang, um die Familie des Opfers zu finden?“
Lian schwankte ein paar Schritte nach hinten, krümmte sich weit nach vorne und hielt sich die Rechte auf den Magen. Danach stieß er in vollkommen übertriebener Manier die Luft aus der Lunge, während er theatralisch mit der linken Hand in Richtung seines Freundes deutete und unter halb geschlossenen Lidern von unten zu ihm heraufsah. Als hätte der 20-Jährige gerade einen Faustschlag mitten in die Magengrube erhalten, der es ziemlich in sich gehabt hatte. „Wie kannst du nur… der hat gesessen.“ Nur einen kleinen Moment länger behielt der Falls sein Schauspiel bei, ehe er sich wieder gerade aufrichtete, die Hand von seinem Magen löste und stattdessen leise lachend mit den Achseln zuckte. Ganz so sehr hatten ihn die Worte des Älteren dann doch nicht getroffen. „Okay, zugegeben, vermutlich hast du Recht. Charon, mein Retter in der Not, wie kann ich das nur je wieder gutmachen?“ Der Lockenkopf zwinkerte und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Er wusste, dass er im Kampf absolut keine Chance gegen Yuuki Grynder hatte, das war ihm bereits bei ihrer ersten Konfrontation im Gildenpalast bewusstgeworden. Der Diplomat war ihm schon rein körperlich überlegen, von diesen unnatürlichen Magien ganz abgesehen. Und leider half ein ordentlicher Batzen mehr Intelligenz nicht dabei, die körperlichen Unterschiede zwischen ihnen gänzlich auszugleichen, wie Lian gedanklich für sich ergänzte und schamlos in sich hineingrinste. Den Kommentar hinsichtlich der Spesenabrechnung nahm der junge Mann schon wieder mit einem Schmunzeln auf. Das Argument zeugte also von Rücksichtslosigkeit und Egoismus? „Zwei Charakteristika, die durchaus zu der Person passen, von der diese Argumentation stammt“, äußerte er nicht wenig zynisch und schnaubte. Eigentlich war es schon interessant, was für einen großen Teil seiner Gedankenwelt Yuuki Grynder einnahm, zu wie vielen Kommentaren sich Lian hinreißen ließ, wenngleich sie auf Kosten des Rothaarigen geschahen. Man konnte ja fast meinen, dass der andere Magier dem Bogenschützen nicht gänzlich egal war, obwohl Lian genau das voller Inbrunst behaupten würde… ein Gedanke, auf den der 20-Jährige gerade nicht kam. Er schüttelte den Kopf. Charon hatte Recht: Sie sollten sich lieber mit dem Auftrag beschäftigen.
Natürlich fiel auch Lian auf, dass sich der Finsternismagier ziemlich sicher durch das Dorf Nanto bewegte. Während er selbst die Orientierung nach Ankunft in diesem kleinen, etwas verschlafenen Örtchen erstmal hatte finden müssen, wusste der Dargin sofort, welche Wege sie nutzen, an welchen Gabelungen sie abbiegen mussten, um sie beide von dem etwas abseits liegenden See in das Stadtzentrum zu manövrieren. Da musste doch mehr dahinterstecken, oder? „Warst du schon einmal hier?“, fragte der 20-Jährige arglos nach, dachte dann nochmal über seine Worte nach. Charon hatte erwähnt, dass er einen freien Tag hatte… und an diesem freien Tag hatte es ihn ausgerechnet nach Nanto verschlagen. Nein, alles sprach dafür, dass er ganz bewusst hergekommen war. Lian erinnerte sich an so manch eine Geschichte, die der Hellhaarige ihm bereits über seine Vergangenheit erzählt hatte und mit einem Mal lachte der Falls. „Oh, sag mir bitte nicht, dass du hier irgendwelche Bekannte hast.“ Der Bogenschütze hatte es unverfänglich ausgedrückt, aber was für eine Art Bekannte er meinte, konnte man deutlich aus seinem Tonfall sowie seinem leicht anzüglichen Grinsen herauslesen. Lian nahm gegenüber Charon wirklich kein Blatt mehr vor den Mund. Warum sollte er auch? Dass der Dargin sich gerne auf die Schönheit der Welt – wie er es ausdrückte – einließ, war kein Geheimnis zwischen ihnen. Genauso, wie der hellhaarige Magier es bereits festgestellt hatte, verhielt es sich auch umgekehrt: Allzu gerne vergaß der Illusionist in seiner Konversation mit Charon, was der eigentliche Auftrag war und sein Fokus verschwamm. Es gab einfach so viel interessantere Themen als Arbeit… dennoch riss sich Lian zumindest kurzzeitig nochmal zusammen, kaum dass er zusammen mit seinem Kollegen auf dem Zentralplatz zum Stehen gekommen war. Er rieb sich nachdenklich den Hinterkopf und ließ sich die Worte des Bürgermeisters nochmal durch den Kopf gehen. Das gute Gedächtnis sowie die im Regelfall gut funktionierende Auffassungsgabe des Lockenkopfes kamen ihm hier durchaus entgegen – selbst wenn er im Alltag versuchte, sich sein helles Köpfchen nicht zu sehr anmerken zu lassen. Nicht, dass er dadurch noch irgendwelche Erwartungen bei anderen Menschen weckte! „Elfriede, Fisnik, Georg und Anna. Das waren zumindest die Namen, die der Bürgermeister genannt hat. Es sind also bisher vier Opfer gewesen, unterschiedliches Alter, unterschiedliches Geschlecht und auch sonst keine wirklichen Gemeinsamkeiten. Es sind vor uns wohl schon andere Leute mit der Klärung der Morde beauftragt worden, aber es sind keine Zusammenhänge gefunden worden, was es nur umso schwieriger macht, das Muster hinter den Morden zu erkennen. Das erste Opfer wurde in der Nähe des Krankenhauses gefunden, das Zweite in einer Seitengasse im westlichen Teil von Nanto. Nummer Drei hier, auf dem Zentralplatz und Anna… direkt am Eingangstor. Vielleicht sind dir die Fotos und Blumensträuße dort aufgefallen?“ Fragend blickte der Falls zu dem älteren Magier, dann löste sich die Hand von seinem Hinterkopf und verschwand stattdessen in der Hosentasche. Nachdenklich wiegte er seinen Kopf von rechts nach links. „Da es das letzte Opfer war, hat der Bürgermeister empfohlen, mit Familie und Bekannten von Anna zu sprechen. Ein ziemlich junges Mädchen, das in der Ortschaft als Musiktalent bekannt war. Konnte wohl so ziemlich jedes Instrument spielen, das man ihr in die Hände legte.“ Er deutete die Straße herunter und beschrieb den Weg zum Haus der Familie, bevor er sich gemeinsam mit Charon auf den Weg machte. Es waren wirklich wenige Menschen auf dem Platz unterwegs, so als würden sich die Leute davor scheuen, das sichere Zuhause zu verlassen. Kein Wunder, alle wussten immerhin, dass heute die dritte Nacht nach dem letzten Mord anbrechen würde. Die Nacht, in der ein neues Opfer gesucht wurde. Sicherlich hatten alle Einheimischen Angst davor, dass es sie selbst diese Nacht treffen könnte. Lian sah sich aufmerksam um und stutzte, als es eine leise Melodie war, die an sein Ohr drang. Er blieb stehen, wandte sich herum und blickte auf ein imposantes Gebäude, von dem er nicht auf Anhieb sagen konnte, was es eigentlich war. Kuppelähnlich erstreckte es sich vor den beiden Magiern und die großen Eingangstore luden förmlich dazu ein, ins Innere zu treten. Es wirkte wie ein ziemlich wichtiges Gebäude… aber vielmehr als das war es die Melodie, die die Aufmerksamkeit des Falls erregte. Sie klang… unheilvoll. Beinahe erdrückend. Wenn es nicht die Geschehnisse waren, die die Menschen in ihre Häuser trieb, dann wäre es diese Melodie – sie schmiegte sich auffallend perfekt in diesen trostlosen, menschenleeren Zentralplatz. Erst auf den zweiten Blick fand Lian eine Pinnwand in der Nähe des Einganges, auf denen einige nahende Aufführungen aufgelistet standen. Das hier war also eine Bürgerhalle? Und ganz offensichtlich gab es diverse Gesangs-, Tanz- und anderweitig künstlerische Auftritte, die hier aufgeführt wurden. „Ich würde wetten, dass Anna hier viel Zeit verbracht hat“, murmelte der Falls nachdenklich und wandte sich an Charon. „Vielleicht können uns hier ja Leute etwas zum Opfer erzählen?“
„Ich komme gelegentlich hierher, um zu entspannen, ja. Dieses kleine Örtchen ist ein wirklich schönes Fleckchen Erde“, nickte Charon, ehe Lians nächste Worte ihn zum schmunzeln brachten. Er zuckte mit den Schultern. „Jeder Ort ist ein guter Ort, um ein paar neue Bekanntschaften zu knüpfen“, meinte er unschuldig. „Ich habe hier schon die ein oder andere Person kennen gelernt, ja. Wenn wir mit der Quest fertig sind, stelle ich dich gerne mal ein paar Kellnerinnen vor.“ Betonung darauf, dass sie erst einmal fertig werden mussten. Es gab wenige Dinge, die die Stimmung so sehr dämpften, wie Mord es tat, und es schadete nicht, ein Held der Ortschaft zu sein, wenn man jemanden beeindrucken wollte. „Elfriede, Fisnik, Georg und Anna...“, wiederholte Charon nachdenklich und wandte sich um zu dem schwarzen Brett, das hinter ihnen hing. Er legte seine Hand auf ein Blatt, auf dem die Beschlüsse der letzten Bürgerversammlung zu sehen waren, und schob es zur Seite. Darunter fand sich eine Liste mit den Namen der Einwohner, auf der alle Anwesenden unterschrieben hatten. Das Kästchen für eine Unterschrift war leer, und als Charon guckte, zu welchem Namen er gehörte, war es Elfriede. Zu diesem Zeitpunkt war sie wohl schon tot gewesen. Die anderen drei waren später gestorben. Fisnik, Georg und... „Anna... Du meinst Anna Mally?“ Die Mundwinkel des Dargin sanken, als er realisierte, dass er die Person tatsächlich kannte. „Sie hat vor... drei Monaten, wenn ich mich nicht irre, angefangen, im Teehaus Südwind auszuhelfen. Zum Ende ihrer Schicht hin hat sie gelegentlich das Klavier gespielt. Sie war tatsächlich ziemlich gut darin.“ Ihren Namen etwas länger betrachtend verschränkte der Magier die Arme vor der Brust, versank für einen Moment in seinen Gedanken, ehe er die Augen schloss und seufzte. „Erinnere mich daran, ein paar Blumen zu ergänzen, wenn wir das Dorf verlassen.“
Elfriede, Fisnik, Georg, Anna. Ein paar Mal ließ sich der Dargin die Namen durch den Kopf gehen. In der Reihe hatten sie einen seltsamen Klang an sich. Die Stirn in Falten legend ließ Charon seine Gedanken erst einmal alle Optionen durchgehen, die ihm einfielen, auch wenn er schlussendlich entschied, dass er noch keine allzu klare oder wahrscheinliche Antwort herausholen konnte. Gemeinsam mit Lian trat er an die Stadthalle heran. „Ich bin sicher, das hat sie. Für Musikliebhaber gibt es hier in Nanto nicht viele andere Plätze“, pflichtete Charon seinem Begleiter bei, ehe er die Tür öffnete und elegant in die dunkle Halle schritt. Es war ruhig hier, wenn man von der düsteren Melodie absah, die die Halle erfüllte. Es waren kaum Leute anwesend, eigentlich nur die zwei Personen, die hier an dem Schalter saßen, um Gäste zu begrüßen und Fragen zur Ortschaft zu beantworten... und wer auch immer es war, der das Klavier spielte. Zielsicher schritt Charon hinüber zu der offenen Tür, die in den Musik- und Tanzsaal führte. „Um diese Zeit hört man hier eigentlich keine professionelle Performance. Diese sind eher abends geplant“, leitete er mit einem Lächeln ein, während er eintrat. „Wir sind wohl in die Übung eines sehr talentierten Privatspielers geraten.“ Besagter Spieler hob interessiert den Kopf, aber ohne sein Spiel zu beenden. Ähnlich dem Dargin schien er auf eine sehr elegante Haltung zu achten, was sich auch in seiner Kleidung spiegelte. Ein dunkler Anzug, genauer gesagt ein Frack, paarte sich mit einem Zylinder auf seinem langen, schwarzen Haar, während er durch seine golden gerahmte Brille hinüber zu den beiden Magiern blickte. „Nanu? Ich habe nicht mit einem Publikum gerechnet. In den letzten Tagen meiden die meisten Menschen hier öffentliche Plätze wie diesen.“ Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen, während er erst Charon, dann Lian aufmerksam musterte. Keiner von beiden hielt seinen Fokus allerdings lange. Sein Auge kehrte schnell zu den Tasten des Klaviers, auch wenn er diese selbst ohne hinzuschauen fehlerfrei bedient hatte. „Es fällt schwer, einen Ort zu meiden, an dem solch faszinierende Melodien gespielt werden. Ich habe noch nie eine Variane von Chapeauns Bräutigam in Moll gehört. Wobei natürlich auffällt, dass es mehr als eine simple Verschiebung ist... Sie haben das Stück wirklich in seinem dunkleren Ton neu interpretiert, nicht wahr?“ Nun war es soweit – das Lied verstummte. Wieder hob sich der Blick des Fremden, sah ungläubig hinüber zu Charon, ehe er sich aufhellte. „Kann es denn sein? Habe ich so fern abseits der großen Städte nun doch jemanden gefunden, der gute Musik zu schätzen weiß?“ Auch wenn er auf dem Hocker vor dem Klavier sitzen blieb, wandte sich der gesamte Oberkörper des Mannes in Richtung des Weißhaarigen. Offenbar hatte Charon es geschafft, sich seine Aufmerksamkeit zu sichern. Selbstsicher schmunzelte er. „Nun, es war wirklich keine Herausforderung, das zu erkennen“, gab er zufrieden an, während er eine Hand in seine Hüfte stützte. „Ich bin ein Fan der wahrlich schönen Künste, schon immer gewesen. Selbstverständlich schließt das die Musik mit ein. Ich fürchte, selbst im von Menschen gefüllten Herzen dieses Landes werden Sie wenige Personen finden, mit denen Sie sich besser über Musik unterhalten können als mit mir.“ Näher heran tretend warf der Dargin einen Blick auf das Notenpult des Klavieres. Es war ein Buch darauf zu sehen, doch die Noten, die darauf standen, waren nicht die, die der Mann zuvor gespielt hatte. „Haben Sie das gerade improvisiert? Oder beherrschen Sie es aus dem Kopf? So oder so bin ich beeindruckt.“ „Hah! Ich fürchte, nicht einmal jemand wie ich schafft ein solches Werk spontan. Ich habe es vor über einem Jahr geschrieben und seither sicher tausende Male gespielt“, meinte der Spieler und blätterte ein paar Seiten weiter. „Gerne demonstriere ich Ihnen noch ein weiteres meiner Werke. Hier werden Sie die Inspiration sicherlich nicht so leicht erkennen.“ Wieder tanzten seine Finger über das Klavier. Er begann mit einer einfachen Tonleiter, einmal hinauf, einmal hinunter, ehe es losging. Nachdenklich legte Charon eine Hand an sein Kinn, während er lauschte. Was für eine interessante Entwicklung...
„Hm?“ Lian wandte sich überrascht um, als Charon den Namen wiederholte. Anna Mally? Ja, jetzt, wo es der Dargin erwähnte, war Mally der Familienname gewesen, der ihm und Yuuki vom Bürgermeister genannt worden war. So, wie sich die Situation ergeben hatte, bezweifelte der Falls doch sehr stark, dass sein Freund den Namen der Verstorbenen durch den rothaarigen Diplomaten bei der Questübergabe genannt bekommen hatte. Schlussendlich war es der resignierte Gesichtsausdruck von Charon, der Bände sprach. Offensichtlich hatte der Finsternismagier Anna gekannt. Und nicht nur das: Er schien genug Sympathie für das Opfer der Mordserie übriggehabt zu haben, dass ihr Tod ihn wirklich bewegte. Dass Charon sich ungern mit Themen wie Sterblichkeit auseinandersetzte, hatte der Falls bereits damals im Knochental mitbekommen. Aber das, was sich hier zeigte, ging über das allgemeine Unwohlsein bei der Thematik hinaus. Natürlich grübelte Lian sofort, ob es da noch mehr gab. Mehr als das Klavierspiel, von dem der Dargin bereitwillig berichtete. Aber selbst der Illusionist hatte genügend Feingefühl, um an dieser Stelle zum jetzigen Zeitpunkt nicht weiter nachzubohren. „Klar“, antwortete er dem Dargin kurzangebunden auf seine Bitte, ihn daran zu erinnern, ebenfalls Blumen an die Gedenkstelle am Dorfeingang zu legen. Als der Hellhaarige die Eingangstore der Stadthalle öffnete und mit weiten Schritten eintrat, beobachtete der Falls nachdenklich den Rücken seines Freundes und schüttelte sachte den Kopf. Zuerst Yuukis Zusammenbruch beim Anblick von Annas Bild, dann das übertragene Gefühlschaos auf Lian, der die gesamte Panikattacke dadurch selbst miterleben musste. Und jetzt auch noch Charon. Wäre die Situation nicht so vertrackt, der Falls hätte glatt darüber lachen können. Eine einzige Frau aus irgendeinem entlegenen Dörfchen, deren Ableben gleich drei Magier der Gilde Crimson Sphynx hintereinander aus der Bahn wirft. Hättest du so etwas geahnt, Anna?, fragte der 20-Jährige, warf einen verstohlenen Blick gen Himmel und seufzte schlussendlich, als ihm klar war, dass er in Gedanken zu einer Verstorbenen sprach. Er sollte lieber Charon folgen – nicht dass der sich noch wunderte, wo der Falls so lange blieb.
Lian musste den Kopf in den Nacken legen, um einen Blick auf die hohe Decke zu werfen, die sich über die Haupthalle des Gebäudes wölbte. Der Braunhaarige musste kein besonderer Kenner über Akustik sein, um zu verstehen, dass die gesamte Architektur dieses Gebäudes darauf ausgelegt war, um das Bestmögliche aus den Tönen und Melodien, die hier erzeugt wurden, herauszuholen. Leider wirkte dadurch auch die düstere, orientalisch angehauchte Melodie, die das Innere der Stadthalle erfüllte, noch erdrückender, noch… deprimierender. Ehrlich gesagt hätte der Falls nichts dagegen gehabt, auf dem Absatz kehrtzumachen und diesen Ort wieder zu verlassen. Irgendwie war ihm diese Melodie ganz und gar nicht geheuer. Kurz hinter Charon kam er vor der großen Bühne der Halle zum Stehen, auf dem ein Klavier stand und er musterte den auffallend elegant gekleideten Herren, dessen Finger über die Tasten flogen. Er schien vertieft, sodass es einen Augenblick dauerte, bis er auf die Neuankömmlinge aufmerksam wurde. Die Menschen vermieden in den letzten Tagen Plätze wie diesen? „Ach, ich kann mir gar nicht vorstellen, warum…“, brummte Lian, so leise, dass hoffentlich nur sein Freund es hören konnte. Der Dargin ließ sich davon nicht beirren und schaffte es mit wenigen, gezielt platzierten Worten, die Aufmerksamkeit des Komponisten für sich zu gewinnen. Oha? Charon war ein Musikkenner? Zugegeben, ein bisschen beeindruckt hatte er damit nicht nur den Einheimischen, sondern auch den Falls. Es war also keine wirkliche Herausforderung, dieses Stück wiederzuerkennen? Nein, nur ein Banause hätte das nicht erkannt, kommentierte Lian gedanklich ironisch und musste sich zusammenreißen, um sich seine Gefühle nicht vom Gesicht ablesen zu lassen. Das Gespräch lief, da wollte er natürlich nicht dazwischenfunken.
Die weitere Vorführung der Musik, die direkt nach dem Wortwechsel zwischen Charon und dem Musiker folgte, entpuppte sich als weitaus länger, als der Falls gedacht hätte. Zuerst hatte er sich noch Mühe gegeben, in der Nähe seines Freundes zu bleiben und zumindest den Eindruck zu erwecken, er hätte Interesse oder würde die Abwandlungen, die sich im Notenspiel zeigten, verstehen und interpretieren können. Aber… irgendwann gab sogar der Dieb auf. Nur eine Sache fiel sogar dem Lockenkopf auf: Absolut jede Melodie, die dieser Mann spielte, war erdrückend und schwer. Sie hinterließ keine Leichtigkeit, keinen Frohsinn, sondern vermittelte vielmehr das Gefühl von Aussichtlosigkeit. Es rührte an irgendetwas sehr tief in Lian, an Emotionen, die er seit vielen, vielen Jahren verdrängt hatte. Gerade als der 20-Jährige sich abwenden, gar fliehen wollte, nicht nur vor der Melodie, sondern auch vor seinen eigenen Gefühlen, war es etwas anderes, das ihn innehalten ließ. Der junge Mann stutzte, runzelte die Stirn. Er… spürte etwas. Etwas, das nicht in die allgemeine Stimmung des Raumes passte. Euphorie? Ein Freudentaumel, wie ein Rausch, in den man sich hineinsteigerte. Lians Herz raste und ehe er es verhindern konnte, hielt er sich verstohlen an der Schulter von Charon fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Wie gebannt starrte der Falls mit weit aufgerissenen Augen auf den Musiker am Klavier, der sich zunehmend in seine Melodien hineinsteigerte. „Es kommt von ihm…“, murmelte der Falls geistesabwesend. Seine Magie… natürlich, sie hatte schon die Gefühle von Yuuki aufgesogen, hatte sie vollumfänglich an Lian weitergegeben. Seine Magie war immer noch da, sie war aktiv und sie gierte nach den fremden Emotionen im Raum. Der Braunhaarige fühlte sich benebelt, verlor immer mehr den Bezug zur Wirklichkeit, während das Adrenalin durch seinen Körper pumpte. Er fühlte sich wie im Wahn.
Und dann brach das Stück plötzlich ab.
Mit einem Mal schlug Lian auf dem harten Boden der Realität auf. Seine Augen, die unentwegt auf den Musiker gestarrt hatten, bewegten sich wieder, er blinzelte und holte mit einem Schlag wieder Luft. Erschrocken sah er zu Charon, hätte ihm eigentlich gerne erzählt, was vorgefallen war, doch weder konnte der Illusionist es selbst gänzlich erklären, noch wollte er das Ganze vor diesem Fremden thematisieren. Diesem Fremden… der sich auf dem Sitz herumdrehte und mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen zum Dargin blickte. Er breitete die Arme aus, bevor seine laute Stimme die Halle erfüllte: “Was sagen Sie? Ein Meisterwerk, das es sogar mit den Werken von Liszt, Brahms oder Schubert aufnehmen kann. Ein Stück, das Geschichte schreiben wird. Eine Komposition, die Spuren in der Musikgeschichte hinterlassen wird.“ Er sah erwartungsvoll zu Charon und irgendetwas blitzte in den grauen Seelenspiegeln des anderen Mannes auf. Was genau es war, konnte Lian nicht auf Anhieb zuordnen, aber es jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Irgendetwas stimmte mit diesem Typen ganz und gar nicht, davon war der Bogenschütze überzeugt.
Sense Souls TYP: Elementlose Magie ELEMENT: --- KLASSE: I ART: Passiv MANAVERBRAUCH: --- MAX. REICHWEITE: 8 Meter SPEZIELLES: --- VORAUSSETZUNGEN: Willenskraft Level 2 BESCHREIBUNG:Sense Souls gibt dem Träger die Möglichkeit, in einem Umkreis von einigen Metern stets die ungefähre Gefühlslage der Personen zu spüren, oder zumindest das aktuell stärkste Gefühl. Die Fähigkeit sorgt für ein gesteigertes Feingefühl im Umgang mit Anderen, was sich durch ein verbessertes Empathiegefühl zeigt. Der Magier nimmt Emotionen als stetiges Hintergrundrauschen wahr. Empfindet eine Person besonders stark, merkt man das natürlich deutlicher.
Was war es nur...? Etwas an diesem Musikstück verpasste selbst Charon Dargin, dem großen Stoiker, ein schwer zu dämpfendes Gefühl der Aussichtslosigkeit, ein einengendes Gefühl von Grenzen, gegen die man ankämpfen musste, ohne jedoch je Erfolg zu haben. Ja, Musik war eine Macht, die Emotionen aussenden und mitteilen, sie sogar fest in ihren Bann nehmen konnte. Das war einer der Punkte, wenn nicht der entscheidende Faktor, der sie so wunderschön machte. Dagegen war wohl nicht einmal er komplett gefeit. Eventuell lag es auch daran, dass die Klänge ihm die düstere Situation, in der er sich gerade befand, noch einmal vor Augen führte. Vier Menschen waren gestorben. Eine davon kannte er, aber die übrigen waren nicht minder wichtig. Als sich der Spieler ekstatisch zu Charon hinüber wandte, hatte der zwar seinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle, doch seine Augen glänzten feucht, während sich zumindest in ihren Winkeln je ein kleines Tröpfchen Wasser gesammelt hatte. Wäre jemand in der Lage, die Gefühle der Menschen um sich herum wahrzunehmen, würde er sogar merken, dass das nicht gespielt war – die Stimmung des Dargin war tatsächlich ein wenig gedrückt, fast traurig. Der Komponist vor ihm schien diese sichtliche Emotion jedenfalls als klares Zeichen dafür zu nehmen, dass seine Klänge Charon erreicht hatten. „Ahem... Ein bewegendes Stück. Es hat wirklich die Qualität, die es bräuchte, Generationen zu begeistern“, nickte er, auch wenn eine gewisse Melancholie in seinen Worten lag. Seine Gedanken waren wohl weniger positiv als das, was er ausdrückte, auch wenn jedes ausgesprochene Wort der Wahrheit entsprach. Der Komponist für seinen Teil war sehr zufrieden mit seinem Feedback, aber das war wohl wenig verwunderlich. Charon seufzte. „Fast eine Verschwendung, ein solches Stück in einer leeren Halle wie dieser zu spielen, nicht wahr? Es wäre eine Schande, wenn Ihre vielversprechende Karriere in einem Kaff wie diesem verendet.“ Sein Gegenüber lachte amüsiert. „Es wäre mehr als eine Schande! Es wäre ein Verlust für die Welt. Glücklicherweise wird nichts dergleichen geschehen“, meinte der Mann mit strahlenden Augen und unterstrich seine Worte mit zwei schnell gespielten Akkorden. „Es ist mein Schicksal, weiter zu gehen als jeder Musiker vor mir. Ich habe bereits eine Vorführung vorbereitet, die Alles bisher dagewesene in den Schatten stellen wird!“ „Ist das so? Ich werde ein Auge darauf haben“, antwortete Charon ruhig und trat näher an das Klavier heran, um auf die Tasten herab zu blicken. „Ich habe gemerkt, dass Sie vor jedem Lied eine Tonleiter anstimmen. Eine alte Gewohnheit, oder gibt es einen Grund dazu?“ Sein Gegenüber schmunzelte. „Wie aufmerksam! Ja, ich neige dazu, mir damit die Finger ein wenig aufzulockern“, nickte er, und Charon schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Eine interessante Angewohnheit. Lian, mein Freund. Weißt du, was eine Tonleiter ist?“ Gut möglich, dass der Dieb zumindest davon gehört hatte, es war nun wirklich kein limitiertes Wissen. Die Frage war aber ohnehin rhetorischer Natur. Charon würde es so oder so erklären. „Die gesamten Töne einer Oktave, aufwärts oder abwärts gespielt... Der Klassiker wäre C-D-E-F-G-A-H-C. Ihr fang allerdings immer mit dem E an, habe ich bemerkt.“ „Korrekt, korrekt“, freute sich der Klavierspieler und klatschte in seine Hände. „Ah, es fühlt sich wundervoll an, so einen aufmerksamen Zuhörer zu haben! Wirklich, eine Welt Unterschied zwischen den Banausen, die sonst hier leben. Kann ich euch beide für ein weiteres Meisterwerk begeistern?“ „Nichts lieber als das, normalerweise. Ich fürchte aber, unsere Pause geht bereits zu lange. Wir müssen uns für den Moment verabschieden“, meinte Charon mit einem Lächeln und trat weg von dem Klavier, den Falls zu sich winkend. „Aber keine Sorge... Nach dieser Vorstellung bin ich mir sehr sicher, dass wir uns bald wiedersehen.“
Ohne weitere Worte verließ der Dargin die Halle und holte erst einmal tief Luft, als er wieder draußen war. Die erdrückende Atmosphäre im Inneren ließ langsam von ihm ab, dennoch ging er mit einem schlechten Gefühl hier heraus. Kurz fuhr er sich mit einer Hand über das Gesicht, ehe sein Blick wieder auf das schwarze Brett fielen, das nur wenige Meter von ihnen weg stand. „Eine interessante Erfahrung. Sag, Lian... Ich habe da ein Gefühl, wenn auch wenige Beweise. Würdest du es für anmaßend halten, wenn ich basierend auf einer unbelegten Einschätzung entscheide, wo wir unseren Schutz heute Nacht fixieren sollten?“, fragte er, während er auf das Brett zutrat und seinen Blick wieder auf die Liste der Einwohner fallen ließ. „Hilf mir kurz... Ich versuche, Einwohner zu finden, deren Name mit H beginnt. Davon dürfte es nicht allzu viele geben...“
Man konnte Lian nicht nachsagen, dass er unaufmerksam war. Dass es ihm an Feingespür im Umgang mit anderen Menschen fehlte. Es war eine Fähigkeit, die ihn bereits in früher Kindheit ausgemacht hatte und etwas, das nicht wenig zu seinen Erfolgen als Dieb beigetragen hatte. Der Falls hatte genug Menschenkenntnis, um einschätzen zu können, wie sich ein Gegenüber fühlte und welche Worte man wählen musste, um andere Leute in eine bestimmte Richtung zu lenken. Aber das, was sich hier in dieser Halle offenbarte, ging über die übliche Menschenkenntnis des Braunhaarigen hinaus. Der Musiker, dessen Finger wie wild über die Tasten seines Musikinstruments flogen, strahlte etwas aus, was Lian mit seinem normalen Einfühlungsvermögen nicht hätte wahrnehmen können. Es war… ein unvergleichlicher Wahn, der über eine normale Leidenschaft für die Musik hinausging. Es war der Magie des Lockenkopfs verschuldet, dass er zeitgleich mit dem Musiker den Bezug zur Realität verlor, dass ihm nach und nach die Fähigkeit zum rationalen Denken abhandenkam. Es war vermutlich nur ein Bruchstück dessen, was dieser Musiker spürte, ein Kratzen an der Oberfläche, wobei der wahre Kern noch viel tiefer lag. Ein Gedanke, der Lian nur umso mehr erschreckte, je länger er darüber nachdachte. Irgendetwas stimmte mit diesem Typen nicht – von ihm ging eindeutig eine Gefahr aus.
Lians gemurmelte Worte waren offenbar in dem allgemeinen Geräuschpegel untergegangen, vielleicht war Charon auch selbst zu abgelenkt gewesen von der tragenden Musik, die in der hohen Halle nachklang. Woran auch immer es lag, der Finsternismagier führte das Gespräch mit dem Musiker fort, schenkte Lian nicht einmal einen besonderen Blick, ehe er auf das Klavier zutrat und sich dadurch auch der Berührung des Bogenschützen entzog. Der 20-Jährige – seines Halts an Charons Schulter beraubt – taumelte nur kurz, ehe er neben seinem Gleichgewicht auch seine Besinnung allmählich zurückerlangte. Dennoch war Lian dankbar, dass er sich weiterhin im Hintergrund halten und zuhören konnte. Er fühlte sich noch nicht bereit dazu, mit diesem mysteriösen Mann irgendwelche tiefgreifenden Gespräche zu führen… was sich nochmal bestätigte, als Charon sich zu ihm umwandte und ihn fragte, was eine Tonleiter sei. Eine… Tonleiter? Natürlich wusste der Falls die Antwort, denn auch wenn man es heutzutage gerne vergaß, so hatte das Leben von Lian vor wenigen Jahren noch ganz anders ausgesehen. Er war kein Magier gewesen, sondern ein stinknormaler Junge in einer großen Stadt. Und als solcher Junge hatte auch er – wenn auch nicht so regelmäßig, wie man es sich wünschen würde – eine Schule besucht. So oder so hätte der Falls eine Antwort geben können, wenn er vollends bei sich gewesen wäre. So verstrichen ein paar Sekunden, in denen die grünen Augen irritiert, ratlos und ein bisschen dümmlich zu Charon blickten, ehe dieser entschied, die Antwort lieber selbst zu geben, als sich diesen Blick noch länger anzutun. Als der Hellhaarige sich schlussendlich von dem Musiker verabschiedete und die Halle verließ, sah Lian noch ein letztes Mal über die Schulter zurück, sog scharf die Luft ein und wandte sich dann ebenso herum. Er wusste nicht, wie genau er es Charon erklären sollte, aber eines stand fest: Er musste seinen Freund auf das, was er mittels der Emotionsmagie wahrgenommen hatte, ansprechen.
Die Luft, von der Lian und Charon umgeben wurde, kaum dass sie die Bürgerhalle hinter sich gelassen hatte, wirkte gleich noch frischer, das Tageslicht noch heller, die Stimmung insgesamt viel… angenehmer. Ja, der Falls war froh, endlich wieder im Freien zu sein und atmete einmal tief durch, während der Finsternismagier sich mit der Hand über das Gesicht fuhr. Es war offensichtlich, dass die Begegnung an ihnen beiden nicht spurlos vorbeigegangen war. Der 20-Jährige folgte seinem Freund zum Schwarzen Brett, sah zuerst zu Charon, dann zu der Liste der Einwohner. Normalerweise hätte Lian hinterfragt, warum sie eine Person suchten, deren Name mit H begann, aber er war so abgelenkt von seinen eigenen Überlegungen, dass er gar nicht lange zögerte, um Charon zu helfen. Ohne den Blick von den Namenslisten abzuwenden, begann der Falls zu spreche. „Charon, das klingt jetzt vielleicht verrückt, aber… der Typ da drinnen, der ist eindeutig wahnsinnig.“ Er stoppte kurz und war kurz davor, darüber zu lachen, sich selbst als verrückt zu bezeichnen, um danach jemand anderen des Wahnsinns zu bezichtigen. Am Ende entschied der Falls sich allerdings dafür, ernst zu bleiben und mit der Wahrheit herauszurücken, über die er bisher mit kaum einem anderen Menschen gesprochen hatte. „Also ich meine, wirklich wahnsinnig. Ich hab es gespürt. Ich kann es dir nicht richtig erklären, es ist schon eine Weile so, dass ich… Gefühle spüre. Anfangs dachte ich, ich bilde es mir ein, aber dann passierte es immer öfter. Es ist, als würde ich diese Gefühle selbst haben. Ich kann es nicht kontrollieren, an manchen Tagen passiert es mehr, an manchen weniger. Aber heute läuft diese Wahrnehmung wirklich auf Hochtouren und ich habe eine wahre Gefühlsachterbahn in Anwesenheit von Yuuki Grynder erlebt. Aber viel wichtiger als das: Ich habe auch gespürt, was dieser Musiker beim Spielen der Musik gespürt hat. Und das war… absolut fernab jeder normalen Gefühlsregung. Er war voller Ekstase, da war überhaupt kein Bezug mehr zur Realität, das…“ Meine Güte, ich rede mich ja selbst in Rage, schoss es Lian plötzlich durch den Kopf. Offensichtlich waren diese Emotionen auch bei ihm noch nicht ganz abgeklungen. „Was ich damit sagen möchte: Wir sollten diesen Typen wirklich im Auge behalten.“ Woher sollte der Falls auch wissen, dass sein Freund genau das ohnehin schon vorhatte? Naja, immerhin würde er ihm dadurch am Ende wohl zustimmen. Anstatt das Thema noch weiter zu vertiefen, deutete der Lockenkopf fürs Erste auf die Liste und las vor: „Es gibt scheinbar drei Leute, deren Namen mit H beginnen. Hans Wagner, Heike Bernard und…“ Er stutzte und runzelte die Stirn, bevor er den letzten Namen vorlas: „… Hugo Brown. Der Bürgermeister?“ Konnte das ein Zufall sein? Lian wandte sich an Charon und rieb sich nachdenklich über den Hinterkopf. „Warum die Namen mit dem Anfangsbuchstaben H? Wie kommst du…“ Und dann, deutlich später als beim Dargin, fiel auch der Groschen beim Illusionisten. Moment – wie war das nochmal mit der Tonleiter gewesen? Das war … nein, das musste ein Zufall sein. Lian ging nochmal die Namen der bisherigen Opfer durch, erinnerte sich an das schaurige Grinsen, das die Lippen des Musikers geziert hatte und es war ein eiskalter Schauer, der dem 20-Jährigen über den Rücken kroch. Er sah wieder zu Charon, sichtlich erschrocken. „Du glaubst wirklich, dass dieser Typ…“ Er ließ den Satz unvollendet, schüttelte stattdessen verständnislos den Kopf. Es war ein Risiko, das sie eingingen. Wenn sie aufs falsche Pferd setzten, würde heute Nacht ein weiterer Mord geschehen, den sie nicht verhindern konnten. Andererseits war es die einzige Spur, die sie hatten. Und zumindest das Bauchgefühl von Lian war ziemlich eindeutig. „Es gibt drei Personen, deren Namen mit H anfangen. Wir können nicht alle drei beobachten. Sollen wir… lieber hier in der Nähe bleiben?“ Und was Lian nicht aussprach, aber damit durchaus meinte: Anstatt der möglichen Opfer, den möglichen Täter oberservieren.
Neugierig horchte Charon auf, als Lian das Wort ergriff, auch wenn sein Blick weiterhin auf das schwarze Blick gerichtet war. „Natürlich ist er wahnsinnig...“, murmelte er vor sich hin, während er die Liste nach Namen absuchte. Man musste ja wohl verrückt sein, um solche furchtbaren Taten zu begehen. Auch wenn er es tatsächlich als eine Schande empfand, dass so ein talentierter Mensch seine Fähigkeiten nicht zum Wohle der Menschheit nutzte... Er hätte sich so viele seiner Träume erfüllen können, hätte er nur einen anderen Weg gewählt. Im ersten Moment realisierte der Dargin allerdings nicht, dass sein Freund auf andere Weise zu diesem Schluss gelangt war als er selbst. Erst, als der Falls begann, von seinen neuen Empfindungen zu sprechen, löste sich Charons Blick von dem Papier und glitt langsam zu ihm hinüber, erstaunt, ungläubig. Was erzählte er da?
Nachdenklich legte der Dargin eine Hand an sein Kinn, senkte seinen Blick. „Du... spürst Gefühle“, wiederholte er, die Worte aus seinem Mund nicht weniger zögerlich als aus Lians, und hatte das Gefühl, dass ihm plötzlich sehr kalt wurde. Ein Mensch, der zu jedem Zeitpunkt wusste, was Charon Dargin wirklich fühlte, war... beängstigend. Etwas, das er schon immer nahezu erfolgreich gemieden hatte. Und jetzt meinte sein bester Freund, dass er genau diese Fähigkeit erlangt hatte. Und anstatt daran zu zweifeln, glaubte Charon jedem einzelnen von Lians Worten wie selbstverständlich. Er hätte sich wohl logisch erklären können, dass der Falls keinen Grund hatte, zu lügen, aber so weit kam es gar nicht. Ohne jedes Zögern vertraute das Weißhaar darauf, dass die Worte seines Begleiters der Wahrheit entsprachen, so irrsinnig sie auch klingen mochten. „Was für eine beängstigende... aber auch nützliche Fähigkeit“, einte er, ehe er die Augen schloss und den Kopf schüttelte. Nein, das war gerade nicht der wichtigste Punkt. Auch wenn es in seiner Natur lag, als erstes daran zu denken, was die Offenbarung des Falls für ihn bedeutete, war das hier nicht der Moment, in dem Charon nur an sich selbst denken sollte. Seinen Blick entschlossen hebend, legte er dem Braunhaarigen die Hände auf die Schultern. „Du wirkst aufgewühlt.“ Seine Worte waren sanft, genau wie seine Berührung. Erst einmal wollte er Lian, der wirkte, als hätte er fast eine Panikattacke, wieder zurück auf den Boden der Tatsachen holen. „Auch, wenn es sich so anfühlt, als hättest du keine Kontrolle, stimmt das nicht. Gefühle spürt man nicht einfach. Dein Mana muss auf die eine oder andere Weise mit den Emotionen anderer Menschen interagieren, und wenn Mana etwas macht, kann man das immer kontrollieren. Du musst nur lernen wie.“ Ob es eine gute Idee war, Lian eine Fähigkeit beizubringen, die unheimlich effektiv gegen Charon genutzt werden konnte, sollte einmal dahingestellt sein. Erst einmal ging es dem Weißhaar um das Wohlergehen seines Freundes... so seltsam sich dieser Gedanke auch anfühlen mochte. Mit dem Gefühl, dass der Schütze wieder etwas ruhiger geworden war, löste er seinen Griff und trat zurück. „Auf jeden Fall stimme ich dir zu. Diesem Mann ist nicht zu trauen.“
Ja, genau das dachte Charon. Dass der Klavierspieler dort drinnen ein recht sonderbares Gemüt hatte war leicht zu erkennen – dafür brauchte man weder Charons Beobachtungsgabe, noch Lians Gespür für Gefühle. Letzteres war Allerdings gut darin, seinen wahren Wahn preiszugeben, und Ersteres half dabei, die Brücke zu den Vorfällen zu schlagen. E, F, G, A, H, so ging die Tonleiter. Und Elfriede, Fisnik, Georg und Anna begannen mit den gleichen Buchstaben. E, F, G, A. Jemand bereitete sich darauf vor, die Tonleiter zu spielen – eine Fingerübung vor seinem nächsten Konzert, wie er es wohl nannte. „Drei sind ein Problem, ja. Nicht sehr viele, aber doch etwas zu viel. Vielleicht hätte ich Yuuki nicht gleich wegschicken sollen.“ Der Dargin seufzte, blickte dann nachdenklich in den Himmel. Schlussendlich schüttelte er den Kopf. „Nein, nein, das war schon richtig. Dennoch stellt sich die Frage, wie wir das handhaben wollen.“ Grundsätzlich hatte Lian Recht. Was machte es für einen Unterschied, ob sie die drei Opfer oder den Verdächtigen beobachteten? Die Einschränkung auf Menschen, deren Name mit H begann, funktionierte nur, wenn ihre Vermutung richtig lag. Wenn der Schuldige tatsächlich der wahnsinnige Komponist war. Da war es deutlich effizienter, direkt ein Auge auf ihn zu haben. Dennoch sah Charon seinen Freund mit einem durchdringenden Blick an. „Du hast Recht. Wenn wir richtig liegen, ist das der beste Weg“, nickte der Magier und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin der Meinung, dass wir unseren Täter gefunden haben und dass wir ihn auf frischer Tat ertappen werden, wenn wir ein Auge auf ihn haben. Aber... wenn wir falsch liegen... Wenn wir nur auf ihn ein Auge haben und unsere Vermutung falsch liegt... dann wird heute Nacht jemand sterben. Ein Tod, den wir verhindern konnten.“ Die Sonne war bereits am Sinken, tauchte die Welt in einen bedrohlich roten Schein. Ihnen blieb keine Stunde mehr, bis es dunkel sein würde. Viel Zeit hatten sie nicht, und eine Entscheidung musste getroffen werden. Eine Entscheidung, die Charon nicht alleine treffen konnte. Wenn sie sich irrten, mussten sie am Ende beide damit leben.
„Ist das ein Risiko, das du eingehen kannst, Lian?“
Bis vor wenigen Monaten hätte Lian niemals gedacht, einmal an diesen Punkt zu kommen. Dass er irgendwo im Nirgendwo stand und ausgerechnet mit Charon Dargin über seine Gefühle sprach. Obwohl... ganz so stimmte es auch nicht. Wenn man es ganz genau sah, so sprachen sie über die Gefühle des mysteriösen Musikers, die auf den Falls übergeschwappt und nur dadurch zu einem Teil von ihm geworden waren. Je länger der 20-Jährige darüber nachdachte, desto verwirrender wurde die ganze Angelegenheit. Eigentlich war es kein Wunder, dass der Lockenkopf solche Schwierigkeiten hatte, seine Gefühle richtig einzuordnen und insbesondere, mit ihnen umzugehen. Seit ihm bewusst geworden war, dass er diese mittels Magie erkannte und aus fremden Körpern aufnehmen konnte, war er sich nie gänzlich sicher, welche Emotionen tatsächlich von ihm stammten und welche nur das Ergebnis eines unkontrollierten Manaverbrauchs waren… „Beängstigend durchaus“, antwortete er dem Finsternismagier auf sein Selbstgespräch, wenngleich Lian das vielmehr auf sich selbst als auf andere Personen bezog. Dass es sich auch bei dieser Magie um eine ziemlich mächtige Waffe handeln konnte, erkannte der junge Mann nicht wirklich. Genauso wenig, wie er es bei seinen Illusionen tat. Das Einzige, das derzeit für ihn im Vordergrund stand, war die Erkenntnis, dass er viel mehr von den Menschen in seinem Umfeld mitbekam, als er eigentlich wollte. Das Leben war durchaus leichter, wenn man mit Scheuklappen hindurchgehen konnte und es war eine Unwissenheit, die er sich sehnlichst zurückwünschte. Noch immer schlug das Herz des jungen Mannes schneller und seine Gedanken kreisten, als er unerwartet eine Hand auf seiner Schulter spürte. Und genauso sanft, wie diese Berührung zustande gekommen war, hörten sich auch die Worte an, die Charon schlussendlich mit ihm teilte. Ich bin wirklich aufgewühlt, erkannte der Falls just in diesem Augenblick und während er in die violetten Seelenspiegel seines besten Freundes blickte, nahm sich Lian endlich die Zeit, um einmal tief durchzuatmen und in seinem Inneren zu sortieren, was eigentlich zu ihm selbst gehörte… und was zu dem verrückten Komponisten. Der Falls schätzte es sehr wert, dass der Dargin überhaupt nicht an seinen Worten zweifelte und den Illusionisten auch nicht dazu zwang, diese ganze ihm unbekannte Magie noch weiter erklären zu müssen, um ein Ohr zu finden. Es zeigte auch Lian, dass das Vertrauen, dass Charon in ihn steckte, über das von normalen Bekannten deutlich hinausging, sondern von echter Freundschaft sprach. Als sich der Herzschlag des Lockenkopfes wieder beruhigt hatte, hoben sich die Lider Lians wieder an. Und während der Dargin die Hand von seiner Schulter löste, rieb sich der junge Mann nachdenklich über den Hinterkopf und zuckte schlussendlich mit den Schultern. „Ich hoffe, du hast Recht. Also das mit dem Kontrollieren. Du kannst dir nicht vorstellen, wie anstrengend es im Alltag ist, immer wieder von unerwarteten Gefühlswellen heimgesucht zu werden, nur weil irgendeine wildfremde Frau mit Liebeskummer an einem vorbeigeht.“ Ja, das war tatsächlich etwas, das schon geschehen war. Noch zu gut erinnerte sich Lian an das plötzliche Bedürfnis, sich mit einer Packung Eiscreme in seine Wohnung zu verkrümeln… Wieder sah der Falls zu seinem Freund und er fühlte sich beinahe befreit, sich jemandem anvertraut zu haben. Es war so, als wäre er nicht mehr alleine mit dieser unbekannten Magie, als könnte ihm jemand helfen, die Kontrolle darüber zu erlernen. Lian spürte, dass er dem Dargin ziemlich dankbar war für sein Vertrauen und für seine Worte sowie Taten. Aber… er fand es viel zu rührselig, das vor Charon größer auszubreiten. Dafür waren sie beiden einfach nicht gemacht. Vielleicht könnte der Finsternismagier die Dankbarkeit aus Lians Blick ablesen, vielleicht auch aus der entspannten Haltung. Schlussendlich wandte der Bogenschütze aber den Blick ab. „Wir können das gerne näher thematisieren, wenn wir wieder in Aloe sind“, stellte er in Aussicht, ehe er sich wieder gewahr wurde, was er und Charon hier in Nanto noch zu erledigen hatten.
Die Tonleiter – noch immer jagte es Lian einen Schauer über den Rücken, dass jemand in diesem Dorf so wahnsinnig sein könnte, die Tonleiter mit echten Menschenleben nachspielen zu wollen. Aber es war die einzige Spur, die er uns sein Kollege hatten. Und die Spur – so irre sie auch war – wirkte für den Falls tatsächlich naheliegend. So nickte er auch auf die Zusammenfassung des Dargin hin stumm. Es war kaum möglich, alle drei Opfer zu beobachten, sehr wohl allerdings konnten sie ein Auge auf den möglichen Täter haben. Ganz gleich, welche Option, sie hatte doch immer den gleichen Verdacht als Basis. Und wenn sie mit diesem Verdacht falsch lägen, würde heute Nacht ein weiterer Mensch sterben – wie Charon unmissverständlich nochmal betonte. Lian erwiderte den durchdringenden Blick, der ihm vom Hellhaarigen zugeworfen wurde und ließ sich auch dessen Worte erneut durch den Kopf gehen. Ja, dem Falls war es zuvor bereits bewusst gewesen, dass sie hier die Verantwortung für Menschenleben trugen. Aber bis zu dem Zeitpunkt, als Yuuki sich verabschiedet hatte, war es ihm beinahe gleichgültig gewesen. Jetzt, nach den neuesten Entwicklungen, hatte sich etwas geändert. Lian wollte verhindern, dass es ein weiteres Opfer gab. Obwohl er die Menschen in diesem Dorf kaum kannte, fühlte er sich doch verantwortlich für sie und war sogar bereit, diese Verantwortung auch wirklich zu tragen. Ein merkwürdiges, beinah unbekanntes Gefühl für den Dieb, der in der Vergangenheit vielmehr in den Tag hineingelebt hatte, als sich über seine Handlungen und die damit einhergehenden Konsequenzen ehrliche Gedanken zu machen. Und doch zeugte es wohlmöglich davon, dass sogar ein Lian Falls mit der Zeit erwachsen werden konnte. Die Hoffnung starb eben zuletzt. „Wir liegen nicht falsch“, antwortete er seinem Freund schlussendlich mit sehr sicherer Stimme. Er wusste, was er gefühlt, was er selbst in Anwesenheit des Komponisten durchlebt hatte. Und genauso, wie Charon dem Falls vertraute, war es auch umgekehrt. Der Finsternismagier war es gewesen, dem die Zusammenhänge mit der Tonleiter aufgefallen waren. Und er vertraute der Beobachtungsgabe, dem Wissen und nicht zuletzt dem Erfahrungsschatz, den der Dargin mitbrachte. Sie beide hatten sich gegenseitig in ihrer Annahme, den Täter gefunden zu haben, bestärkt. Lian glaubte nicht daran, dass sie falsch lagen. Es war ein schmales Grinsen, das sich über seine Lippen zog, als er Charon zunickte. Heute Nacht würde niemand sterben. „Also ja, gehen wir es an.“
Sie suchten sich einen unauffälligen Platz, von dem aus sie die Halle beobachten konnten. Weit genug entfernt, um nicht sofort von jeder Person, die die Halle verließ, erkannt zu werden und doch nah genug daran, um die einzelnen Menschen von dort erkennen und damit auch die Zielperson ausmachen zu können. Allerdings war vor allen Dingen Zweiteres in der Praxis kaum relevant. Lian hatte geglaubt, dass das Dörfchen tagsüber bereits unbelebt war, doch je mehr sich die Sonne gen Horizont bewegte, desto mehr wurde sich der Falls bewusst darüber, was es wirklich bedeutete, von einem ausgestorbenen Örtchen zu sprechen. Die wenigen Menschen, die überhaupt noch unterwegs gewesen waren, verkrümelten sich schlagartig, als die letzten Sonnenstrahlen auf den gepflasterten Weg fielen. Und als es schlussendlich dunkel war und einzig das Mondlicht den Platz noch in ein sanftes Licht hüllte, war keine Menschenseele mehr zu erkennen.
Keine… bis auf eine einzige Gestalt, die endlich aus der Bürgerhalle trat.
Als das fahle Mondlicht auf das Gesicht der Gestalt fiel, wusste Lian sofort, dass es sich um den verrückten Komponisten handelte. Kurzzeitig befürchtete er, der Fremde hätte ihn und Charon – die beide aus eine der Seitengassen zu ihm herüberblickten – erkannt, als dieser sich geschwind eine weite Kapuze über den Kopf zog und den dunklen Umhang, den er trug, enger um den Körper schlang. Aber so schnell, wie diese Zweifel gekommen waren, verflogen sie auch wieder. Der Verdächtige drehte sich auf dem Absatz herum und hastete davon. Mit einem Seitenblick sah Lian zu Charon und wisperte in die Stille: „Da würde man meinen, jeder normale Mensch würde in der heutigen Nacht die Sicherheit eines Gebäudes einem Abendspaziergang vorziehen.“ Wortlos verständigten sich beide Magier, die Verfolgung aufzunehmen. Anders als in Städte wie Aloe oder Magnolia gab es nicht unendlich viele Straßen und Seitengassen, die sich teils kilometerweit erstreckten und eine Verfolgung dadurch deutlich langwieriger machen konnten. In Nanto lagen die Gebäude dicht beieinander, es lebten nicht viele Menschen hier und wenn man direkt ging, konnte man in wenigen Minuten von einem zum anderen Ende des Dorfes gelangen. Es dauerte daher nicht lange, bis Lian inmitten der Verfolgung aufhorchte. „Edith? Edith!“, rief eine Stimme in der Ferne. Eine Stimme, die dem Falls allzu bekannt vorkam. Genauso wie der Name… „Das ist Hugo Brown“, flüsterte er Charon zu. „Aber… was macht er hier?“ Er schüttelte den Kopf. „Er sucht nach seiner Tochter?“
„Natürlich habe ich Recht“, grinste der Dargin süffisant, als Lian sich wieder ein wenig beruhigt hatte. Bloß nicht zu lange den barmherzigen Samariter spielen, sonst warf der Jüngere ihm nur wieder vor, dass er emotional wurde. Das konnte der Schütze jetzt wohl ziemlich gut beurteilen. „Zuhause kümmere ich mich schon darum, dass du das Ganze in den Griff bekommst“, versicherte er und war grundsätzlich bereit, das Thema damit erst einmal ruhen zu lassen. „Wobei das zu zweit vermutlich schwierig wird... Wir brauchen ja jemanden, an dem du dich ausprobieren kannst.“ Der Finsternismagier wollte zumindest nicht, dass sich dieser neue Sinn seines besten Freundes allzu sehr auf ihn fokussierte...
„Wir liegen nicht falsch.“
Mit diesen Worten festigte Lian endgültig den Entschluss, den die beiden Magier getroffen hatten. Sie waren sich einig. Es gab eine klare Lösung zu dem Rätsel, das vor ihnen lag, und in dem Bewusstsein, dass ein Irrtum zu Toten führen würde, wollten sie diesem Verdacht vertrauen und ihm folgen. Was den besten Platz anging, vertraute sich Charon der Entscheidung des Falls an. Wenn es um verdeckte Operationen anging, hatte der wohl mehr Erfahrung, und so fanden sich die beiden schlussendlich in einer unauffälligen Seitenstraße wieder. „In der richtigen Gesellschaft ist so ein Spaziergang doch etwas Schönes“, flüsterte Charon zurück, ein charmantes Lächeln auf seinen Lippen, während er sich langsam aus den Schatten schälte. Er hatte kein Problem damit, selbst zu dieser Zeit noch ein wenig zu scherzen – schließlich würden sie sichergehen, dass heute kein Leben verloren ging. „... Seine Tochter?“ Charon zog die Augenbrauen zusammen. „Warum sollte sie um diese Zeit draußen sein?“ Er kannte diese Edith nicht, aber wenn sich ihr Vater solche Sorgen machte, dann war ihr Fehlen wohl ungewöhnlich, und gerade unter den aktuellen Umständen war das ein guter Grund, skeptisch zu werden. War sie herausgelockt worden? Ihrem Namen nach war das Mädchen vermutlich kein Ziel... ihr Vater aber sehr wohl. Der Mann, den die beiden Magier verfolgten, benahm sich auch nicht wirklich unverdächtig. Er hatte sich inzwischen entspannt auf einen steinernen Blumentopf gesetzt, aus dem mitten auf dem Gehweg ein großer Baum herauswuchs, und hatte eine hölzerne Querflöte aus seinem Mantel gezogen, die er nun an seine Lippen setzte, um eine Melodie zu spielen – nicht weniger düster als jene, die man bereits in der Bürgerhalle gehört hatte. Definitiv eine seltsame Aktion um diese Zeig, potenziell Ruhestörung, aber davon abgesehen nicht wirklich kriminell. Der Versuch, den Mann auf frischer Tat zu ertappen, wirkte in diesem Moment nicht so, als würde er Früchte tragen. Konnte es sein, dass sie sich einfach nur an den Verhaltensweisen eines sehr komischen, aber schlussendlich harmlosen Musikers aufgehangen hatten...?
Charons Zweifel lösten sich auf, als eine andere Person auf die Bildfläche trat. Es war niemand, den er schon gesehen hätte, aber er war sich dennoch ziemlich sicher, sie identifizieren zu können. Es war eine junge, hübsche Dame mit schlichten Kleidern, etwa im Alter der frisch verstorbenen Anna Mally. Das musste Edith sein, deren Vater noch immer suchend ausrief. Die Art, wie sie sich bewegte, wirkte seltsam träge und unsicher, schwankend, und ein Blick in ihre vom fahlen Mondlicht erhellten Augen zeigte, dass sie leer und unfokussiert wirkten. Das Mädchen war nicht ganz bei sich, da war sich Charon sicher. Ob es etwas mit der geisterhaften Melodie zu tun hatte, die der Musiker spielte...?
Warum sollte die Tochter des Bürgermeisters zu dieser ungewöhnlichen Zeit die Sicherheit ihres Zuhauses verlassen, um alleine durch die Dunkelheit zu streifen? Ja, das war eine Frage, die auch Lian nicht beantworten konnte, die ihn allerdings sichtlich in Alarmbereitschaft versetzte. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Es konnte kein Zufall sein, dass sich ausgerechnet Hugo Brown hier draußen aufhielt und nach seiner verschollenen Tochter suchte, während das gesamte Dorf den Atem anhielt und lieber untertauchte, als sich selbst in Gefahr zu begeben. Während jeder normale Mensch wusste, dass es hier und heute zu einem erneuten Mord kommen konnte. Außerdem… war er auch hier. Der Falls blickte in Richtung des vermummten Komponisten, der sich – kaum, dass er die Stimme des Bürgermeisters in der Ferne vernommen hatte – auf einer steinernen Mauer niederließ und eine Querflöte hervorzauberte, die im Licht des vollen Mondes aufblitzte. Ein Instrument? Hier und jetzt? Lian wechselte einen Blick mit Charon, ehe eine düstere Melodie an sein Ohr drang. Ein eiskalter Schauer lief dem 20-Jährigen über den Rücken. Und da dachte ich, der Auftritt in der Bürgerhalle wäre bereits gruselig gewesen, schoss es dem Braunhaarigen durch den Kopf, ehe er den Blick wieder nach vorne wandte. Die Situation stank zum Himmel, hier war eindeutig etwas faul. Und in dem Moment, als sich die Gestalt von Edith aus der Dunkelheit schälte und die junge Frau auf den spielenden Komponisten zuwankte, war Lian drauf und dran, dazwischenzugehen. Es war Charon, der den Illusionisten zurückhielt – zum Glück. Denn bisher war hier noch nichts Verbotenes geschehen. Der Falls biss die Zähne fest zusammen und unterdrückte einen Fluch, nickte schlussendlich aber und hielt sich weiterhin bedeckt. Sie mussten abwarten, wenn sie diesen Komponisten wirklich auf frischer Tat ertappen wollten. So schwierig es sich für Lian in diesem Augenblick auch anfühlte.
„Edith!“, rief erneut die Stimme in der Ferne – eine Stimme, die näher kam. Die gesuchte Frau war mittlerweile schwankend bei dem spielenden Komponisten angekommen und hatte sich zu ihm auf die Mauer gesetzt. Wenige Momente vergingen, ehe ihre monotone und auffallend nüchterne Stimme in die Dunkelheit rief: “Vater.“ Lian runzelte die Stirn, horchte genauer in sich und fühlte sich bestätigt, als er zu Charon wisperte: „Sie ist vollkommen emotionslos, nichts als Leere.“ War dieser Komponist etwa ein Magier? Konnte er die Menschen in seinem Umfeld dank seiner Magie manipulieren? Und… war ihm das eigentlich wirklich bewusst? So langsam kam Lian die Idee, dass dem Musiker das Konzept von Mana und Magie vielleicht gar nicht so recht bewusst war. Und dass er sich nur dadurch in seinem Wahn, etwas ganz Besonderes, vielleicht sogar eine Art Auserwählter zu sein, verfangen hatte. Es war keine Entschuldigung für die Menschenleben, die dieser Mann vermutlich genommen hatte. Aber… es war eine Erklärung. Natürlich dauerte es nicht lange, bis Hugo Brown auf dem Platz erschien. Er sah gestresst und besorgt aus, doch in dem Moment, als er nicht nur Edith auf der Mauer erblickte, sondern auch den Komponisten, mischte sich echte Verwirrung in seinen Blick. „Was… Edith, was machst du da?“, fragte Hugo Brown und trat noch einen Schritt näher. Immer noch spielte die Querflöte die düstere Melodie, so als wäre es zu keinem unvorhergesehenen Zwischenfall gekommen. Hugo Brown sprach weiter, setzte einen Fuß vor den anderen, den kompletten Fokus auf Edith gelegt. “Warum bist du weggelaufen? Ich… Edith, was passiert hier?“, sprach er ungeachtet der spielenden Melodie weiter und die Angst und Sorge, die sich in seine Stimme mischten, waren unüberhörbar. Er war beinahe bei seiner Tochter angekommen, als das Flötenspiel abrupt abbrach…
… und mit einem gellenden Schrei nicht Edith, sondern der Komponist von seinem Platz aufsprang. Die Kapuze rutschte nach hinten und entblößte das zu einer verrückten Grimasse verzogene Gesicht des Mannes. „WIE KANNST DU ES WAGEN MEIN STÜCK ZU UNTERBRECHEN?!“, brüllte der Komponist im Wahn und sprang auf den Bürgermeister zu, während in seiner Linken ein Dolch auftauchte. Es war nur ein Blinzeln gewesen, so schnell war die Situation plötzlich eskaliert. Lians Gedanken rasten, aber er wusste, er würde zu langsam sein. Ob Charon den Komponisten aufhalten konnte?
Es wurde ernst. Der Musiker hatte eine emotionslose Edith an seiner Seite, die offensichtlich auf die eine oder andere Weise in seinem Bann stand, und deren Vater, der auf der Suche nach ihr die Sicherheit seines Heimes verlassen hatte. So ruhig die obskure Situation auch wirken mochte, war Charon sehr bewusst, dass sich das jeden Moment ändern konnte. Ihr Verdächtiger hatte sich bereits als manischer und erratischer Mensch gezeigt, und jetzt, wo Hugo ihm so nahe kam, konnte die Situation jeden Moment eskalieren. Und natürlich tat sie das auch. Mit einem Dolch in seiner Hand stürzte der wild schreiende Komponist nach vorne, bereit, den besorgten Vater aufzuspießen, der sich in seiner Schockstarre auch nicht würde wehren können. Glücklicherweise war es der Musiker selbst, der von einem Angriff überrascht wurde, als wie aus dem Nichts eine schwarze Kugel in seinen Körper einschlug und ihn zur Seite schleuderte, sodass er auf dem Boden aufkam und die Waffe klirrend aus seiner Hand auf den Asphalt fiel.
„Es ist schwierig, Finsternis im Dunkeln zu sehen, nicht wahr?“
Mit einem überheblichen Lächeln trat Charon aus den Schatten hervor, seine weiße Mähne sich in der sanften Brise der Nacht wiegend, und zog den Bürgermeister zurück, um zwischen ihn und den sich wieder aufrappelnden Mörder zu gelangen. Dem konnte man ansehen, dass die Kugel eben ordentlich wehgetan hatte, auch wenn er es wieder auf die Beine schaffte. Seine Augen fielen kurz auf Charons rechte Hand, um die herum schon die nächsten beiden Projektile schwebten. Der Dargin hatte sich in seinem Versteck wohl bereits auf diese Konfrontation vorbereitet. „Du? Was machst du hier?“, fauchte der Mann, während er mit zornigem Blick ein paar Schritte zurücktrat. „Wieso greifst du mich an? Ich dachte, du verstehst meine Brillanz?“ „Das tue ich. Es stimmt mich traurig, einen so herausragenden Musiker hinter Gitter bringen zu müssen“, meinte der Magier mit einem sanften Lächeln und hob seine Hand, um auf den Gegner zu deuten, die wirbelnde Finsternis zum Angriff bereit. „Ich würde mich freuen, wenn das hier ohne weitere Gewalt geklärt werden kann. Wenn sie jetzt aufgeben, führe ich Sie einfach ab und sie kommen unverletzt vor Gericht. Gegenwehr ist zwecklos. Ich erwische Sie, bevor sie ihre Waffe aufheben können, und ich weiß, dass Sie mich nicht in so eine Trance versetzen können. Sie können nicht gewinnen.“ Wissen war vielleicht ein bisschen viel gesagt, aber Charon war sich durchaus sicher. Was auch immer das für eine Magie war, sie wirkte nicht so schnell, ansonsten hätte er den Bürgermeister, der keinerlei magische Kräfte hatte, auch einfach in seinen Bann ziehen können. Der war zwar ein bisschen mitgenommen, aber nicht annähernd so gehörig wie diese Edith. Gegenüber einem erfahrenen Magier war er im Nachteil, und schneller als Charons Dark Delete war er definitiv nicht.
„... Ihr habt es also bemerkt“, meinte sein Gegenüber, nun wieder etwas gefasster, während er ihn grimmig ansah. „Ihr habt Recht. Meine Musik ist der Grund dafür, dass dieses Mädchen ist, wie es ist. Es liegt daran, wie transzendent talentiert ich in dieser Kunst bin. Wer meine Melodien hört, wird mit der Zeit süchtig.“ Er lachte, trotz seiner schlechten Position, ein hämisches und überhebliches Lachen. „Die gute Anna war ähnlich. Ihr Interesse am Klavier hat sie unweigerlich zu mir geführt, auch wenn ihr leider das Talent fehlte. Sie konnte es nicht einsehen, aber glücklicherweise muss ich ihr furchtbares Geplänkel nicht länger anhören.“ Charon zog die Augenbrauen etwas zusammen. Die Kugeln, die um seinen Arm schwebten, zuckten ein wenig schneller auf und ab. „Gibst du endlich auf? Heb die Hände über den Kopf und leg dich hin, wenn ich dir nicht wehtung soll“, drohte er mit harter Stimme, doch sein Gegner hörte nicht auf zu sprechen. „Die gute Edith ist anders. Kaum hatte sie ihre gute Freundin verloren, brauchte sie etwas, um ihr trauriges Herz zu reinigen. Die letzten Tage hat sie endlos meinen wundervollen Klängen gelauscht, bis sie endlich ihre Trauer vergessen konnte. Nun ist abseits von Bewunderung nichts mehr übrig. Nur heute durfte sie nicht lauschen. Es war wichtig, dass ihre Sucht wächst. Ich wollte sie heute Nacht treffen... aus gutem Grund.“ Er lachte auf. „Und sie hat sich entschieden! Sie gibt ihren wertlosen Vater auf für die Wunder meiner Musik! Meine liebste Edith ist die einzige Person in diesem Kaff, die keine Banausin ist! Bald wird sie der Abschluss meiner Tonleiter, die größte Ehre, die sich jeder dieser Bauer erträumen könnte! Und nun wird sie mich aus dieser Misere befreien! Edith! Greif ihn an!“ Charons geweitete Augen zuckten hinüber zu dem Mädchen... das nicht reagierte. Moment, sie griff nicht an? Zu spät realisierte der Dargin, dass sein Gegner ihn hatte ablenken wollen. Schnell zog dieser seine Flöte an seinen Mund und blies hinein, und kaum erfüllten die ersten Töne die Luft, zuckte der Körper des Mädchens auf. „Mistkerl!“, knurrte der Dargin mit dunkler Stimme, einen tiefen Zorn in seinem Körper fühlend, während er die nächste Kugel abschoss. Sie jagte geradewegs auf den Komponisten zu, doch Edith sprang dazwischen, wurde schwer getroffen von dem nahezu schwarzen Projektil. „Nein!“, rief Charon erschrocken auf, seine Stimme wieder etwas weicher in seinem üblichen, geschmeidigen Klang, ehe das hämische Lachen des Flötisten den Schock schnell wieder durch Wut ersetzte. „Ah, ein wahrer Fan. Dank ihrer Treue zu mir konnte aus dieser dummen Magd endlich ein Lebewesen mit einem gewissen Wert werden. Denn wer mich verteidigt, verteidigt die Zukunft der Musik!“ Charons Körper begann zu beben, während seine Augen sich weiteten, seine Pupillen sich zusammenzogen. Er lehnte seinen Kopf vor, ließ langsam weiße Haarsträhnen über seine Augen fallen, bis sein Gesichtsausdruck nicht mehr zu erkennen war. „Ich bring dich um“, sprach er mit tiefer, rauer Stimme. Es war schon frustrierend gewesen, wie er über Anna gesprochen hatte, jemanden, dem Charon gerne zugehört hatte und mit der er das ein oder andere freundliche Wort gewechselt hatte. Aber das mit Edith war schlimmer. Sie war keine Schönheit wie die Mally, aber das war an diesem Punkt auch nicht entscheidend für den Dargin. Dieser Mann nahm einer jungen Frau alles weg – ihre Freunde, ihre Heimat, ihren Vater, sogar ihre Gefühle und ihren freien Willen. Er nutzte sie aus, verbrauchte sie und stellte das noch als etwas Gutes dar. Es stach besonders kräftig, da es schlussendlich Charon selbst gewesen war, der sie körperlich verletzt hatte. Sein Angriff hatte sie getroffen, was neben dem Zorn auch eine tiefe Reue, fast schon Scham aus seinem sonst so sicher verschlossenen Herzen hervorlockte. Er hob seine vor Zorn zitternde Hand, doch die Flöte spielte wieder und das verletzte Mädchen erhob sich trotz einer klaffenden Platzwunde an ihrem Arm wieder vom Boden, um sich schützend zwischen die beiden zu stellen. Die Zähne bleckend schnaubte der Körper des Dargin, versuchte zur Seite zu treten, um von dort aus zu schießen, aber sie stellte sich immer wieder vor den Komponisten, bis Jin – dieser falsche Charon – das letzte Projektil auflöste und sich die dunkle Energie um ihn herum legte – nicht aber seine wild ausschlagenden Gefühle.
Lian stockte der Atem. Wie in Zeitlupe spielte sich die Szenerie vor ihm ab. Der manische Musiker, der laut schreiend mit einem Dolch in der Hand vom Rand der halbhohen Mauer sprang. Hugo Brown, der nicht wusste, wie ihm geschah und somit vollkommen hilflos der Attacke des wilden Fremden ausgeliefert war. Der Falls konnte sich vorstellen, wie es weiterging: Der Stahl des Dolches, der sich seinen Weg durch die Kleidung und das Fleisch des Bürgermeisters suchte. Der Stoff, der sich innerhalb weniger Sekunden blutrot färben würde. Und schlussendlich der Körper des attackierten Mannes, der leblos zu Boden fiel. Es waren unzählige Bilder, die durch Lians Geist rasten und gleichzeitig war er unfähig, etwas dagegen zu unternehmen. Der Lockenkopf fühlte sich wie ein unbeteiligter Beobachter, der nicht mehr machen konnte, als die Hand zu heben, den Mund leicht zu öffnen und zu einem Ruf anzusetzen.
Aber es war kein einziger Ton, der die Stille der Nacht durchdrang, sondern eine manifestierte Finsterniskugel, die mit der Dunkelheit der Umgebung verschmolzen war.
Anders als Lian war Charon durchaus fähig gewesen, Hugo Brown zu beschützen. Lian fühlte sich vorgeführt und gleichzeitig dankbar, den Dargin an seiner Seite zu wissen. Ein Magier, der deutlich mehr Erfahrung und damit auch Vorbereitung mitbrachte als der Illusionist. Getroffen von der magischen Kugel ging der verrückte Musiker zu Boden, gleichzeitig fiel ihm die Waffe aus der Linken und kam klirrend auf dem steinernen Untergrund auf. In der Zeit, in der der Komponist sich wieder auf die eigenen Beine hievte, positionierte sich Charon zwischen dem Bürgermeister und dem Angreifer. Und Lian? Der hielt sich noch immer im Hintergrund, war das doch ein Ort, in dem sich der Dieb deutlich wohler fühlte. Er war niemand, der an vorderster Front stand und die Aufmerksamkeit auf sich zog - seine Fähigkeiten waren auf andere Dinge ausgelegt. Lautlos wich der junge Mann ein paar wenige Schritte nach hinten, während Charon begann zu sprechen. Mit Worten versuchte die ältere Sphynx, den Musiker zur Kapitulation zu bewegen. Ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt war. Der Musiker baute sich vor Charon auf und setzte zu einer überheblichen Erwiderung an. Er sprach nicht nur über seine Musik, nicht nur über seine Pläne und Mordabsichten, sondern… er sprach über Anna, das letzte Opfer der Mordserie. Und während Lian mit der Dunkelheit verschmolz, spürte er mit einem Schlag ein Pochen an seinen Schläfen. Irgendetwas veränderte sich, die Stimmung kippte. Aber was… warum… instinktiv kniff der 20-Jährige die Augen zusammen und hielt sich den Kopf, der plötzlich dröhnte und hämmerte. Es waren unsägliche Kopfschmerzen, von denen der junge Mann heimgesucht wurde und erst, als er das vollkommen untypische Fluchen von Charon vernahm, war dem Falls klar, woher diese Kopfschmerzen kamen.
Es war Charon. Oder vielmehr: Seine Gefühle, die explodierten.
Lian war benommen und musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht noch viel schlimmer als der Hellhaarige zu fluchen. Es war schlimmer als die Zugfahrt, schlimmer als bei der Ankunft in Nanto, sogar heftiger als der Wahn, den er wenige Stunden zuvor von dem Musiker aufgesogen hatte. Dumpf vernahm der junge Mann die Melodie, die der Komponist auf der silbrigen Querflöte spielte und sah angestrengt zu, wie Charon eine weitere Kugel abfeuerte, diese allerdings von der manipulierten Edith abgefangen wurde. Zorn, Reue, Scham – es war eine Flutwelle, die über Lian hereinbrach und die ihn ahnen ließ, in was für einem aufgewühlten Zustand sich sein Freund befinden musste. Eine Flutwelle, die den Kopf des ohnehin bereits angeschlagenen Illusionisten beinahe zerbersten ließ. Lian wurde allmählich schwarz vor Augen. Er musste sich nur in die Umarmung der nahenden Bewusstlosigkeit begeben, sich in sie fallen lassen, um diesen Schmerzen endlich zu entkommen. Aber… das wollte er nicht. Lian entschied sich bewusst dagegen, den für ihn einfachsten Weg zu gehen und so biss er die Zähne zusammen. Das hätte er früher wohl nicht so gemacht. Fuck. Ich muss was unternehmen, schoss es ihm durch den Kopf, ehe er sich in Bewegung setzte. Vorhin hatte der Dargin das Steuer an sich gerissen und Lian geholfen. Jetzt… war er scheinbar umgekehrt an der Reihe.
“So ist es richtig, Edith! Zuerst ihn, dann kümmern wir uns um Hugo Brown!“, schrie der Musiker derweil unbeirrt weiter, setzte die Flöte wieder an die Lippen und spielte die nächste Strophe der unheilvollen Melodie. Selbst wenn die junge Frau Schmerzen aufgrund der klaffenden Wunde an ihrer Schulter verspürte, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Wie eine geistlose Puppe setzte sich Edith in Bewegung, griff nach dem Dolch, der noch immer auf dem Boden lag und drehte sich danach Charon entgegen. Mit jeder Bewegung quoll weiteres, dickflüssiges Blut aus der Wunde. Lange konnte ihr zierlicher Körper das nicht aushalten, oder? Und doch schien alles so, als wolle sie angreifen, als wolle sie sich nicht von den eigenen Schmerzen zurückhalten lassen. Edith lief los.
Doch plötzlich verstummte die Melodie der Querflöte. Und mit ihr zusammen hielt auf Edith in ihrer Bewegung an.
Das Instrument flog durch die Luft, blitzte im Licht des Mondes kurz auf, ehe sie auf den Boden aufschlug und noch einige Meter weiterrollte. Erst danach war es der laute Schmerzensschrei des Komponisten, der erklang. „Sorry, aber ich bin ein zu großer Banause, um diesen schiefen Tönen etwas abgewinnen zu können.“ Erst jetzt konnte man Lian richtig erkennen. Der junge Mann stand einige Meter hinter dem Musiker, der magische Lacrima-Bogen in seiner Linken immer noch erhoben, während der dunkle Pfeil, den er abgeschossen hatte, mittlerweile aus der Schulter des Komponisten ragte. “Aber wie…“, knurrte der Getroffene und sah hinter Charon, genau auf die gegenüberliegende Seite. Dort stand Lian … ein Doppelgänger? Nein, es war eine Illusion, die sich nun nach und nach auflöste. Der Musiker war kurzzeitig sprachlos. Lian nutzte die Stille, um seine eigene Stimme weiter zu erheben. „Charon, du wirkst aufgewühlt“, rief er in die Dunkelheit hinein, seine stechenden Kopfschmerzen ignorierend. Die Melodie war unterbrochen worden, Edith schien benommen, der Musiker war aus dem Konzept gebracht worden. Es war der Moment, den sie brauchten, um ihn festzunehmen. Aber dafür… musste der Dargin wieder zu Sinnen kommen. „Reiß dich zusammen, Mann! Ich brauch dich hier!“ Die volle Stimme des Falls hallte über den Platz. Wenn es nicht funktionierte, wenn der Ältere sich nicht zusammenreißen konnte, würde Lian das sicherlich sofort dank seiner Magie spüren. Und doch… würde er ihn vermutlich nicht aufhalten können. Der Komponist war in diesem Augenblick – verursacht durch Lians Treffer – wehrlos. Und damit dem Urteil von Charon gänzlich ausgeliefert.
Phantom Mirage TYP: Elementlose Magie ELEMENT: --- KLASSE: I ART: Support MANAVERBRAUCH: 15 pro Minute MAX. REICHWEITE: 10 Meter SPEZIELLES: Jeder in Reichweite VORAUSSETZUNGEN: Willenskraft Level 2, Manaregeneration Level 2 BESCHREIBUNG: Phantom Mirage ist die grundlegendste Fähigkeit der Illusionsmagie, die Kunst seinem Opfer etwas vorzugaukeln, was in Wirklichkeit nicht da war. Aus Nichts etwas zu erschaffen muss zum Repertoire jedes Illusionisten gehören. Beim Phantom Mirage Zauber wird eine Illusion von einem unbelebtem Objekt entweder aus dem Nichts erschaffen oder das Erscheinungsbild eines bereits vorhandenen Gegenstandes wird verändert. Jenes Objekt kann dabei bis zu stuhlgroß sein, aber es ist auch möglich mehrere kleinere Gegenstände des entsprechenden Gesamtvolumens zu erschaffen oder zu manipulieren, solange sie gleichartig sind. Um das Trugbild auch realistisch erscheinen zu lassen, reagiert es auf äußere Einflüsse wie Wind und Erschütterungen dementsprechend. Die Illusion ist ein Abbild der Vorstellung des Anwenders, deswegen muss der Magier ein klares Bild von dem zu beschwörenden Gegenstand im Kopf haben, ansonsten wird die Illusion dementsprechend schwammig ausfallen. Weitere Konzentration ist nicht mehr nötig nachdem das Trugbild steht.
Beherrschung:
Willenskraft Level 4, Manaregeneration 4, Manaverbrauch 50 pro Minute: Ab dieser Stufe ist es dem Illusionisten möglich einen Gegenstand von der Größe einer Pferdekutsche zu erschaffen oder zu manipulieren. Willenskraft Level 6, Manaregeneration 6, Manaverbrauch 150 pro Minute: Ab dieser Stufe ist es dem Illusionisten möglich einen Gegenstand von der Größe eines Hauses zu erschaffen oder zu manipulieren.
Es war unendlich frustrierend, so nah an diesem Abschaum zu stehen und nichts tun zu können, um ihn zu bestrafen. Nicht, ohne die unschuldige Frau anzugehen, die durch Magie dazu gezwungen wurde, ihn zu verteidigen. Es war umso erzürnender, dass dieser Wahnsinnige glaubte, ihn ausmanövriert zu haben. Nur, weil sich der Dargin für den Moment weigerte, Edith zu verletzen, dachte er, sie hätte eine Chance, ihm das Leben zu nehmen? „Du willst H und C in der gleichen Nacht spielen? Das Tempo deiner Melodie ruinieren? Du bist erbärmlicher als ich dachte“, knurrte Jin. Auch wenn seine Augen verdeckt waren durch seine langen, weißen Haare war an seinen gebleckten Zähnen deutlich zu erkennen, wie sauer der Gesichtsausdruck des Dargin wirklich war. Wie konnte dieser erbärmliche Wurm denken, er könne diesem größten aller Magier auch nur einen Kratzer zufügen? „Versuch es doch!“, forderte seine wütende Stimme lautstark heraus. „Komm her, damit ich dir jedes deiner Gliedmaße einzeln ausreißen kann, du widerliche Kakerlake!“
Während die beiden Männer sich mehr oder minder in einem Stillstand gegenüberstanden, während Charon noch überlegte, wie sehr er bereit war, der unschuldigen Frau wehzutun, hatte sich Lian bereits in Aktion gesetzt. Ein Pfeil, den nicht einmal der Dargin selbst vorhergesehen hatte, grub sich zielsicher in die Schulter des musikalischen Teufels, der jaulte und seine Flöte fallen ließ. „Hahaa! Beeindruckend, Lian!“, rief Jin aus, hämische Freude in seiner Stimme, während er sich bereits auf den Weg machte. Er lief nicht ganz gerade auf seinen Gegner zu, sondern nahm eine kleine Kurve, die es ihm erlaubte, an dem rollenden Instrument vorbei zu laufen und darauf zu treten, es unter seinem Schuh knackend zerbrechen zu lassen, ehe er bei einer sehr irritiert und unsicher wirkenden Edith ankam. Nun, da sie sich nicht mehr aktiv für den Hypnotiseur einsetzte, war es ein Leichtes, sie – etwas unsanft, aber ohne ein Verschlimmern ihrer Verletzung zu riskieren – zur Seite zu schieben. Ohne jede Eleganz, ohne darauf zu achten, wie es nach außen hin aussehen konnte, holte Jin aus und schlug seinem Feind kraftvoll seine Faust ins Gesicht, sodass dessen Nase knackte, zu bluten begann, während er zurückgeschleudert wurde und erneut aus dem Asphalt landete. Wieder versuchte er, sich aufzurichten, doch der Magier stand bereits neben ihm, um ihm kräftig in den Magen zu treten.
„Also bitte, Lian. Ich bin doch nicht aufgewühlt. Mir ging es nie besser!“, rief das Weißhaar sauer aus, während es mit noch zwei weiteren Tritten nachsetzte. Mit einem Grinsen stellte er seinen Schuh auf das Gesicht des Musikers, hielt diesen davon ab, sich noch einmal aufzurappeln, während Charon selbst zu Lian hinüber starrte. Wären seine Augen sichtbar gewesen, hätte man darin wohl die sadistische Freude gelesen, die auch im Rest seiner Mimik und in seiner Haltung deutlich zu sehen waren. Sie passte zu den hervor strömenden Gefühlen, die Lian wohl wahrnehmen musste: Ein tiefer Zorn, der ausgelebt werden wollte, aber nur eine Schicht darunter eine Glückseligkeit, ein Gefühl der Freiheit, das davon kam, sich selbst nicht zu binden. Sich einmal gehen zu lassen. Charon Dargin achtete darauf, jedes seiner Gefühle stets an einer engen Leine zu halten. Jin konnte trotz all seines Hasses gar nicht anders, als diesen Moment der Ungebundenheit in vollen Zügen zu genießen! Um seine rechte, erhobene Hand herum sammelte sich dunkle Energie, während er wieder hinab blickte auf den Serienmörder, den er erwischt hatte. „Du erfreust dich also am Leid anderer, ja? Wie krank muss ein Mensch eigentlich sein, um andere für eine Tonleiter zu töten? Eine verdammte Tonleiter, Mann! Das wären anderthalb Monate, bevor du mit der Melodie überhaupt anfängst, du unsäglicher Schwachkopf! Und dafür so viele Menschenleben zu opfern... Würde man dich hier und jetzt töten, es wäre nicht genug Strafe für eine Kreatur wie dich.“ Einmal trat Jin noch auf die Nase des Mörders, drehte seinen Fuß leicht nach links und rechts, um sie darunter knirschen zu hören, während sich in seiner Hand ein großer Kriegshammer aus purer, wabernder Finsternis bildete. Nur zögerlich nahm er den Fuß wieder von seinem Feind herunter. „Was für ein Glück, dass ich ein besserer Mensch bin als du, nicht wahr? Ich töte nicht, so sehr ich dich auch tot sehen will. Dafür habe ich diesen Zauber hier entworfen, hahaha!“ Den Griff mit beiden Händen packend, hob der Dargin die Waffe über sich, holte aus, bereit zum Zuschlagen. Der düstere Hammerkopf schwebte bedrohlich über den beiden. „Ein perfektes Beispiel angewandter Magie, geschaffen von dem größten Genie unserer Zeit. Die Finsternis, aus der dieser Hammer besteht, wird deinen Körper komplett unbeschadet lassen“, erklärte er, sein Grinsen breiter, hämischer werdend. „Dennoch spürst du jeden Schlag. Je härter ich zuschlage, desto mehr Schmerzen hast du. Wenn ich einen Knochen brechen könnte, spürst du deine Knochen brechen. Weißt du, was das bedeutet? Wenn ich deinen Kopf einschlage, dann wird es sich anfühlen, als würde dein Schädel zerspringen. Als würden sich die Splitter deiner eigenen Knochen tief in die graue Masse deines Hirnes bohren, bevor ich auch das zu Brei zerschlage. Nur die Erlösung des Todes wird nicht kommen. Du wirst jedes Stück dieser Schmerzen durchleben bis zu dem Moment, in dem dein Hirn glaubt, nicht mehr zu funktionieren. Du wirst glauben, voller Leid gestorben zu sein... bis du in deiner Zelle wieder aufwachst, die Außenwelt nichts sehend außer deinem nahezu unverletzten Körper. Niemand wird je die Folter erahnen, die du durchlebt hast, und ich werde der strahlende Held sein, der ohne auch nur eine Person zu verletzen einen gefährlichen Mörder zur Strecke gebracht hat. Das ist die Geschichte, die wir heute erzählen. Also stirb für mich.“ Es war ein lautloser Schwung, der den Hammer des Dargin auf den Kopf des Musikers niedergehen ließ. Es gab keinen Knall, keinen lauten Aufprall, als die Finsternis nicht nur auf dem Schädel aufschlug, sondern geradewegs hindurch drang, bis der Boden im Weg war, der ganze Kopf umhüllt von der wabernden Finsternis, ehe diese sich langsam auflöste. Wie angekündigt... war der Mann K.O., würde wohl auch in den nächsten Stunden nicht aufwachen. Erleichtert atmete Jin aus, ließ all seinen übrigen Frust in die Luft um ihn herum entweichen. Dieser eine Hieb, kombiniert mit den scharfen Worten davor, war so befreiend gewesen. Es fühlte sich an, als wäre all der aufgestaute Zorn plötzlich vergangen. Langsam führte er eine Hand an sein Gesicht, schob es unter seine Haare, um diese in einer geübten Bewegung nach oben und hinter sein Ohr zu streichen. Sie waren nicht dafür da, sein Gesicht zu verdecken, also sollten sie das auch keinen Moment länger tun. Wieder kamen die sanften, violetten Augen zum Vorschein, die zu Charon Dargin gehörten, und sahen aufmerksam hinüber zu Lian Falls. Für ein paar Momente blieb das Weißhaar komplett ruhig, ehe sich ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen zeigte.
„Siehst so aus, als hätten wir es geschafft. Der Mörder ist gefasst und nicht eine Person ist gestorben.“ Seine Stimme war ruhig, entspannt, wie man es von ihm gewohnt war. Weich wie Samt und unschuldig, als wären die letzten Minuten gar nicht geschehen. Auch sein Gemüt war komplett ruhig. Stoisch. Wo eben noch Wut, Anspannung und Aufregung in der Luft um den Dargin gelegen hatten, war er nun... vollkommen entspannt. Nicht einmal sonderlich erfreut über den Sieg, den er errungen hatte. Er war einfach... wie immer. Sein Lächeln fühlte sich in diesem Moment wohl oberflächlicher an denn je. „Siehst so aus, als hätten wir unser Happy End erreicht...“
Lian hatte gehofft, dass seine laute Stimme ausreichen würde, um zu seinem Freund durchzudringen, um ihn wieder zu Sinnen kommen zu lassen. Aber… just in dem Augenblick, als der hellhaarige Magier sich in Bewegung setzte und mit einem harten Tritt die kostbare Querflöte des verrückten Musikers in zwei Teile zertrennte, wusste der Falls, dass diese Hoffnung vergebens war. Es war nicht nur die erneute Welle von überkochenden Gefühlen, die dem Braunhaarigen klarmachten, dass er auf verlorenem Posten kämpfte – spätestens in dem Augenblick, als der Dargin den Gegner mit der bloßen Faust traf und zu Boden schickte, war es eindeutig. Ganz gleich, ob dieser Mann Leben genommen hatte, er war kein Kämpfer und hatte ohne sein Instrument und ohne den Schutz Ediths nicht den Hauch einer Chance im Kampf gegen zwei echte Magier. Es hätte gereicht, ihn zu Boden zu schicken, um ihn danach festzunehmen und ihn dann abzuführen. Aber Charon… er trat nach, traf mit der Fußspitze mitten in die Magengrube des wehrlos am Boden liegenden Gegners, sodass diesem sämtliche Luft aus den Lungen gepresst wurde. „Charon!“, rief Lian angestrengt aus, seinen hämmernden Kopf ignorierend und trat einen beinahe drohenden Schritt auf seinen Freund zu, als dieser weiter auf den Mann eintrat. Was geht hier ab?, fragte sich der Falls, denn das hier war ein Anblick, der ihm gänzlich unbekannt war. Ausgerechnet der sonst so kontrollierte Charon Dargin schien sich überhaupt nicht mehr im Griff zu haben, war eingehüllt in einen Zorn, der aus den tiefsten seiner Seele ausgebrochen sein musste. „Es ist nicht nur Zorn…“, stellte der Illusionist allerdings kurz darauf fest, als er – in Ermangelung weiterer Möglichkeiten – endlich zuließ, sich genauer auf die wahrgenommenen Emotionen des Kollegen zu konzentrieren. Da war auch noch… Glück, Freude und Freiheit. Dem 20-Jährigen lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, erinnerte ihn diese Mischung der Emotionen vage an den verrückten Musiker, der jetzt mit blutender Nase und aufgeplatzter Lippen am Boden kauerte und um sein Leben fürchtete. Ja, Lian hatte es früher manches Mal angedeutet, hatte Witze darüber gemacht, war vielleicht sogar genervt davon gewesen. Aber anders, als es in der Vergangenheit der Fall gewesen war, traf ihn jetzt die entsetzliche Erkenntnis: Charon ist verrückt Zumindest ein Teil von ihm. Jener Teil, den der Finsternismagier im Alltag offensichtlich stets unterdrücken und hinter der freundlichen Fassade verstecken konnte. Der Teil, der sich in der heutigen Nacht an die Oberfläche gekämpft hatte und vielleicht das erste Mal seit Monaten, wenn nicht Jahren, endlich wieder tun und lassen konnte, was er wollte. Während sich der Kriegshammer aus purer Finsternis in der rechten Hand des älteren Magiers bildete, war es nun Lian, der vom Entsetzen gepackt wurde. Ja, dieser Musiker hatte es verdient, bestraft zu werden. Vielleicht hatte er auch den Tod verdient… aber auf diese Weise? Er konnte sich nicht vorstellen, dass es das war, was Charon wollte. Und doch fiel dem Falls absolut nichts ein, womit er den Dargin hätte aufhalten können. Außer… die hellgrünen Augen sahen hinab zu dem schwarzen Bogen, den er selbst immer noch in den Händen hielt. Sollte er… sollte er die Waffe gegen Charon erheben? Um ihn davor zu stoppen, etwas zu unternehmen, was er später wohlmöglich bereuen würde? Lian sah zu Hugo Brown, der zwar zu seiner Tochter geeilt war, aber das Szenario genauso entsetzt wie der Illusionist beobachtete. Es gab Zeugen – sie würden sich gegenüber dem Gildenleiter für diese unverhältnismäßige Brutalität rechtfertigen müssen. Wenngleich Lian es egal war, was sein Onkel von ihm dachte, war das bei Charon wohl kaum der Fall, oder? Mit einem hämischen Grinsen hob das Weißhaar die dunkle Waffe an, schwang sie schlussendlich über den schutzlos dargebotenen Kopf des Musikers. Hugo Brown war es, der sichtlich zusammenzuckte, scheinbar darauf vorbereitet, gleich eine zerspringende Schädeldecke beobachten zu können, aber… nichts dergleichen geschah. Der Bürgermeister atmete verstohlen auf, nahm seine verwundete Tochter in den Arm und schien erleichtert.
Aber Lian wusste es besser.
Selbst wenn man es nicht sehen konnte, man konnte es spüren. Die Höllenqualen, die dieser Komponist durchstand, bevor er endlich in die Bewusstlosigkeit entlassen wurde. Vermutlich war es nur ein Schatten von dem, was dieser Mann gerade durchstehen musste und doch reichte es aus, damit die Beine des Falls den Halt verloren. Der Bogen in seiner Hand löste sich einfach auf und er fiel hart mit den Knien auf den steinernen Untergrund, während die Lunge ihm den Dienst versagte. Erst mit mehreren Sekunden Verspätung, als der Musiker sich endgültig vom Diesseits verabschiedet hatte, konnte der Falls wieder atmen und sog gierig die Luft ein, wie ein Ertrinkender, der endlich wieder die Wasseroberfläche erreicht hatte. Den Blick gen Boden gesenkt, war es ein Leichtes den Schock zu erkennen, unter dem Lian immer noch stand, bis er die Augen schloss und die Zähne zusammenkniff.
Der 20-Jährige ermahnte sich selbst dazu, sich zusammenzureißen, weshalb er mühsam zurück auf die Füße kam. Gerade rechtzeitig, um die ruhigen und samtig weich ausgesprochenen Worte seines Kollegen zu hören. Lächelte er? Sprach er wirklich von einem Happy End? Lian konnte es nicht glauben, doch anstatt etwas zu sagen, trat er auf seinen Freund zu, bis er kurz vor ihm stehenblieb. Schweigend blickte er ihm in die Augen und suchte nach irgendetwas, das darauf hindeutete, dass der Dargin verstand, was das eben eigentlich gewesen war. Gleichzeitig bemühte sich Lian darum, die Gefühlswelt des Finsternismagiers zu ergründen, aber tatsächlich war der Wahn von zuvor einfach verschwunden, gemeinsam mit allen anderen extremen Emotionen, die eben noch zu spüren gewesen waren. Zurückgekrochen in die tiefen seiner Seele, schloss der Falls gedanklich, ehe er mindestens genauso ruhig wie Charon erwiderte: „Wen von uns beiden möchtest du verarschen?“ Als nicht sofort eine Antwort folgte, runzelte Lian die Stirn. „Spar dir das Lächeln. Das eben, das war nicht normal. Keine Ahnung, wer oder was da eben zum Vorschein gekommen ist, aber du… du hast deine verdammte Kontrolle verloren, Charon“, warf er ihm mit gedämpfter Stimme vor. „Es bringt nichts, mir irgendetwas vormachen zu wollen. Ich habe es genau gespürt. Und wenn ich nicht dazwischengegangen wäre, hättest du sie auch noch angegriffen.“ Unauffällig deutete Lian aus dem Blickwinkel auf Edith, die immer noch in den Armen ihres Vaters lag und allmählich wieder zu Sinnen kam. „Wer weiß, wen noch. Dafür hast du Yuuki den Auftrag abgenommen? Wie hättest du das Aram erklären wollen?“ Er schüttelte sachte den Kopf, hielt sich dann mit der Rechten an die Schläfe, die sich allmählich von den schrecklichen Schmerzen erholte, die ihn heimgesucht hatten. Nur beiläufig streifte sein Blick dabei den bewusstlosen Musiker am Boden. Lian wusste, dass das viele Blut in seinem Gesicht schlimmer aussah, als es in Wirklichkeit war, dennoch: „Das, was du mit ihm gemacht hast… scheiße, das war…“ Der junge Mann musste sich unterbrechen, denn plötzlich näherten sich Schritte. Und bevor irgendjemand das Gespräch zwischen den beiden Magiern, das eindeutig nicht für andere Ohren bestimmt war, mithörte, drehte sich Lian lieber herum und fand sich Angesicht zu Angesicht mit Hugo Brown wieder. Auch er sah auf den Mann am Boden hinab. “Lebt er noch?“, fragte er beinahe unsicher nach und als der Falls mit einem stummen Nicken bestätigte, ergänzte der Ältere: “Ich hätte das nie für möglich gehalten. Dieser Mann lebt schon viele Jahre in diesem Dorf, Edith hat oft von ihm erzählt, aber auch Anna, wenn sie bei uns zu Besuch war. Sie haben seine Musik tatsächlich geliebt. Dass ausgerechnet er diese beiden Mädchen und so viele andere Unschuldige auf dem Gewissen hat. Dass er… auch mich…“ Hugo Brown holte tief Luft, aber es gelang ihm nicht, gänzlich zur Ruhe zu kommen. Wie auch? Lian machte dem Bürgermeister keinen Vorwurf, immerhin war er nur knapp dem Tode entkommen. “Ich muss Edith in ein Krankenhaus bringen. Bitte, nehmt den Mann mit, übergebt ihn den Wachen, es ist mir gleich. Wir alle werden lange genug brauchen, um zu verarbeiten, was hier in Nanto geschehen ist.“ Hugo Brown sah zu Lian, dann zu Charon und neigte den Kopf. “Ich danke euch Magier für eure Hilfe. Sollte jemals wieder ein Unheil Nanto heimsuchen, weiß ich, an wen ich mich wenden kann. Auch wenn ich inständig hoffe, dass es zu diesem Tage niemals kommen wird.“ Hugo Brown wandte sich ab, kehrte zu seiner Tochter zurück und stützte diese, ehe sie beide mit der Dunkelheit der Nacht verschmolzen.
Ob Charon wohl verrückt war? Das Wort war ein wenig hart gewählt. Ja, es lag ein gewisser Genuss darin, ausnahmsweise mal die negativen Gefühle auszuleben, die sich so anstauten, aber schlussendlich war er trotzdem ein rationaler, guter Mensch. Davon abgesehen... war das nicht Charon. Auf keinen Fall war das Charon. Zu glauben, dass so ein Verhalten von Charon ausgehen konnte, das war verrückt! Aber nicht Charon. Charon war gesund. Charon ging es gut. Es gab keinen Fehler, keinen Tadel, keine Schwäche an dem perfekten Charon Dargin.
„... Lian, beruhige dich.“ Charons Stimme war ruhig, aber bestimmt, als er seinen Freund mit einem direkten, ernsten Blick ansah. Dann setzte er ein Lächeln auf, blickte hinüber zu den beiden Zivilisten. „Lass uns erst sichergehen, dass niemandem etwas passiert ist. Wir können in Ruhe sprechen, wenn wir alleine sind, in Ordnung?“ Edith und vor Allem Hugo schienen sich ganz schöne Sorgen zu machen, das war ziemlich offensichtlich. Aber es gab keinen Grund zur Sorge: „Natürlich, er lebt. Er ist nur für den Moment außer Gefecht gesetzt, damit wir ihn den Behörden übergeben können“, meinte der Dargin sanft, aber sicher. Trotz Allem, was passiert war, gab er sich Mühe, mit seiner entspannen und höflichen Natur das Vertrauen in die Magier von Crimson Sphinx aufrecht zu erhalten. Es schien zu funktionieren. Ihnen wurde Dank ausgesprochen, der Bürgermeister meinte sogar, dass er sich wieder an sie wenden würde. „Wir stehen Ihnen jederzeit gerne zur Seite“, nickte Charon und legte eine Hand auf seine Brust, um das Gefühl dahinter hervorzuheben.
Nachdem Hugo und Edith den Heimweg angetreten hatte, formte Charon wieder einen Zauber, den Lian bereits kannte: Ein Pentagramm entstand vor seiner linken Hand, aus dem zwei schwer verkennbare Tentakel kamen. „Ich danke dir, Cthylla“, lächelte das Weißhaar, während sie den Kriminellen anhob, sodass sie ihn leichter transportieren konnten. Im Laufen fiel Charons Blick auf den Freund an seiner Seite. „Lian... ich weiß nicht, was genau du glaubst, mitbekommen zu haben. Eventuell hat dir deine besondere Fähigkeit ein etwas... übertriebenes Bild vermittelt“, meinte er und legte sanft eine Hand auf die Schulter des Falls. „Aber ich kann dir eines versichern: Ich hätte Edith nichts getan. Ich gebe einen gewissen Kontrollverlust zu, aber... ich bitte dich, einen etwas objektiveren Blick auf die Situation zu werfen.“ Lian war offensichtlich aufgewühlt – etwas, das man ihm nur schwerlich verübeln konnte. Charon würde ihm sein vorschnelles Urteil nicht übel nehmen, auch wenn es nur fair war, ihm zuzuhören. So viel Vertrauen war ihm der Schütze doch wohl schuldig. „Ich habe diesen Mann nicht getötet. Ich habe ihn kaum verletzt. Er wird aufwachen mit ein wenig Schmerz in der gebrochenen Nase, aber ansonsten ohne Nachwirkungen. Es gibt mit Sicherheit Menschen, die der Meinung wären, dass das, was ich getan habe, noch zu gnädig war.“ Der Dargin hatte Zauber, mit denen er Menschen verletzen konnte. Schwer verletzen, wenn es möglich war, vielleicht sogar mehr. Dennoch hatte er sich darauf fokussiert, einige zu entwickeln, die ohne Wunden zu reißen in der Lage waren, Gegner außer Gefecht zu setzen, und hatte sich aktiv dafür entschieden, einen dieser Zauber selbst in dieser Situation zu nutzen. Er seufzte. „Dieser Mann hat Menschen getötet, ohne jede Reue, hatte sogar vor, noch mehr Leben zu nehmen. Viele mehr. Er hat jemandem das Leben genommen, den ich kannte, Lian, und mehr als das: Er hat diese Menschen wie Spielzeuge behandelt und mich dazu gebracht, jemanden zu verletzen, den ich eigentlich beschützen wollte. Dir ist vielleicht nicht bewusst, wie wichtig es mir ist, dass es den Leuten in meiner Umgebung gut geht, aber... das ist es. Ich wollte, dass Edith unbeschadet aus dieser Begegnung herauskommt, aber sie hat sich für ihn verletzen lassen... und er konnte nur darüber lachen. Ich bin ein geduldiger Mensch, Lian, aber... es gibt Verbrechen, die selbst ich nicht vergeben kann. Kannst du mir wirklich, ehrlich in die Augen sehen und mir sagen, dass dieser Mann das, was ihm heute passiert ist, nicht verdient hat?“
Entschlossen sah der Dargin Lian in die Augen, hielt seinem Blick stand. Sein Verhalten mochte nicht in jeder Hinsicht korrekt gewesen sein, zumindest nicht, wenn man ihm alles davon anlasten wollte. Aber nachvollziehbar war es doch wohl. Charon Dargin würde von diesem Punkt nicht zurückweichen. Er würde aber auch nicht darauf herumreiten. Mit dem Ende des Themas zeigte er wieder ein Lächeln. „Alles in Ordnung. Ich denke, das heute war für uns beide eine aufreibende Nacht“, meinte er und nahm seine Hand zurück, um Lian in Richtung einer Herberge zu deuten. „Ruhen wir uns aus, dann sind wir morgen wieder frisch. Ich denke, wir freuen uns beide, wenn wir wieder zuhause sind.“ Mit einem Nicken trat er auf das Gasthaus zu. „Übernimmst du das Zimmer heute? Ich zahle dann nächstes Mal für uns...“
Mit dem Pfeifen der Lok fuhr der Zug in den Bahnhof ein, auf den Eohl und Thana gewartet hatten. Inmitten grüner Landschaft stach der kleine Bahnhof deutlich hervor, vor Allem, da er nicht besonders hübsch aussah. Ein hässliches, ungepflegtes Produkt der Menschen, die sich hier breit gemacht hatten. Viel besser sah auch die Kleinstadt dahinter nicht aus, aber ob sie es wollten oder nicht, die beiden Crusaderinnen waren endlich angekommen. Zur Beruhigung einmal tief ein- und ausatmend steckte Eohl das kleine Spiegelfragment weg, aus dem sie gerade eine kleine Ergänzung zu ihrem Outfit entlassen hatte: Ein schwarzer Umhang, der den Großteil ihres Körpers umhüllte, inklusive einer Kapuze, die sie sich mit beiden Händen tief ins Gesicht zog. Niemand durfte erkennen, wer hier durch die Stadt spazierte, ansonsten würde ihre reine Anwesenheit den Erfolg der Quest gefährden. Eventuell konnte man noch immer erkennen, dass sie relativ dunkle Haut hatte, aber davon abgesehen dürfte die Identität der Yihwa nun ausreichend verschleiert sein. “In Ordnung… wie sollen wir anfangen?”, fragte sie leise, ihre Stimme so unscheinbar, dass selbst Thana sie nur hören konnte, weil sie so dicht beieinander standen. Eohl Yihwa kannte eigentlich keine Angst… aber die Chance, ihre Gilde zu enttäuschen, war ihr in diesem Moment mehr als bewusst. Das wollte sie auf jeden Fall vermeiden, aber bei friedlicher Konfliktlösung war sie eben auch ein bisschen überfragt. “Ich habe noch nie jemanden evakuiert…”
Mehr zu wissen als Andere war nützlich, keine Frage. Doch nur solange man von tatsächlichem Wissen sprach. Was das betraf war die Magierinnen pari. Allerdings hatte Thana auch wirklich keine Lust mehr das Thema weiter zu diskutieren. So entschied sie sich dazu einfach nachzugeben und Eohl ihr Lieblingshobby nicht weiter madig zu machen. Nicht, dass sie das ohnehin irgendwie hätte schaffen können. Wie sonst auch, wenn es um das Thema Schicksal ging, hielt sich die Magierin wieder mehr zurück. Als es jedoch darum ging die Quest zu planen, hatte sie schon gewisse Vorstellungen. Vorstellungen, die nicht so denen der Assassine entsprachen… Unsicher fragte Eohl, wie ihre Freundin sich das Ganze vorstellte und diese war natürlich bereit ihre Idee zu erläutern. “Ganz einfach. Diese Weltraumbrocken stellen doch eine Gefahr dar, oder nicht? Sie fallen vom Himmel und könnten jeden treffen. Wir…“ Die Magierin seufzte kurz, ehe sie fortfuhr. “Wir sind doch auch nur aufgrund Itamis Vorhersage sicher vor der Gefahr.“ Diese Worte auszusprechen schmerzten sie ganz tief im Inneren, zumindest ein wenig. “Alles was wir machen müssen ist also die Leute in Aufruhr zu versetzen. Sie müssen wissen, dass sie in Gefahr sind. Daran müssen wir jeden Zweifel beseitigen, verstehst du? Wie auf dem Diplomatenschiff. Wir müssen für Chaos sorgen, dann glauben sie uns viel schneller. Wir treiben sie dann aus der Stadt wie Schäfchen von der Weide…“ Das Grundkonstrukt des Plans stand sehr schnell. Aber auf die Ausführung würde es ankommen. Nachdem der Zug in den heruntergekommenen Bahnhof eingefahren und dort zum Stehen gekommen war, stiegen die beiden Damen natürlich sogleich aus. Die Frage, die in ein Cape gehüllte Eohl stellte, war keine schlechte. Ja, wie fingen sie denn nun an? Ein nachdenkliches “Hm.“ stieß Thana zunächst aus. Sie ließ ihren Blick ein wenig über die Szenerie wandern. Auf das Geständnis ihrer Kollegin reagierte sie mit so etwas wie Zustimmung. “Ich auch nicht…“, sprach sie weiter nachdenklich, ehe ihr Blick schließlich an einem auffälligen Gebäude hängenblieb. Eine Kirche. Dorfmenschen waren doch gerne mal gläubig, oder nicht? “Vielleicht nutzen wir die Weissagung.“, schlug sie schließlich vor. Dabei schenkte die Mahaf ihrer Freundin ein verschmitztes Lächeln. “Wir könnten die Worte als die ihrer Gottheit ausgeben. Wenn wir sie dabei ein wenig abändern, sie dramatischer gestalten und ihnen eine finstere Botschaft verleihen, dann wäre der erste Stein sicher schnell ins Rollen gebracht. Wir müssten die Prophezeiung nur deutlicher darstellen als sie eigentlich ist. Sie müssen die Gefahr sofort erkennen und sich nicht noch damit rumschlagen müssen die Worte zu deuten.“ Ja, sie mussten den Leuten eine Botschaft darbringen, die Thana sich auch gewünscht hätte. “Komm!“, wies die Magierin ihre Gefährtin auf, wobei sie ihr Wort mit einer auffordernden Geste in Form eines Winkens unterstützte. Sie setzte sich in Bewegung und machte sich auf den Weg zur Kirche, dem größeren Haus mit einem angebauten Turm. “Der Auftritt muss dramatisch sein, von Anfang bis Ende.“, erklärte sie wispernd, wobei sie sich zu Eohl lehnte, damit sie, aber auch nur sie diese Worte klar vernehmen konnte. “Du kannst nicht zufällig irgendetwas am Himmel erzeugen, was man als erstes, bedrohliches Objekt sehen könnte? Eine Art Spiegelung oder so? Irgendetwas was unsere Prophezeiung untermauert.“ Und wenn es nur ein Spiegel selbst war, der hoch in der Luft schwebte und auf den sie verweisen konnten. Je mehr Leute sie auf den ersten Schlag überzeugen konnten, desto besser. Der Rest würde sich vielleicht gar ergeben wie eine einmal angestoßene Lawine.
Genutzte Zauber
Inner Drought TYP: Lost Magic ELEMENT: --- KLASSE: I MANAVERBRAUCH: 10 (9) für 5 (10) Minuten MAX. REICHWEITE: Beim Anwender SPEZIELLES: --- VORAUSSETZUNGEN: Willenskraft Level 2, Manaregeneration Level 2 BESCHREIBUNG: Bei dieser grundlegenden Kunst strahlt der Anwender Trockenheit und Wärme aus, um bei Regen oder Schnee nasse und kalte Füße zu vermeiden, die Kleidung zu trocknen, und sich und seinen verfrorenen Kameraden Wärme zu spenden.
Mastery (Support):
Mastery-Stufe I: Dauer der Fähigkeit erhöht sich um 50%. [+2,5 Minuten] Mastery-Stufe II: Dauer der Fähigkeit erhöht sich um 50%. [+2,5 Minuten]
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