Typ: Gebäude Besitzer: --- Beschreibung: Das Haus der Familie Ribbeck ist ein edles Gebäude in einer der betuchteren Gegenden von Maldina Town und datiert sich mit seiner hochdekorierten Fassade in eine Zeit von Landadel und Reichtum. Wer jedoch das Haus der Familie betritt, findet recht schnell heraus, dass die Bewohner die Glanzzeiten ihrer Blutlinie bereits hinter sich haben. Einst prunkvolle Möbel und Dekorationen sind vom Zahn der Zeit zerfressen, die Teppiche staubig und die langen Flure und zahllosen Zimmer nur spärlich genutzt.
Changelog: Wenn sich im Verlauf des Rollenspiels etwas an dem Ort ändert, wird es hier aufgeführt.
Dunkle Gewitterwolken brauten sich zusammen, als Mary das Gildenhaus der Satyrs verließ. Die Magierin schaute in den Himmel und umschloss mit einer Hand die Seite ihres Körpers. Die unter den Schichten aus braunem Wintermantel und rotem Pullover verborgene Narbe knapp oberhalb des Hüftknochens war frisch und ziepte, wenn das Wetter umschwang. Mary übte leichten Druck auf die schmerzende Stelle aus, glättete die Falten auf ihrer Stirn und spannte ihren Regenschirm auf.
Mit raschen Schritten überquerte sie den Vorplatz der Gildenhalle. Normalerweise herrschte hier reges Treiben, doch das Unwetter hatte das Areal bis auf wenige Passanten leer gefegt. Die Statue am Brunnen grinste Mary entgegen. Die Lichtmagierin sah die ersten Regentropfen das Wasser aufwirbeln, als sie stehen blieb und den Questzettel aus ihrer Manteltasche holte. Das teilweise vergilbte, alte Papier raschelte wie trockenes Laub beim Entfalten mit einer Hand, aber das rote A war noch deutlich an der rechten, oberen Ecke auszumachen. Neben der Signatur der Gildenmeisterin bestand das Schreiben aus eng gesetzten, kursiven Zeilen, die Mary beim Lesen Probleme bereiteten. Sie klemmte den Schirm zwischen ihren Arm und Körper und brachte das Papier dicht an ihre Augen.
Inmitten hochgestochener, altertümlicher Formulierungen konnte sie eine Adresse erkennen, die auf eine besser betuchte Gegend in Maldina hinwies. Mary kam nur selten in solche Ecken der Stadt und fühlte sich beim Gedanken daran, einer vermutlich hochnäsigen Landadelsfamilie die Aufwartungen zu machen unwohl, doch es wäre nicht die erste Neugkeit am heutigen Tage. Vor Kurzem war Mary zu einer A-Rang-Magierin von Satyrs Cornucopia befördert worden. Was bisher nur auf dem Papier für sie relevant gewesen war, erhielt heute mit ihrer ersten A-Rang-Quest als Leiterin seine Feuerprobe. Die Magierin tauschte einen flüchtigen Blick mit der Statue, als hoffe sie von dem marmorenen Abbild eines hübschen jungen Mannes Einsicht zu erhalten. Doch er verblieb schweigsam und stoisch, umklammerte nur eine Art Schriftrollenbehälter und drückte keck die Hüfte nach außen. Mary trat von einem Fuß auf den anderen und drückte den Questzettel an sich, während sie die Straße zum Vorplatz des Gildenhauses nach bekannten Gesichtern absuchte.
Einen kleinen Trost gab es: Mary würde diese Quest mit einem Partner abschließen, den sie bereits gut kannte. Ihr Herz begann zu klopfen, als sie an Savannas Grinsen bei der Nennung ihres Partners dachte und sie erwischte sich dabei, wie sie vor Vorfreude lächelte. Es konnte nicht mehr lange dauern bis ihr Questpartner über sein Glück informiert wurde und hier am Treffpunkt auftauchen würde. Mary würde Nicolo sofort an seinem Mantel und seinem Wuschelkopf erkennen, selbst wenn der Regen stärker wurde. Hoffentlich wird diese Quest nicht zu gefährlich, dachte die Baumgardner und drückte die Fingerkuppen fester in das Material des Questzettels. Goldene Birnen ernten klang nicht sonderlich komplex, doch die Gildenmeisterin hatte sehr ernst ausgesehen, als sie ihr den Zettel überreichte. Es musste einen Grund haben, dass sich entweder lange niemand für die Quest interessierte oder der Zettel immer wieder zurück an das Board gewandert war. Mary erschauderte, als ein Regentropfen den Schirm verfehlte und ihr in den Nacken lief. Das Wetter war doch sicher kein schlechtes Omen, oder?
Eigentlich hatte es ein ruhiger Tag werden sollen. Eigentlich hätte Nico grade auf seinem Bett liegen sollen, dem Regen dabei zusehen sollen, wie er gegen das Fenster prasselte und die Welt farblos tünchte, während das Stakkato der Tropfen seine ganz eigene Melodie spielte. Stattdessen erklang ein anderes Stakkato in den Straßen von Maldina. Das Geräusch der Sohlen für das Wetter gradezu lächerlich unpassender Lackschuhe, die auf den festen Boden der Bürgersteige knallten und dabei die Pfützen verdrängten. Es wäre zu viel gesagt, dass Nico durch die feuchten Gassen Maldinas flog. Trotz seiner langen Lauchbeine war der junge Mann nicht grade schnell unterwegs. Der Regen klatschte ihm ungebremst ins Gesicht. Einen Regenschirm hatte er nicht dabei, ihn stattdessen neben der Türe seines Apartments vergessen. Aber das war schlicht der Aufregung geschuldet gewesen. Sein erster Auftrag auf dem A-Rang! Und dann auch nicht mit...Mary. Fliegen mochte er zwar nicht, aber für ihn fühlte es sich definitiv so an. Erster Auftrag allgemein mit Mary, erster Auftrag auf dem B-Rang mit Mary und jetzt auch noch der erste auf dem A-Rang. Und da keine anderen Teammitglieder zugeteilt worden waren, bedeutete das auch noch etwas anderes. Dass sie es auf den A-Rang geschafft hatte! Nicht, dass er das jetzt so wirklich anders erwartet hätte. Mary war eben toll, klug, hübsch und die ganzen anderen positiven Adjektive, die ihm immer nicht einfielen, wenn er an sie dachte.
"MAAAAAAAAAAAARY!", krakelte es über den Vorplatz des Gildenhauses hinweg. Ein breites Grinsen zeichnete sich auf Nicos Gesicht ab, während er die letzten paar Meter in ebenso raschem Tempo nahm wie den Rest des Weges von seinem Apartment bis hierher. Die sehr viel kleinere Mary wurde in einen ausgesprochen feuchte Umarmung gezogen. Nicos Mantel tropfte. Seine Haare tropften. Er tropfte ganz allgemein. Aber wenigstens ihm war das grade egal. Er konnte grade vor Glück platzen. "Erstmal: Glückwunsch. Das hast du dir echt verdient mit der ganzen, harten Arbeit. Und deine Magie ist ja jetzt auch schon richtig stark. Und du auch. War ja nur eine Frage der Zeit, bis das die Gilde auch bemerkt. Ich hätte dich ja schon vorher befördert, aber ich bin ja nicht die Leitung. Okay, warte, ich lasse dich los-" In der Tat wurde Mary zurück in die Freiheit außerhalb der Lauchstangenarme entlassen. "-so. Ach, verdammt, hätte ich das vorher gewusst, hätte ich dir irgendwas mitgebracht. Eine Blume oder sowas. Vielleicht ein bisschen was Süßes. Uhm, entschuldige, wenn ich quassel, aber ich bin ziemlich nervös. Erster A-Rang-Auftrag. Und das auch noch so kurz nach dem B-Rang-Ding. Fühlt sich an als wäre es gestern gewesen, hehe. Uh, worum geht's eigentlich? Die Nachricht, die ich bekommen habe, hat nur gesagt, dass ich mich bei dir melden soll. Uuund ich bin jetzt erstmal still. Sorry, sorry." Die dankenswerte Stille, die durch Nicos Entschluss nach gut 30 Sekunden Monolog doch einmal die Schnute zu halten, entstand, wurde durch das Plätschern des Regens unterbrochen. Und dann durch das sehr leise Geräusch eines Mary auf die Haare gehauchten Kusses, nach dem Nico zu grinsen begann wie ein Honigkuchenpferd. Sanft streckte sich sein Arm nach dem Schirm aus, versuchte ihn Mary aus der Hand zu nehmen, damit sie besser den Questzettel lesen konnte.
Mary hörte Nico weit, bevor sie den hochgewachsenen Musiker im Regen erspähen konnte. Die Baumgardner zuckte zusammen, als er ihren Namen über den Brunnenplatz plärrte. Ihre Augenbrauen hoben sich, doch die Mundwinkel kamen gleich hinterher. Schließlich schlug der Größere wie eine Wortbombe in sie ein. Einen Augenblick lang spürte Mary nur das Material von Nicolos durchnässten Mantel, bekam Tropfen aus den Haaren in den Nacken, roch die Kombination aus Regenwasser, Tinte, altem Holz und Kaffee, die vom Musikmagier ausging und hörte dessen pochenden Herzschlag, als wollte das Organ in Nicolos Brust ihr auch direkt guten Tag sagen. Er sah aus, als wäre er gerannt. Hatte er sich beeilt? Mit einem leisen Fiepen wurde Mary gequetscht, die Lippen an der Krawatte des Peralta plattgedrückt. Gleichzeitig zu ihrem Kampf um Luft und dem liebevollstem Waterboarding aller Zeiten spülte eine weitere, verbale Flutwelle über die Lichtmagierin hinweg. Wegen ihrer Position bekam sie nicht alles mit, doch sie kommentierte das, was sie konnte mit leisem Gebrumme gegen Nicos Brust und schlang ihm ebenfalls einen Arm um den Körper. Der andere war mit dem Regenschirm beschäftigt und versuchte ihren Größenunterschied soweit auszugleichen, dass Nicolo sich das Werkzeug nicht in die Augen rammte. Gerade als Mary dachte, dass sie für immer in der feuchten Umarmung stecken würde (keine schreckliche Aussicht) ließ ihr Freund sie wieder frei. Der Wortschwall endete hier jedoch nicht, so dass die Baumgardner genug Zeit hatte, ihre Kleidung wieder in Ordnung zu bringen und ein bisschen rot anzulaufen, weil der Musikmagier sie hier mitten auf dem Vorplatz in eine innige Umarmung gezogen hatte. Zum Glück war er bis auf wenige deutlich weniger überschwängliche Passanten menschenleer. Man musste es Nico überlassen, vollgeregnet zu sein wie eine Kanalratte und trotzdem vor Freude zu dampfen. Bei seinen Worten grinste Mary leicht. Als die relative Stille einkehrte und sie endlich ein Wort zwischen den Monolog bringen konnte, kicherte sie nur und schüttelte den Kopf. Sie gab Nico den Schirm in die Hand und bekam noch eine Rotschattierung mehr, als er ihr einen Kuss auf die Haare gab. Sie waren wenigstens noch einigermaßen trocken.
"Danke, aber du musst mir nichts mitbringen. Du siehst aus, als wärst du her geschwommen. Wo ist dein Schirm?" Mit einer steilen Falte auf der Stirn streckte Mary einen Arm aus und legte die warme Handfläche an die kalte, nasse Wange des Peralta. Der Regen floss an den Seiten des Regenschirms herab wie ein Vorhang und sorgte dafür, dass sich der kleine Abstand zwischen ihnen unter dem schützenden Schirm anfühlte wie eine private Zuflucht. Die Tropfen klangen wie eine applaudierende Menge. Einen Moment schaute goldene Augen in braune, die Finger ihrer Hand strichen tropfende Locken aus einem Gesicht, das sie glücklich anstrahlte. Dann erinnerte sich Mary mit einem peinlich berührtem "Oh!" an die Frage ihres Freundes. "Der Questzettel ist schon ziemlich alt und handelt von goldenen Birnen, die aus einem Wald in der Nähe geborgen werden sollen. Sie wurden wohl von einer Person ins Grab mitgenommen, die dort bestattet wurde. Allzu viele Details gibt es nicht, aber die Meisterin hat mir den Zettel gegeben und mich gewarnt, dass die Familie wohl seit Kurzem Druck gemacht hat, dass die Quest übernommen wird. Sie haben sogar die versprochene Belohnung verdoppelt." Mary holte den Questzettel wieder hervor und zeigte Nicolo das vergilbte Blatt, wobei sie noch einen winzigen Schritt in seine Richtung machte, bis ihre Vorderseite sachte gegen die seine stieß. Sie wollte nicht, dass der Zettel durch den Regen unkenntlich wurde, denn etwas sagte der Baumgardner, dass sie vielleicht besonders vorsichtig sein sollten. Der Rang der Quest kam sicher nicht von irgendwoher. "Wir sollten zuerst mit der Familie sprechen. Die Adresse sagt mir nichts, aber dort leben wohl die besser betuchten Leute von Maldina. Weißt du, wo das ist?"
"Uhhh", machte Nico und sah sich auf dem Vorplatz der Gilde um als würde der Schirm spontan entscheiden von seinem Platz im mucklig warmen Apartment hinaus ins Nasse zu teleportieren. Nichts dergleichen geschah. Der Schirm, dieses untreue Biest, blieb natürlich im Trockenen. Nur einen Moment lang hatte er den sachten, irgendwie reinen Seifenduft von Mary in der Nase, bevor er seine Freundin dann auch leider entlassen musste. Sie konnten ja nicht ewig in einer Umarmung im Regen stehen bleiben, so verlockend die Aussicht darauf auch sein mochte. Apropos Schirm. Den bekam er von Mary gleich in die Hand gedrückt, was ausgezeichnet war, da er sich sonst die Augen an den Speichen ausstechen würde. Sie war halt doch eine Ecke kürzer als er. "Zuhause, glaube ich. War so aufgeregt, dass ich ihn habe stehen lassen. Und och, das bisschen Regen macht mir doch nichts aus. Sagen wir, dass ich innen glühe und mir ganz bestimmt keine Erkältung zuziehen werde." (Er wird.) Kurzerhand reckte Nico den Kopf von Mary weg, wuschelte sich durch die Haare, was einen Miniaturregen in Richtung weg vom rettenden Schirm verursachte. Ein paar Wischer über den Mantel und sogar der war wieder einigermaßen trocken. Na ja, gut, nicht trocken. Aber wenigstens perlte kaum mehr Wasser davon ab. Und da hatte er schon ein warmes Händchen an seiner Wange liegen, die ihm vorsichtig die durchsuppten Strähnen aus dem Gesicht wischte. Wenn Nico nicht ohnehin schon gegrinst hätte, dass ein ganzer Zug darin hätte wenden können, wäre das spätestens jetz der Fall gewesen. Das Grinsen drohte ohnehin schon die Ohren zu verschlucken.
"Goldene Birnen? Sind aber keine Göttinnen involviert, die seltsame Fragen stellen, oder? Das passiert in den Mythen ständig. Und, uh, vielleicht sehen wir einen Geist. Ich meine, wenn das Grab irgendwo im Wald ist, muss das doch einen Grund haben, oder? Normalerweise lässt man sich ja auf einem Friedhof bestatten. Oder war der Besitzer der Birnen so richtig stinkreich? Die alten Herrscher haben sich ihre Grabstätten ja auch irgendwo mitten in die Pampa gebaut, um selbst im Tod noch ein bisschen zu protzen. Adresse? Zeig mal bitte rasch. Oh, klar. Das ist in der gehobeneren Gegend. Malvenviertel? Irgendwas mit Blumen jedenfalls. Hier lang." An sich hätte Nico jetzt gerne den Arm um Mary gelegt, aber der Regenschirm verhinderte mehr Anzeichen von Zuneigung in dieser Richtung. Also bekam die Kleinere den Arm zum Unterhaken angeboten. Der Regen prasselte weiter munter auf den Schirm ein, aber grade war er nur ein angenehmes Hintergrund brummen. Er musste nur darauf achten kleinere Schritte zu machen. Normalerweise brauste er ja ganz schön durch die Gegend, aber damit würde er Mary vielleicht abhängen. Und das kam mal so gar nicht in Frage. "Wir kommen an ein paar netten Cafés vorbei. Möchtest du was? Vielleicht eine heiße Schokolade oder so? Hm. In der Richtung kenne ich mich nicht so gut aus, aber ich glaube ein Petit Jolie ist auf dem Weg. Die haben leckere Pastetchen. Ich lade dich ein. Um die Beförderung zu feiern. Wie fühlst du dich eigentlich mit dem neuen Rang? Ein Schritt näher in Richtung Ziel?"
Langsamer als sonst bog Nico mit Mary zusammen in eine der Straßen ein, die entlang der Ausläufer von Maldina führte. Wer es sich leisten konnte, der hatte ein großes Grundstück. Und die waren eben weiter draußen, statt im dichter bebauten Kern. Viel war nicht los auf den Straßen Maldinas. Das Wetter hielt die meisten Leute in ihren trockenen Stuben. Und auch wenn der Regen Nico normalerweise gestört hätte, war er grade komplett egal. Er hatte seine Sonne dabei. Man verzeihe die Schnulzigkeit.
Das bisschen Regen? Mary warf einen zweifelnden Blick auf das Unwetter jenseits des Schirms. Doch sie kommentierte die Waghalsigkeit ihres Freundes nicht weiter. Wenn Nico der Ansicht war, dass er sich im nasskalten Regen nicht den Tod holte, wer wäre sie, um ihn zu belehren? Am Ende würde sie ihm ohnehin eine Hühnersuppe kochen und sich sein Leid anhören. Sofern die Bazillen ihn wirklich erwischten. Was sie ja nicht tun würden. Mh-hm. "Wenn du meinst", wechselte Mary diplomatisch das Thema und erklärte stattdessen in Grundzügen den Gegenstand ihrer Quest. Kaum hatte ihre Erzählung geendet, hatte Nicolo natürlich seine Gedanken dazu, die er dem Landei wie immer in etwas verlängerter Form mitteilte. Mary lauschte mit schiefgelegtem Kopf, denn oft fanden sich erstaunliche Samen der Weisheit in Nicos Monologen. "Ich weiß tatsächlich nicht, wieso das Grab im Wald ist. Das könnte aber wichtig sein." Von einer Krypta oder einem Mausoleum für die Ribbecks war bisher nicht die Rede gewesen, aber der Ort für die Bestattung kam ihr nun, da Nico dergleichen ansprach, tatsächlich eigenartig vor. Maldina hatte einen Friedhof und selbst, wenn dieser Vorfahre der Ribbecks schon vor langer Zeit dahingeschieden sein mochte, noch bevor Maldina als Stadt existierte, so hätte man sein Grab ja vielleicht in die alte Hauptstadt Ardea gesetzt oder ihn bei seiner Familie bestattet. "Meinst du wirklich, dass er angeben wollte?" Mitten im Wald, wo nur wenige jemals sein Grab besuchen konnten? Vielleicht waren reiche Leute einfach ein anderer Schlag.
Mary lächelte, als Nico seinen Schrittrhythmus an sie anpasste. Obwohl sie keine so langen Beine hatte wie ihr Freund, war es die Baumgardner durchaus gewöhnt, zügig voranzukommen. Das war ein Relikt aus einer Zeit in ihrem Leben, wo man schnell von der Scheune zum Hof rennen musste und alle Läden des täglichen Gebrauchs fußläufig zu erreichen sein mussten - selbst, wenn sie das laut Entfernung eigentlich nicht waren. Sich einen Schirm zu teilen, stellte allerdings eine etwas andere Herausforderung dar, da man sich nicht gegenseitig in das Nass des Regens schubsen oder zurücklassen wollte. Mary hakte sich bei ihrem Freund ein und ließ ihn ohne Widerworte vorgehen. In natürlichen Umgebungen kannte Mary sich gut aus, doch in Städten verlief sie sich sehr leicht. Davon abgesehen hatte sie keine Ahnung von dem Viertel, in das sie eintauchen würden. Die reicheren Bewohner von Maldina hatten immerhin recht wenig Kontakt zu Mary. "Ich möchte nichts, danke. Ich habe uns Proviant eingepackt und auch etwas Kaffee für dich." Sie klopfte auf ihre Umhängetasche. "Und du musst ich wirklich zu nichts einladen, Nico. Ich war selbst überrascht von der Beförderung. So ganz fühlt es sich noch nicht an, als wäre ich wirklich weit gekommen. Ich bin in so vielen Dingen noch ein blutiger Anfänger." Mary seufzte leise. Auch wenn sie nun zu den Leuten der Satyrs gehörte, die mehr Verantwortung besaßen und höherrangige Aufträge übernahmen, fühlte sich die Baumgardner noch immer, als wäre sie gegenüber anderen Magiern ein Küken. Sie hatte mittlerweile so viele, so mächtige Magier getroffen, dass sie sich selbst wirklich kaum vergleichen konnte. Doch natürlich wusste sie, dass sich auch ihre Kräfte mehrten - mit jedem Kampf, jeder Herausforderung lernte sie dazu. Das musste sie auch, um dem Süden weiter helfen zu können und jenen zu helfen, für die sie diese Laufbahn überhaupt erst eingeschlagen hatte. "Es fühlt sich an, als würden die Gefahren auch größer werden, je stärker ich werde."
Der Regen nahm zu, während die beiden jungen Magier durch die verwinkelten Gassen Maldinas schritten. Cafés und kleine Lädchen zogen an ihnen vorbei, als sie durch die geschäftige Innenstadt kamen, und machten größeren, umzäunten Grundstücken Platz. Teure, prunkvoll angelegte Gärten wechselten sich ab, und an Gitterzäunen funkelten Namensplaketten zwischen Rosenhecken, Vogelbecken und Topiarien. "Hier ist es. 'Ribbeck'", rief Mary aus und streckte einen Arm unter den Regenschirm hervor. Eine verblichene Kupferplakette pries den Namen an, der unter dornigen Rosenästen kaum auszumachen war. Die Hecke wuchs gewaltig über die Außenmauer des Grundstücks. Früher hatte ein Pfad aus hellem Kies zum Haus geführt, doch dieser war nur noch zwischen Büscheln an Löwenzahn und Gras auszumachen. Das Haus war beinahe vollständig von Efeu bewachsen, und der prunkvollen Veranda fehlten einige Dielenbretter. Ein Schaukelstuhl voller weißer, gesplitterter Farbe wirkte, als hätte man gerne einmal dort gesessen, doch der Vorgarten der Landhausvilla war derart verwildert, dass es kaum mehr einen Ausblick zu genießen gab. "Huh. Die Familie ist angeblich sehr wohlhabend." Unsicher tauschte Mary einen Blick mit Nico und rüttelte am Eingangstor, das allerdings heftig verrostet war und aussah, als würde sie es eher aus den Angeln reißen, als es zu öffnen, wenn sie sich dagegen stemmte.
"Nein, keine Ahnung", antwortete Nico. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, ob dieser Herr Ribeck einfach nur angeben wollte mit seinem Grab. Immerhin... "Vielleicht war er auch einfach nur ein sehr großer Fan von Wäldern und Pflanzen und wollte in seiner liebsten Umgebung die Ewigkeit verbringen. Ist verständlich. Wälder sind ziemlich hübsch, wenn sie nicht grade versuchen einen umzubringen. Sehr mysteriös und sagenumwogen. Alleine die ganzen Geschichten über Nymphen, Dryaden, Drachen, Waldschrate und dergleichen. Hm...Geschichten. Irgendwie kommt mir grade was bekannt vor, aber ich komme nicht so ganz drauf. Hat was mit dem Namen zu tun." Auch ein paar weitere Sekunden ausnahmsweise einmal stiller Kontemplation, begleitet nur von dem Geräusch des prasselnden Regens, brachten kein Ergebnis. Schlussendlich zuckte Nico mit den Schultern. Wenn es ihm nicht einfiel, konnte es so ganz wichtig ja nicht sein. Sonst würde es ihm ja einfallen. Der junge Mann zuckte mit den Schultern. "Ist nicht so wichtig." Ein Blick rüber zu Mary ergab, dass sie trocken blieb. Das war gut. Ihm regnete es zwar grade auf die mary-abgewandte Schulter. Aber wie sie bereits festgestellt hatten, würde er sowieso nicht krank werden. Von daher bestand also nicht der geringste Grund zur Sorge. Vielleicht sollte er ihnen beiden mal einen größeren Schirm kaufen. Dann konnten sie häufiger so herumlaufen, ohne, dass er nass wurde.
"Ah, na gut. Dabei gibt es da dieses wirklich knuffige Café, dass dir gefallen könnte. Sie bieten selbst gepresste Limonaden an. Wobei...ist vielleicht nicht das richtige Wetter für Limonaden. Wir machen das irgendwann anders mal." Nico beugte sich leicht vor, um an Mary vorbei in Richtung ihrer Umhängetasche zu sehen. Und dann noch ein Stückchen weiter. Ein zufriedenes Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Ja gut. Wenn Mary etwas für ihn vorbereitet hatte, würde er das niemals ablehnen. Sie kochte gut. Ganz im Gegensatz zu ihn, dem vermutlich sogar Müsli anbrennen würde. "Ich glaube man kann nie in allen Dingen ganz perfekt werden. Mach dir deswegen also keine Sorgen. Du bist stark, du bist mutig und du bist fürsorglich. Und selbst wenn nicht alles auf Anhieb klappt, setzen wir da einfach zusammen an. Du bist nie alleine, ja? Ich hab vielleicht nicht wirklich Ahnung von dem, was da jetzt auf dich zukommt. Oder auf uns. Aber zusammen kriegen wir das ganz sicher hin." Die freie Hand, die grade nicht den Schirm hielt, krabbelte rüber, um Mary sanft den Arm zu drücken.
Unter dem sachten Plätschern des Regens in den Gossen, wo sich langsam winzige Bäche bildeten, ging es relativ schweigend tiefer hinein in eines der wohlhabenderen Viertel Maldinas. Selbst Nico hielt ausnahmsweise einmal die Klappe und genoss einfach nur die Nähe. Leider, seiner Meinung nach, dauerte es nicht sonderlich lange, bis sie beide vor einem Grundstück ankamen. Nicos Gedächtnis hatte ihn nicht getrogen. Sie waren richtig. "Hm. Das sieht ziemlich runtergekommen aus. Niemand, der Geld hat, lässt seinen Besitz derart verkommen. Seltsam. Können sie sich überhaupt die Bezahlung für einen A-Rang-Auftrag leisten? Ich sehe keine Klingel. Soll ich mal winken? Oder fliegen wir einfach über den Zaun?" Mit der freien Hand machte Nico Gesten, als würde er eine imaginäre Violine spielen. Sehr schlecht, da die zweite Hand nicht andeuten konnte, wo besagte imaginäre Violine denn bitte war. Gleich darauf reckte sich die Hand jedoch gen Haus und winkte einmal kräftig. Vielleicht würde sich da ja jemand regen.
"Wirklich eigenartig ...", murmelte Mary zustimmend. Nico hatte ausgesprochen, was auch das Landei sich beim Anblick des heruntergekommenen Anwesens bereits gedacht hatte. Sie machte sich persönlich weniger Sorgen um die Bezahlung für die Quest, sondern viel mehr darum, was diesen Zustand herbeigeführt haben könnte. "Huh. Aber der Questzettel sagt eindeutig, dass wir hier richtig sind und weitere Informationen bekommen sollen." Mary faltete das Schreiben ihrer Gilde wieder ein, mit dem sie sicherheitshalber die Adresse noch einmal überprüft hatte. Nicos Winken wurde derweil von einer jungen Frau mit schwarzem, knöchellangem Kleid, einer weißen Schürze und einer weißen Haube auf rostrotem Haar erwidert, die auf die Veranda heraustrat. Die Dienerin bildete ein Sprachrohr mit ihren Handflächen und rief zu ihnen herüber. "Willkommen! Ihr müsst außen herum, über den Dienstboteneingang. Das Tor ist kaputt!" Ihre Worte wurden durch einen Zeig nach rechts, einmal um das Grundstück herum, begleitet. Mary blinzelte überrascht, hob aber nur einen Daumen und zupfte an Nicos Mantel. Gemeinsam umrundete sie das Mauerwerk, das an zahllosen Stellen bereits von den Kletterpflanzen beschädigt worden war. Ein hölzernes Tor führte aus einer geschützten Seitengasse in das Grundstück. Es befand sich in einem einigermaßen gepflegten Zustand, und die vielen Radrillen und Fußabdrücke auf dem schlammigen Boden sprachen von einem regen Personen- und Lieferverkehr. "Scheint, als müssten wir nicht fliegen", meinte Mary mit hochgezogenen Augenbrauen und betätigte den Türgriff. Das war alles nicht vielversprechend für ihren ersten Auftrag des A-Rangs, doch wie Nico gesagt hatte - sie würden es zusammen schaffen. Daran gab es im Gegensatz zum Rest dieser Angelegenheit nicht den geringsten Zweifel.
Sie gelangten durch einen überdachten Seiteneingang ins Innere des Hauses, wo das Hausmädchen von zuvor schon auf sie wartete und ihnen den Weg wies. Ihr erster Stopp war eine geflieste Zwischenkammer. Das Auffälligste hier stellte ein Schuhregal dar, das voller schlammiger Stiefel war, so als wäre eine Person im Dienststab häufig in unwirtlichen oder dreckigen Gegenden unterwegs. Danach ging es geradewegs in die Küche. Die Größe des Zimmers war beachtlich, und die Wärme des Kamins, vor den die beiden Magier platziert wurden, damit ihre Kleider etwas antrockneten, strahlte eine Gemütlichkeit aus, die man von der Fassade kaum erwartet hätte. "So, wärmt euch erst einmal auf. Ihr seid bestimmt die Magier, richtig?" Mary nickte. "Das stimmt. Mein Name ist Mary und das ist Nico. Freut mich." Sie streckte dem Hausmädchen die Hand hin, welche diese zögerlich ergriff. Als sie sich jedoch entschieden hatte, war ihr Griff fest. "Zara." Das Kaminfeuer wärmte Mary den Rücken. Als sie sich in der Küche umschaute, sah sie, dass nur wenige der Oberflächen benutzt aussahen. Auch viele der gusseisernen und kupfernen Pfannen und Töpfe an den Wänden hatten Staub angesetzt. "Kümmerst du dich um das ganze Haus alleine, Zara?", hakte Mary unvermittelt nach. Die Küche wirkte nicht so, als herrsche in ihr die Art von Geschäftigkeit, die Mary kannte. Sie war eine Gasthausküche gewohnt - ein großer, wohlhabender Haushalt musste da doch ähnlich emsig am Arbeiten sein. "Seit einer Weile, ja ... Die Herrschaften haben aber kaum noch Besuch, also ist es nur die Familie." Mary brummte zustimmend und wandte sich dem Kamin zu, damit sie einen vielsagenden Blick mit Nico tauschen konnte. "Aber wenn ihr die Birnen zurückbringt, dann wird alles gut!"
"Nicht wahr", suchte Nico noch einmal Bestätigung bei seiner Freundin, bevor er den Kopf drehte um einfach mit auf den Questzettel schauen zu können. Sie waren hier definitiv richtig. Der Braunschopf drehte wieder herum, um das Haus noch einmal mustern zu können. Eine Bewegung zog die Aufmerksamkeit des jungen Mannes auf sich. Jemand winkte ihnen beiden zu. Alles an der Frau schrie "Ich bin eine Bedienstete", von der Schürze, zu dem Kleid, bis hoch zur Haube. Bei den Häusern der reicheren Künstler auf der Anhöhe liefen solcherlei angezogene Personen hundertfach herum. Nicht bei den Peraltas, die sich nie Bedienstete zugelegt hatten, sah man einmal von einer älteren Dame ab, die die Familie bekochte. Ohne sie wäre die Blutlinie vermutlich erloschen, denn Nico hatte seine Befähigung für das Kulinarische, beziehungsweise den Mangel dessen, definitiv von seinen Eltern und Großeltern bekommen. Als Antwort auf die Bitte der jungen Frau den Dienstboteneingang zu nutzen, hob Nico einmal kurz den Regenschirm an, während Mary ihr einen Daumen-Hoch anzeigte. Die junge Frau schien zu verstehen, verkrümelte sie sich doch zurück ins Trockene. Beneidenswert. Nicos Blick senkte sich auf die das Grundstück begrenzende Mauer herab. Der Efeu hatte den Mörtel zwischen den Steinen beschädigt. Gradezu pockennarbig verteilten sich übrig gebliebene Greifwurzeln der Pflanze auf dem nackten Stein. Nein, das hier sah wirklich nicht aus wie das Haus einer wohlhabenden Familie.
Den Regenschirm in dem gekachelten Raum zurücklassend, folgte Nico den beiden jungen Frauen tiefer in das Gebäude. Aufmerksame Rehaugen registrierten die kleinen Anzeichen für Vernachlässigung. Winzige Risse im Putz der Wände. Ein abgelaufener Boden, fast schon speckig von vermutlich Jahrzehnten intensiver Nutzung. Eine Küche, die fast keine jener Anzeichen für emsige Benutzung hatte, wie sie die Küche eines Hausstandes haben sollte. Aber der Ofen war entzündet und wärmte Nico ordentlich den Rücken, kaum, dass er sich davor postiert hatte. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn er jetzt angefangen hätte zu dampfen. Die Wärme bahnte sich einen kribbelig angenehmen Weg durch die durchnässte Kleidung hindurch. Ihm graute jetzt schon davor diesen wunderbar warmen und trockenen Ort verlassen zu müssen. "Erfreut, erfreut", wurde Zara gegrüßt, zusätzlich mit einer Hand gewedelt. Es kostete einiges an Mühe die junge Frau nicht sofort mit weiteren Fragen zu löchern. Dieses Haus war einstmals ein kleiner Palast gewesen. Spuren davon waren noch zu sehen, aber der Staub der Jahrzehnte hatte sich über alles gelegt. Dahinter musste einfach eine Geschichte stecken! Und Nico lebte für Geschichten. Aber zuerst der Auftrag. Er wollte ja weder seine Gilde noch Mary blamieren. Also: Professionalität und all das. "Deswegen sind wir ja hier. Was sind das für Birnen? Warum sollten sie helfen? Uh. Sind sie magisch?" Den Blick von Mary fing er ein, ließ ein winziges Lächeln aufblitzen. Satyrs Cornucopia war bestimmt groß und mächtig genug, dass es Ärger gab, wenn die Familie ihnen ihre Bezahlung vorenthielt. Zara faltete indes die Hände vor der Brust und nickte. "Vater Ribbeck erzählt immer, dass sie golden waren. Angeblich waren sie verzaubert. Wenn man sie isst, dann lebt man länger. Stellt euch vor, was man damit Gutes tun könnte! Und sie würden der Familie wieder auf die Beine helfen." Nicos Augenbrauen wanderten ganz von alleine in die Höhe. Wenn er etwas über goldene Früchte wusste, dann, dass sie meistens Ärger versprachen. Das belegten alle Geschichten. Wieder ging ein Blick rüber zu Mary, dieses Mal besorgter. Wenn diese Birnen wirklich Leben verlängern konnten, dann...versprach das Ärger. Jeder würde diese Dinger haben wollen. Selbst das Königshaus, mit all seiner Macht und seinem Wohlstand, konnte keine Leben verlängern. Uh-oh. Kein Wunder, dass das hier ein Auftrag auf dem A-Rang war. "Das klingt ja wirklich fantastisch. Aber ich vermute mal, dass das kein Spaziergang wird."
Der Kamin wärmte Mary wohlig den Rücken, während sie dem Hausmädchen Zara lauschte. Die Bedienstete sprach von goldenen Birnen, die angeblich die Lebensdauer verlängerten. Von einer solchen Frucht hatte die Lichtmagierin noch nie zuvor gehört, doch das mochte nichts bedeuten. Wenn Mary seit ihrem Beitritt zu Satyrs Cornucopia eines gelernt hatte, dann, dass es auf Earthland viele wundersame Dinge gab. “Was meinst du mit ‘wieder auf die Beine helfen’?”, fragte die Baumgardner mit sanfter Stimme und ließ den Blick recht offensichtlich über die Zeichen der Verwahrlosung wandern, die man hier in der Küche an jeder Ecke sah. So sehr sich das Hausmädchen auch bemühte - ein so großes Anwesen konnte unmöglich von einer einzigen Person in einem makellosen Zustand gehalten werden. Der verwilderte Garten draußen war das beste Beispiel dafür. “In den vergangenen Jahren gab es für die Familie Ribbeck einige unglückliche Vorkommnisse,” Zara seufzte, "Der Hausherr vertraute den falschen Ratschlägen für seine Erbanlagen und eins führte zum anderen.” Bei ihrer Antwort vermied sie den Blick der beiden jungen Magier. Als der Kessel auf dem Herd zu pfeifen begann, servierte sie ihnen Tee aus verzierten, antiken Tassen. “Entschuldigt mich kurz. Genießt bitte den Tee und wärmt euch weiter auf. Ich hole euch ab, sobald der Hausherr bereit ist, euch zu empfangen.” Mit einer nervösen Verbeugung zog sich Zara aus der Küche zurück. Mary umfasste die warme Tasse mit beiden Händen. Einerseits vertrieb sie die Kälte und Feuchtigkeit aus den Knochen, andererseits wollte sie auf gar keinen Fall ein so kostbar aussehendes Stück Porzellan fallen lassen. “Was denkst du, Nico? Ich bekomme den Eindruck, dass man uns nicht alles sagt.” Die Baumgardner runzelte die Stirn. Zara wirkte freundlich und ehrlich, aber ihre Erzählung kam Mary vor, als würde sie eine Geschichte nachplappern. Eine Ausrede, vielleicht. Waren es wirklich falsche Ratschläge gewesen, die zu einem solchen Zustand des Hauses geführt hatten? “Wenn die goldenen Birnen ein Familienerbstück sind, findest du es dann nicht auch seltsam, dass sie das jetzt nicht mehr sind?” Die Lichtmagierin wandte sich dem Kamin zu und betrachtete das prasselnde Feuer einige Momente lang nachdenklich. Leider hatte sie nur wenig Ahnung von Erbrecht und konnte auch mit den goldenen Birnen nichts anfangen. Was, wenn sie gar nicht wirklich existierten? Doch wieso wurde ihnen dann eine Quest mit einem solch hohen Rang übergeben? Mary war sich ganz sicher, dass ihre Gildenmeisterin sich etwas dabei gedacht hatte, ausgerechnet diese Quest aus den Archiven zu kramen und der Nachfrage der Familie Ribbeck nachzukommen. Wenn sie doch nur herausfinden konnten, was es mit diesen Birnen auf sich hatte! Mary trank einen Schluck von ihrem Tee und spürte die angenehme Wärme in ihrer Kehle. Er schmeckte teuer und edel, aber die Marke war an Mary verschwendet. Egal wie schlecht es um die Finanzen der Ribbecks zu stehen schien, sie wahrten zumindest in der Gastfreundschaft den Anschein von Reichtum und Überfluss. “Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache”, gab Mary schließlich zu und schaute zu Nico hoch, als hoffe sie auf eine logische Erklärung aus dem Mund des Musikmagiers. Gerade wollte sie noch etwas erwidern, da öffnete sich die Tür, durch die Zara zuvor verschwunden war. Sie kam, noch nervöser wirkend als zuvor, einen Schritt in die Küche. “Herr Ribbeck ist nun bereit, euch zu empfangen.”
Wieder auf die Beine helfen? Nun, so konnte man es natürlich formulieren. Rehbraune Augen musterten die Umgebung, die zahlreichen Risse in den Tapeten, die Sprünge in manchen der Fliesen der Küche. Es gab einige Dinge, die mit vermutlich viel Aufwand in Bereitschaft gehalten wurden. Beispielsweise das Porzellangeschirr, das Mary und ihm angereicht wurde. Wäre dieses Haus ein Gehirn, die Schrauben wären nicht nur lose. Sie wären eingeschmolzen worden und lebten nun ein neues Leben als Winkeleisen. Der Wuschelkopf brauner Haare spiegelte sich in dem Tee. Die dunkle Flüssigkeit ließ das Ebenbild fast dämonisch düster wirken. Es fehlten nur ein paar kleiner Hörner, die aus dem Schopf stießen und sich dem Himmel wie ein erhobener Finger entgegen reckten. Sanft drehte Nico die Tasse in Händen. Seine Mundwinkel rauschten nach unten, schienen ins Bodenlose zu fallen wie die finanzielle Lage der Familie Ribbeck. Wie mühsam sie sich an ihre edle Fassade krallten. Wie viel Anstrengung Zara in die Erhaltung eines Gebildes steckte, das ihr zwischen den Fingern hindurch rieselte wie Sand in einem Uhrglas. Der Peralta schniefte leise. Er kannte dieses Porzellan. In seinen Augen war es unnötig. Kaffee schmeckte gleich, ob er nun aus einer Tasse mit Goldrand oder tönernen getrunken wurde. In der Fassade der Familie Ribbeck war es der Versuch das durch ein Riff geschlagene Leck im Rumpf des Schiffes mit Kleber zu reparieren. "Etwas stimmt nicht. Wenn ich goldene Birnen hätte, die Leben verlängern können, würde ich doch als erstes dafür sorgen, dass meine Kinder und deren Kinder sie ebenfalls erhalten. Ich habe zwei Vermutungen: Erstens: Der Preis für das verlängerte Leben ist zu hoch. Die Birnen sind also zu gefährlich, um sie in der Obhut der eigenen Kinder zu lassen. Zweitens: Die...Familie...hat sich zerstritten. Und der Besitzer der Birnen wollte nicht, dass seine Kinder sie kriegen. Das würde auch erklären, warum sein Grab und damit die Birnen irgendwo weit außerhalb der Reichweite der Familie sind." Sanft drehte Nico die Tasse in seinen Händen, schien einen Moment lang die Motive darauf zu betrachten. Ohne den Tee anzurühren, wurde sie zurück auf den Tisch bugsiert. Selbst wenn es die letzte Flüssigkeit in Earthland gewesen wäre, hätte Nico sie nicht aus dieser Tasse getrunken. "Ich auch nicht. Wir werden hier in was reingezogen, was mir gar nicht gefällt."
Ungewöhnlich stumm und ohne den üblichen Sprung in den Schritten folgte Nico an der Seite Marys dem Dienstmädchen durch das Gebäude. Auch in den Gängen und auf der Treppe hinauf ins Obergeschoss waren die Zeichen des Alters erkennbar. Die steinernen Stufen wirkten speckig. Als wäre man nicht einmal zu häufig darüber gelaufen, sondern tausendfach. Die Teppiche in den Gängen waren fransig, wie das Fell einer sehr alten Katze. Nicos Augen sogen die Anzeichen in sich auf. Schlussendlich blieb das Dreiergespann vor einer doppelflügeligen Türe stehen, die Zara für die beiden Magier aufdrückte. Quietschend schwang das Holz auf, gab den Blick auf ein Arbeitszimmer frei. Vor einem gewaltigen Fenster stand ein Stuhl mit hoher Lehne. Die Sonne im Rücken machte es fast unmöglich die Person darauf zu erkennen. Was gut erkennbar war, war der gewaltige Schreibtisch aus dunklem Holz. Die Füße waren wie Greifenklauen geformt. Kurz amüsierte sich Nico mit der Vorstellung, wie der Schreibtisch aufstand und davon gallopierte. "Die Magier, Herr Ribbeck." Eine Handgeste, dunkel vor der Sonne, bedeutete dem Dienstmädchen sich zu entfernen. Die Türe schlossen sich hinter den beiden Magiern mit dem finalen Klicken der Scharniere. "Kommt doch bitte ein wenig näher. Meine Augen sind nicht mehr so gut wie sie mal waren." Nico schickte einen Blick rüber zu Mary. So ominös die ganze Szenerie wirken mochte, bestand doch nur wenig Grund zur Sorge. Herr Ribbecks Stimme klang freundlich, fast schon entschuldigend. Der Musikmagier machte ein paar Schritte nach vorne. So langsam gewöhnten sich seine Augen sogar an das Gegenlicht. Herr Ribbeck war keine beeindruckende Gestalt. Eine Trauerweide von einem Mann. Mit gebeugtem Rücken und langen, grauen Haaren, die ein Gesicht einrahmten, das irgendwann einmal aristokratisch gewesen sein mochte. Jetzt war es nur noch alt, verbraucht und gebeutelt. Wie das Haus. In den Tränensäcken unter den Augen konnte man es sich jedenfalls gemütlich einrichten und vermutlich sogar einen kleinen Garten anlegen. "Erfreut, Herr Ribbeck. Dies ist Mary Baumgardner. Ich bin Nicolo Peralta." Fast automatisch legte Nico eine kleine Verbeugung hin und hasste sich im nächsten Moment schon selbst dafür. Dieses ganze Haus, diese ganze Situation war wie Spinnenbeine auf der Haut. "Ach je, so jung. Es freut mich, dass die Gilde meinen Auftrag endlich annehmen möchte, aber seid ihr wirklich bereit für so etwas? Es wird gefährlich." Wieder schickte Nico einen Blick rüber zu Mary. An sich hätte er nicht gezögert das Maul aufzureißen, aber grade war er mundfaul. Außerdem hatte sie die Leitung inne, was sie auch total verdient hatte.
Etwas stimmte hier nicht. Natürlich: Alles hier passte nicht richtig zusammen und war höchst verdächtig. Doch es waren nicht die Ungereimtheiten in der Quest, die Mary Sorgen bereiteten (jedenfalls nicht nur), sondern vor allem das Verhalten ihres Freundes. Normalerweise hörte Nicolo gar nicht auf zu reden. Der Violinist war eine Frohnatur, die quasseln konnte wie ein Wasserfall und dessen kreative und verbale Ergüsse nicht einmal eine Verletzung stoppen konnte. Bisher hatte Mary ihn nur ein paar Mal schweigsam erlebt. Und da sie sich im Moment nicht in den Minenbauten eines Staatsgefängnisses befanden und dessen Arm noch im Gelenk saß, musste es die emotionale Variante sein, die ihn nun mundfaul machte. Ein ähnliches Verhalten hatte die Baumgardner auf der Quest bemerkt, die sie zum Bürgermeisterkandidaten von Alcea Town geführt hatte. Auch dort hatte sich das ganze Gebaren Nicolos rasant verändert, sobald sie das prunkvolle Haus betreten hatten. Diese Villa hier war im Vergleich dazu geradezu ruinös, aber der Effekt schien derselbe zu sein.
Als das Hausmädchen sie holte und sie durch die mit alten Teppichen ausgestatteten Gänge des Herrenhauses der Ribbecks geführt wurden, streckte Mary vorsichtig eine Hand aus und schob die Finger zwischen die schlanken Gegenstücke ihres Freundes. Sie sagte nichts, wollte keine Aufmerksamkeit auf die Veränderung legen. Aber sie drückte kurz. Zusammen, das bedeutete die Geste. Mit welchen Dämonen seines Inneren Nico hier auch kämpfen mochte, er war nicht alleine damit.
Das Arbeitszimmer, in das die beiden jungen Magier geführt wurden, schien einen staubigen Seufzer zu tun, als die Tür aufging. Das ganze Haus wirkte, als läge eine bedrückende Last auf seinen Schultern, doch die Fenster mit den schweren Vorhängen, die wie dunkle Augenringe um sie bauschten, spiegelten die eigenartige Stimmung im Inneren des Domizils am stärksten. Mary näherte sich zögerlich, nach einer kleinen Verbeugung, die ihr irgendwie richtig vorkam, dem alten Mann, der um Nähe bat, um sie besser sehen zu können. Was auch immer für eine Bürde auf dem Haus und der Familie lag, scheinbar hatte sie den Hausherr an sich gebeugt. Mary neigte den Kopf, als sie vorgestellt wurde. Nicolos Gestik und sein Tonfall ließen sie unbemerkt erschaudern. "Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Herr Ribbeck. Wir sind absolut fähig, den Auftrag zu erledigen", versicherte das Landei mit einem Lächeln, das ein seichtes Schmunzeln auf die Züge des alten Mannes hauchte. Er wirkte Jahrzehnte jünger, wenn er lächelte. "Was ein Feuer! Wie meine kleine Violetta ...", seufzte er und wies auf ein Gemälde an der Wand hinter ihnen. Eine junge Frau saß mit einem versonnenem Lächeln auf einem Stuhl vor einem großen, wunderschönem Baum und hielt eine goldene Birne in der Hand. "Der Birnbaum war einst der ganze Stolz unserer Blutlinie. Doch als mein Vater starb, nahm er ihn mit sich ins Grab. Wir wissen nicht wieso er solche Maßnahmen ergriff, doch seitdem hat unsere Familie nichts als Probleme erfahren. Wenn es etwas ist, das ich einst getan habe, dann zögere ich nicht, meine Schuld zu tragen, doch meine liebe Violetta. Sie ist schwer krank ... Kein Heiler konnte ihr helfen. Ich fürchte, wenn die goldenen Birnen nicht gefunden werden und sie vom Lebensblut unserer Familie essen kann, dann wird sie den Monat nicht überleben." Zara wandte den Blick ab. Tränen schimmerten in ihren Augen. Die Stimme des Alten war jedoch gefasst. "Ich lege das Leben meiner Tochter in eure Hände." Mary schluckte. Das ... damit hatte sie nicht gerechnet.
Ein kurzes Lächeln blitzte auf Nicos Gesicht auf, als Mary ihre Finger in die seinen legte. Mehr als einen kurzen Drücker zurück zu geben war zeitlich nicht möglich. Immerhin wollte er nicht wie händchenhaltend vor dem Auftraggeber aufkreuzen. Während das Nico jetzt persönlich weniger gestört hätte, wusste man ja nie was für verknöcherte Leutchen mit zu viel Jewels man so als Auftraggeber bekam. Nachher fragte noch irgendwer nach dem Beziehungsstatus der beiden und Nico war definitiv noch nicht bereit diese Frage irgendwem außer Mary und sich selbst zu beantworten. Okay, vielleicht noch ein paar anderen Leuten. Und wenn er das Okay von Mary bekam, saß er wahrscheinlich Hymnen schmetternd auf den Dächern Maldinas. Aber das waren Gedanken für später, so warm sie in dieser toten, knochigen Umgebung auch machen mochten.
Es gab ein zweites, winziges Lächeln, als Herr Ribbeck sein Lob gegenüber Mary aussprach. Als Feuer hätte es Nico nicht bezeichnet, aber die Essenz war die gleiche. Das Lächeln erstarb sofort wieder. Die junge Dame des Hauses war also erkrankt. Das änderte viele Dinge. In Nicos Verstand flogen Schubladen wieder auf, in die er die Mitglieder des Haushalts so rasch und falsch einsortiert hatte. Herr Ribbeck schien keineswegs wie vermutet ein geldgieriger Kerl zu sein oder nach der Macht zu streben, die von einem Versprechen verlängerten Lebens ausging. Stattdessen handelte es sich bei ihm um...einen besorgten Vater. Aufgrund von Nicos Lauchigkeit war sein Adamsapfel ein recht prominentes Feature am als. Er hüpfte einmal. So sollte Familie sein. Vielleicht sah das Anwesen so runtergekommen aus, weil Herr Ribbeck seine Jewels in die Heilung seiner Tochter gesteckt hatte? Nico spürte einen Stich an Neid und schämte sich gleich darauf dafür. Immerhin lag den Aussagen hier nach jemand im Sterben. Ein kurzer Blick auf Zara bestätigte das. Entweder die beiden sprachen die Wahrheit oder an ihnen waren den örtlichen Theatern ein paar Thespisjünger verloren gegangen. "Wir werden die Birnen so rasch wie möglich holen", platzte es aus Nico raus. Kurz wirkte der junge Mann geschockt, womöglich von der eigenen Courage. Eine seiner Hände hob sich, um Mary sanft auf der Schulter zu landen. Der Blick Nicos hatte sich ein Stück weit verhärtet. Immerhin ging es jetzt um ein Menschenleben. "Wenn Ihr uns die Richtung weist, holen wir die Birnen, damit Eure Tochter nicht länger leiden muss. Oder, Mary?" Der Blick und Gesichtsausdruck Nicos wechselte zu bittend. Wenn eine Familie es schon mal richtig machte, dann musste man das doch unterstützen, oder? Wenn er selbst mal Kinder haben sollte, würde er auch sein letztes Hemd für die geben. Auch wenn er erst einmal alles dafür tun würde, dass das nicht nötig wurde. Die Chancen dafür standen ja nicht miserabel. Wenn das Dasein als Magier etwas gutes hatte, um die nahezu tagtäglichen Chance zusammengeschlagen oder anderweitig verletzt zu werden wieder wett zu machen, dann, dass man damit ziemlich rasch ziemlich bekannt werden konnte. Wenn ihm also nicht irgendwann mal die Hände abgehackt oder gefressen wurden, stand hoffentlich eine recht lukrative Stelle in irgendeinem Orchester in Aussicht. Oder er eröffnete seine eigene, kleine Oper direkt hier in Maldina und setzte sich daran ein paar Stücke für die großen Bühnen zu schreiben. Das war doch eigentlich gar keine schlechte Idee. Damit konnte er doch an sich sofort anfangen. Wo war er? Ach ja, Auftrag. Der Blick Nicos senkte sich wieder, ebenso die Hand auf Marys Schulter, die an seine Seite zurück kehrte. Seine Freundin würde natürlich zustimmen. Sie war eine gute Person. Eine der wenigen, wahrhaft guten Personen, zu denen er sich nicht einmal selbst zählte.
Natürlich würde Mary der Familie Ribbeck helfen. Daran gab es spätestens nach der traurigen Geschichte, die der Hausherr ihnen erzählte, keine Zweifel mehr. Hätte die Baumgardner ein zynischeres Herz, dann hätte sie vielleicht die schwierige finanzielle Lage und die Krankheit der Tochter als seltsamen Zufall erkannt und an den verzweifelten Worten des ausgemergelten Mannes vor ihnen gezweifelt. Und obwohl die Lichtmagierin mittlerweile mit genug Dunkelheit konfrontiert worden war, um ihr einst sehr naives Herz ein Stück zu trüben und sie offener für die Bösartigkeiten der Welt zu machen, konnte sie einen Mann in Not um seine Familie nicht abweisen. Ihr Bauchgefühl, das sie insgeheim vor einer Falle warnte und davor, dass sie und Nico vielleicht ausgenutzt werden könnten, schwieg plötzlich. Es ging um Familie. Eines der höchsten Güter im Leben Marys. Damit hatte Herr Ribbeck sie bereits im Netz, bevor sie ihm ihre Bereitschaft offiziell verkündet hatte.
Auch Nico schien geneigt, der unglücklichen Familie zu helfen. Bei dem ganzen Lob schob sich ein rosaroter Schimmer auf die Wangen der Satyr, der es etwas unangenehm war, so im Mittelpunkt zu stehen. Normalerweise baute Mary lieber die Bühnen für andere Leute, doch hier handelte es sich um eine Mission höheren Grades, für den sie wohl oder übel die Qualifikation besaß. Seit die Gildenmeisterin sie auf den A-Rang erhoben hatte, musste sich Mary mit schwierigen Aufträgen herumschlagen und fand sich immer öfter in der Position einer Leiterin und Anführerin. Ob die Meisterin ein gewisses Potenzial im Landei erkannte und dies insgeheim förderte? Oder handelte es sich dabei doch nur um einen Zufall und sie zweifelte wieder einmal zu sehr an sich selbst? Mary nickte und stemmte die Hände in die Hüften. Herr Ribbeck lehnte sich sichtlich erleichtert in seinem Sessel zurück. Die Anspannung und Autorität, die der Mann wohl sein ganzes Leben hatte ausstrahlen müssen, fielen gleichermaßen von ihm ab. Wie ein Häuflein Elend barg er das Gesicht in magere Hände und schluchzte leise vor sich hin. Das konnte kein Schauspiel sein, oder? Das durfte keines sein. Niemand war derartig perfide!
Mary machte ein paar Schritte durch den Raum und ergriff eine der faltigen Hände des geschundenen Familienoberhaupts. Sie umschloss mit ihren warmen, kleinen Händen die des Mannes und drückte sie fest. "Ich verspreche Ihnen, dass wir unser Bestes geben werden", sprach die Baumgardner mit einer Stimme, deren Entschlossenheit sie beinahe selbst überraschte. "Ich ... ich danke euch. Das Grabmal ist tief in einem Wald ganz in der Nähe von Maldina, am Ende eines tiefen Tals. Seit vielen Jahren war niemand mehr dort. Ihr müsst die Birnen unbedingt finden - um jeden Preis! Ganz egal, was ihr dort findet!" Die Stimme des Mannes erhielt plötzlich einen scharfen Nachdruck. Mary spürte, wie er ihre Hand beinahe schmerzhaft quetschte. Einen Moment wirkte der ältere Herr wie verwandelt, dann schluchzte er jedoch wieder: "Bitte ... ich danke euch ..." "Wir werden keine Zeit verlieren." Vorsichtig löste Mary ihre Hand aus Herr Ribbecks Griff und verließ das Arbeitszimmer in Begleitung des Hausmädchens. Draußen angekommen, massierte sie gedankenverloren ihren gequetschten Handrücken und blickte über das Treppengeländer hinab in die staubige, ausgestorbene Galerie des Foyers mit der vernagelten Eingangstür.
Driiiiiiiiiing. Durchdringend begann ein Alarmglöckchen in Nicos Verstand zu bimmeln. Schrill und klar, schnitt wie ein Messer durch die einlullenden Worte. In der Miene des jungen Mannes zeichnete sich einen Moment lang Ungläubigkeit ab, dann kurz Misstrauen. Die Augen gingen erst weit auf, wurden dann zu dünnen Strichen zusammen gekniffen, die normalerweise wohl andeuteten, dass gleich jemand ordentlich eine ins Gesicht kriegen würde. Nicht, dass die Gefahr bei Nico bestanden hätte. Selbst wenn er sich dazu entscheiden würde jemanden zu schlagen, würde bei der Person kaum Schaden entstehen. Die Hilfsbereitschaft Nicos schrumpelte ebenso rasch wieder zusammen, wie sie entstanden war. "Egal, was ihr dort findet." Nicht ob. Nicht ob oder wenn sie dort etwas fanden, sondern egal, was sie dort fanden. Und seit vielen Jahren war niemand mehr bei dem Grab gewesen. Bedeutete das nicht auch, dass vor vielen Jahren jemand dort gewesen war? Da war dann die Frage, was diese Person gefunden hatte. Vielleicht...ging aber auch einfach nur seine Vorstellungskraft mit ihm durch. Das musste es sein. Bei den ganzen Geschichten und Liedern, die ihm im Hirn rumflitzten, galoppierte grade bestimmt nur das Krimipferd in eine völlig falsche Richtung davon. Der junge Virtuose verbarg seine Irritation hinter einer deutlich übertiefen Verbeugung. Hoffentlich legte man ihm das nur als Dienstbarkeit aus.
Nur wenig später stand er mit Mary alleine draußen vor dem Arbeitszimmer. Ebenso wir ihr Blick, ließ auch er ihn durch das verkommene Innere des Gebäudes gleiten. Vorsichtig, sanft streckte er die spitzen Finger nach der Hand aus, die sie grade knetete und begann selbst sacht damit die Schmerzen aus ihr heraus zu knuddeln. Niemand folgte ihnen beiden nach. Scheinbar mussten sie sich selbst aus dem Haus lassen. Zum Glück war den beiden ja jetzt bekannt, wie das funktionierte. "Lassen wir uns selbst raus, hm?", versuchte sich Nico an einem Scherz. Und trotz aller Selbstberuhigung stellte sich das Krimipferd auf die Hinterhufe und donnerte dann doch noch einmal los. Was, wenn besagte Tochter überhaupt nicht existierte oder gar nicht krank war? Das ließ sich garantiert herausfinden. Die Frage war nur, ob Zeit dafür war. Denn wenn das kleine Alarmglöckchen in seinem Hirn grade Mist verzapfte, setzte er mit Nachforschungen vielleicht ein Leben auf's Spiel. Unverhältnismäßig schweigsam für Nico-Verhältnisse ging es durch die baufälligen Gänge und die Küche zurück nach draußen. Ein besorgter Blick ging rüber zu Mary. Ihr schien die ganze Angelegenheit deutlich näher zu gehen als ihm. Oder vielleicht so nahe, wie sie ihm gegangen war, bevor das Misstrauen seine hässliche Fratze aus den bunten Wirbelstürmen von Nicos Verstand erhoben hatte. "Alles in Ordnung, Mary?" Die Frage erklang mit ungewohntem Ernst. Ohne Schnörkel und dreifache Wiederholung. Es war ungewohnt, dass jemand anders ihm mehr bedeutete als er selbst. Ungewohnt zu wollen, dass jemand anders lächelte und Freude hatte. Ungewohnt, aber nicht unangenehm. Im Gegenteil. "Meinst du wir sollen gleich aufbrechen? Klingt als könnten wir uns eh nicht wirklich drauf vorbereiten, was da in dem Wald lauern mag. Also können wir auch gleich reinlaufen. Im Zweifel baue ich uns einen Weg. Und du boxt alles weg, was uns angreift. Klingt gut?"
Mary schürzte ihre Lippen, wenn sie überlegte oder sich unwohl fühlte. Sie hatte es sich seit Kindesbeinen an unbemerkt von ihrer Großmutter abgeguckt, die - oft gepeinigt von ihrer Schwiegermutter - gelernt hatte, dass es nicht immer gehört wurde, wenn man sich lauthals beschwerte. Mary hatte den zurückhaltenden Charakter von ihr geerbt. Auch sie sollte sich lieber nicht beschweren. Vor allem nach der Geburt ihrer beiden Brüder hatte ihre Mutter genug zu tun, weshalb die Lichtmagierin früh verstanden hatte, dass ihre Gefühle an zweiter Stelle standen. Mittlerweile zählte Mary genug Personen zu ihren Freunden, die sich aufrichtig für sie interessierten und ihr das Gefühl gaben, dass sie über ihre Empfindungen sprechen konnte, doch in aufgewühlten Momenten kroch die Baumgardner noch immer instinktiv in ihr Schneckenhaus. Sie bemerkte vor lauter Gedankenkreiseln gar nicht, dass sie mit Nico das geschundene, baufällige Gebäude verließ und wieder in der schick gepflasterten Seitenstraße standen. Erst, als eine Hecke ihre Schulter streifte, schaute sich Mary um, blinzelnd. "Wie bitte? Oh, sicher", bestätigte der junge Blondschopf. Nein, es ging ihr nicht gut, aber es war alles in Ordnung. Sie hatten eine Quest und konnten immerhin etwas gegen den Zustand der jungen Tochter Ribbeck tun. Hilflosigkeit wäre viel, viel schlimmer. Mary rieb sich die Hand, aus der Nico die Schmerzen geknuddelt hatte und verschränkte ihre kleinen, arbeitsgezeichneten Stummelfingerchen mit den schlanken Klavierspielerhänden ihres Freundes. Sie waren kühl gegen die Wärme, die sie ausstrahlte und fühlten sich angenehm an. Wie ein Anker, der sie zurück aus den Wirbeln ihres Schneckenhauses fischte. Auf die Straße, nach Maldina. In die Realität. "Wir sollten auf jeden Fall so schnell wie möglich aufbrechen. Ich habe Verpflegung dabei", nickte sie, mit eifriger und schneller Stimme, vielleicht auch um von den Emotionen abzulenken, die ihr wie immer ins Gesicht geschrieben standen: Mitleid, Furcht, Sorge. "Aber es kann sein, dass wir im Freien übernachten müssen. Vielleicht hat die Lagerkammer im Gildenhaus Zelte und Decken?" Der Gedanke, in einem tiefen Wald voller unbekannter Gefahren in einem Zelt zu schlafen, bereitete Mary zwar Unbehagen, aber zugleich erfüllte sie die Vorstellung, für eine gewisse Zeit alleine mit dem Peralta zu sein mit einem kribbelnden Gefühl im Magen. Schnell wandte die junge Frau den Blick ab, damit man nicht sah, wie ein dunkler Schimmer auf ihre Wangen kroch. Sie ging voraus, aus dem hübschen Viertel am Rand der Stadt zurück zum Gildenhaus. Mittlerweile hatte sich der Regen geklärt. Alles, was davon übrig war, waren tiefe Pfützen in den Rinnen der Pflastersteine und tropfende, gestreifte Baldachine. Auf dem Weg zum Gildenhaus ertönte plötzlich ein Schrei und eine Horde kleiner Kinder in wasserfesten Stiefeln sprangen energisch von Wasserloch zu Wasserloch. Die Betreuerinnen des Kindergartengrüppchens sahen aus, als hätten sie mit ihrem Leben abgeschlossen. Mary kicherte hinter vorgehaltener Hand und bemerkte, wie all das Leben, das Existieren um sie herum begann, sie vom Tod abzulenken, den sie für die junge Frau Ribbeck fürchtete. Goldene, alle heilende Birnen ... Wie konnte jemand solche Wunder für andere verbergen und sie in seinem Grab horten? Wie vielen Menschen man damit helfen könnte! Mary spürte eine irrationale Wut auf den toten Herrn Ribbeck aufsteigen. Er kam ihr so selbstsüchtig, so arrogant vor. Das eigene Leben vor andere zu stellen - waren das wirklich die Werte, die manche Leute aus dem Süden vertraten? "Wir sollten auch Wechselkleidung einpacken.Und für dich Insektenschutzmittel ... Da ist sicher auch welches im Lager."
"Okay. Das ist gut. Das ist echt gut", brachte Nico leicht stammelnd hervor. Warm legte sich Marys Hand in seine. Sie war so klein. Zumindest im Vergleich zu seiner. Wobei er jetzt zugegeben auch einfach lange Finger hatte. So klein, aber auch ziemlich stark, wie er wusste. Und warm. Wie die ersten Strahlen der Sonne. Eine ziemlich besorgte Sonne. Inzwischen kannte Nico seine Freundin lange genug, um die Anzeichen in ihrem Gesicht richtig deuten zu können. Wie wenn sich ihre Augen zu überschatten schienen, als wenn sich Wolken vor ihre Sonne schöben. Dann war sie besorgt oder traurig. Kurz schaute Nico ihr forschend ins Gesicht. Wahrscheinlich machte sie sich wegen der jungen Frau Sorgen. So etwas ging Mary immer deutlich näher als ihm. Aber grade deswegen musste er auch sein Bestes tun. Nicht nur um die Frau zu retten. Sondern auch weil es Mary glücklich machen würde. Manchmal war es ziemlich einfach den richtigen Weg im Leben zu finden. "Okay. Dann machen wir uns möglichst flott auf die Socken. Hm. Ich glaube da sowas gesehen zu haben. Decken mindestens. Ich glaube auch ein Zelt. Ist wahrscheinlich ziemlich eingestaubt, aber vielleicht können wir es uns ja trotzdem für ein oder zwei Tage ausleihen. Wird normalerweise für Campingausflüge genutzt, glaube ich." Nico, der bei diesen Worten munter Löcher in den sich aufklärenden Himmel starrte, entging die Rötung in Marys Wangen leider vollständig. Was vermutlich besser so war, weil sonst zwei knallrote Tomaten in trauter Eintracht die Straßen Maldinas entlang stravanzt wären. Wobei Nicos Verstand derzeit eher um die möglichen Gefahren raste. Die Quests waren bislang ja ohnehin nicht immer ungefährlich gewesen. Er konnte sich sehr gut daran erinnern, wie Mary an einem viel zu dünnen Seil über einem viel zu hohen Canyon gebaumelt war. Oder wie sie von irgendwelchen Lacrimas beschossen worden waren. Oder wie ein dunkler Magier ihm den Arm...nu-uh. Böse Gedanken! Aus! Pfui! Denkt an was anderes! Just in diesem Moment trat die Horde Kindergartenkinder auf den Plan. Glockenhelles Kinderlachen schallte über die Straße hinweg. Das war verflucht süß. Daran änderte auch das fast schon tote Starren der Betreuerinnen nichts. Neben ihm giggelte Mary amüsiert auf. Langsam breitete sich auch auf Nicos Gesicht ein glückliches Lächeln aus. Na, wer konnte bei so einem Anblick schon missmutig bleiben? Er jedenfalls nicht! Vorsichtig beugte er sich rüber, um Mary einen Kuss auf die Haare zu geben. Das machte er gerne. Erstens war sie so praktisch viel kleiner als er, dass sie auf der exakt richtigen Höhe für solche Aktionen war. Zweitens war er grade gut gelaunt, weswegen das einfach sein musste. Da gab's keine andere Möglichkeit. "Wechselkleidung muss ich dann aber von Zuhause holen. Die habe ich nicht dabei. Habe nicht damit gerechnet, dass wir auf ein paar Tage weg sind. Hm. Da vorne geht's zu meinem Apartment. Sollen wir uns rasch trennen und ich hole dich dann beim Gildenhaus ab? Oder möchtest du rasch mit raufkommen. Ich schwöre, dass man grade sogar alles finden könnte. Auf meine Ehre als Violinist!"
Mary klatschte sich die Hände auf die Wangen, um sich von ihren melancholischen Gedanken abzulenken. Der Kuss auf ihre Haare half dabei. Mehr, als sie zugeben wollte. Sie lächelte Nico an, der ihr ein wirklich verlockendes Angebot machte. Seine Wohnung! Marys Herz klopfte schneller, aber sie schüttelte den Kopf. "Ich muss noch einige Besorgungen machen. Wir treffen uns gleich wieder am Brunnen vor dem Gildenhaus, versprochen." Mit diesen Worten wandte sie sich um und machte sich auf den Weg in die belebten Straßen von Maldina.
Die Künstlerstadt Maldina war ein lebendiger Ort voller Farben und Klänge. Straßenkünstler zeigten ihre Talente, Maler stellten ihre Werke aus, und überall hörte man Musik. Mary liebte es, durch diese Stadt zu wandern, die so voller Leben und Kreativität war. Auch wenn sie sich andauernd verirrte. Aber den Weg zum Gildenhaus fand die Baumgardner mittlerweile wenigstens. Auf dem Weg kaufte sie Proviant für die bevorstehende Reise in den Wald. Frisches Brot, Käse, getrocknete Früchte und Nüsse fanden ihren Weg in ihre Bentobox.
Als sie schließlich das bunte Gildenhaus erreichte, wurde sie sofort von mehreren Leuten angesprochen. "Mary, kannst du kurz helfen? Der Brunnen ist wieder abgeknickt," bat ein älterer Mann mit grauem Bart. Sie seufzte innerlich, aber lächelte freundlich und folgte ihm. Mit sanfter Gewalt brachte sie das Wasser wieder zum Fließen.
Kaum hatte sie sich wieder zum Materiallager aufgemacht, wurde sie erneut aufgehalten. "Mary, eine kleine Bitte, kannst du mir bei der Lichtverzauberung für diese Laterne helfen?" fragte eine junge Frau eilig. Auch hier half Mary schnell aus, indem sie ihre Magie einsetzte, um die Laterne mit einem sanften, warmen Licht zu erfüllen. "Schau, so, ist ganz einfach!" Ach je ...
Endlich im Lager angekommen, begann sie, ihre Ausrüstung zusammenzustellen. Sie wählte ein robustes Zelt, Materialien zum Feuermachen, eine Decke und einige andere wichtige Utensilien. Mit einem zufriedenen Nicken überprüfte sie ihre Liste und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer.
Dort packte sie zusätzliche Wechselkleidung ein. Mary überprüfte alles gründlich und sicherte ihre Taschen und Beutel. Ihr Herz schlug schneller bei dem Gedanken an das bevorstehende Abenteuer. Sie und ihr Freund würden alleine im Wald sein, und obwohl der Auftrag gefährlich war, fühlte sie sich aufgeregt und voller Vorfreude.
Zurück am Brunnen, lehnte sie sich kurz an das kühle, steinerne Becken und dachte darüber nach, was sie erwarten würde. Die Vorstellung, mit ihm im Wald zu sein, nur die beiden, unter den Sternen zu schlafen, brachte sie zum Erröten. Ihre Erziehung war eher traditionell gewesen, und solche Gedanken riefen Erinnerungen an ihre Großmutter hervor, die sie vor Jungen warnte. Aber Nico war kein schlimmer Finger. Er war nett und talentiert, auch wenn er wirklich versuchen sollte, mehr zu schlafen und sein Zimmer in Ordnung zu halten. Wenn Mary bei ihm leben würde, dann würde das alles ganz anders aussehen! Die Vorstellung sorgte dafür, dass ihre Wangen noch mehr Kirschen ähnelten. Gerade, als sie sich in Schürze fröhlich "Willkommen Zuhause" trällern sah, rutschte sie auf dem Stein aus und tauchte mit den Händen in das kalte Brunnenwasser. Innerlich rügte sich Mary. Es ging hier um das Überleben eines Mädchens und sie konnte nicht anders, als zu schwärmen ... Hoffentlich wurde das kein Problem.
"Versprochen!", trällerte Nico munter in Erwiderung. Einen Moment lang blieb er stehen und schaute einfach nur Mary dabei zu, wie sie davon schritt. Es dauerte nicht besonders lange sie zwischen den Passanten zu verlieren. Immerhin überragte ein Großteil der Leute sie um ein oder zwei Köpfe. Mit einem leicht debilen, aber glücklichen Lächeln beobachtete Nico nur zwei weitere Male, wie ihr blonder Schopf zwischen ein paar Schultern auftauchte, bevor er dann selbst den Kopf schüttelte. Zeit sich vorzubereiten. Die paar Straßen bis zu seinem Apartment hüpfte Nico fast schon über das Pflaster. Es mochte eine Weile gedauert haben, aber so langsam ging ihm auch auf, was diese Quest so alles an Gutem hatte. Zwar bestand eine deutliche Chance von irgendeiner gewaltigen Bestie mit Haut und Haaren gefressen zu werden. Aaaaber...es war auch eine Chance Zeit mit Mary zu verbringen. Sicher, da war die ganze Sache damit, dass ein Leben von ihrer zeitigen Rückkehr abhing, aber sie konnten ja nicht mehrere Tage durchmarschieren, oder? Das konnte niemand von ihnen verlangen. Außerdem war der Auftrag schon seit ewig und drei Tagen bei der Gilde. Ein paar Tage mehr machten den Kohl schon nicht fett.
Die Ladenglocke bimmelte ein paar fröhliche Töne durch den Innenraum des Cafés. Frau Tobayashi hob nur träge den Kopf. Wenn jemand wie ein Rhinozeros durch den Eingang brach, wusste sie, dass es sich dabei nur um eine einzige Person handeln konnte. Nico. Eben jener Braunschopf tänzelte zur Theke hinüber, stellte beide Ellenbogen darauf ab und sah mit großen Augen zu ihr hinüber. Nicht hinauf. Wie viele Leute in ihrem Alter war auch Frau Tobayashi in der Wäsche des Lebens deutlich eingegangen. "Hallihallo, liebste Frau Tobayashi. Kann ich Kaffee zum Mitnehmen bekommen. Und ein paar Ihrer wunderbaren Croissants?" Unter leisem Ächzen schob sich die Vermieterin in die Höhe, bediente die Kaffeemaschine hinter der Theke und lupfte zwei Croissants in eine Tüte. Und dann noch zwei weitere, bis Nico damit aufhörte mit dem Finger einen Kreis zu beschreiben. "Längere Reise?" "Mh. Magische Früchte suchen. Monster besiegen. Vielleicht ein Leben retten. Das Übliche." "Das Übliche, mh? Na dann, viel Erfolg junger Mann." Bereits halb wieder draußen krakelte Nico noch ein "Danke" nach hinten, bevor er durch die Türe des Treppenhauses brach wie eine Elfe durch's Unterholz.
Ein Seemann war Nico ganz sicherlich nicht, sofern man einmal von dem tiefen Ozean der Gefühle absah, den er durch seine Kunst zu durchfahren suchte. Einen Seesack hatte er trotzdem. Sein liebstes Transportstück war ja ohnehin eine Umhängetasche und von dort war es nicht sonderlich weit bis zum Seesack. Der war auch nur eine wurstförmige, größere Umhängetasche. Eben jener Seesack ruhte derzeit auf seinem Rücken. Und das Hinterteil wiederum ruhte auf dem Fahrersitz eines kleinen, dicklichen M-Peds. Die Wisp-A hatte sich Nico von seinen Löhnen für die ganzen Quests gekauft. Und vorbildlich wie er war, trug er sogar in der Stadt einen Helm. Notenlinien zogen sich quer darum herum. Sonderlich nötig war der Schutz wahrscheinlich nicht. Die Wisp-A erreichte grade mal die Geschwindigkeit eines Joggers. Aber es war eine Geschwindigkeit, die er nicht selbst auf's Pflaster legen musste, was immer ein Bonus war. Dementsprechend kam Nico nicht grade mit quietschenden Reifen beim Brunnen vor dem Gildenhaus an. Die Wisp-A zuckelte gemütlich über den Platz, kam bequem vor Mary zum Stehen, um es Nico zu erlauben seine Freundin breit anzugrinsen. Mit beiden Händen reichte er ihr einen Helm an, der über und über mit Blumen, vor allem Sonnenblumen, verziert war. Aufgemalt. Keine echten Blumen. "Darf ich dich mitnehmen?"
Mary saß auf dem Brunnenrand und ließ die Beine baumeln. Ihre Augen funkelten vor Vorfreude und Entschlossenheit, diese Quest zu bestreiten. Das große, rote A, schwebte noch immer wie ein Damoklesschwert über ihr, doch sie versuchte, nicht zu sehr über die Gefahren nachzudenken, die auf sie warten mochten.
Doch als das leise Summen eines Motors die Stille ihrer Gedanken durchbrach, hob Mary überrascht den Kopf. Da kam Nico – aber nicht zu Fuß, wie sie es erwartet hatte. Stattdessen glitt er auf einer Vespa heran, die im Sonnenlicht fast unwirklich schimmerte. Ein breites Lächeln legte sich auf ihre Lippen und sie hob schnell eine Hand, um das Lachen unter Kontrolle zu bringen, das sich ihre Brust hochkämpfte.
Nico sah so stolz aus. Er hielt Mary einen Helm entgegen, der mit bunten Blumen bemalt war. Noch immer amüsiert und verwundert nahm sie ihn entgegen. Etwas umständlich (ihre Erfahrung mit solchen Dingen hielt sich in Grenzen) setzte sie ihn auf und kletterte hinter ihm auf die Vespa. Der Motor summte unter ihnen, als sie sich unsicher an seinen Schultern festhielt. Bei der Berührung durchfuhr Mary ein warmes Prickeln, das sie verlegen machte. Ihr Herz schlug schneller, nicht nur wegen des bevorstehenden Abenteuers im Wald, sondern auch wegen der Nähe zu Nico, die sie plötzlich so bewusst wahrnahm.
Sie konnte die sanfte Wärme seines Rückens durch ihre Kleidung spüren. Ihre Wangen wurden heiß, und sie senkte den Blick, um ihre Verlegenheit zu verbergen. Der Duft seiner Haare, das vertraute Gefühl seiner Nähe – all das löste eine Welle von Gefühlen in ihr aus. Um sich nicht zu verplappern, schlang sie ihm die Arme um die Körpermitte und drückte ihre Nase an seinem Rücken platt. "Bin bereit", nuschelte sie, kurz vorm Verglühen.
Die Vespa summte fröhlich, als Mary und Nico durch die malerischen Straßen Maldinas brausten. Bunte Fassaden, verziert mit Wandgemälden und kunstvollen Graffiti, zogen an ihnen vorbei, und die Luft war erfüllt vom Duft frischer Farben und Blumen. Straßenmusiker spielten lebhafte Melodien, während Maler ihre Staffeleien unter schattigen Bäumen aufstellten. Mary hielt sich fest an Nico, spürte den Wind in ihren Haaren und konnte nicht anders, als zu lächeln. Die Lebendigkeit der Stadt, das pulsierende Leben und die künstlerische Freiheit, die in der Luft lag, erfüllten sie mit einer tiefen Freude. Es war, als ob Maldina selbst ihre Abenteuerlust und die aufkeimende Romantik in ihrem Herzen widerspiegelte, während sie gemeinsam durch die Gassen rasten, umgeben von Kreativität und Magie.
Als sie das alte Stadttor von Maldina hinter sich ließen, öffnete sich vor ihnen eine weite, ländliche Landschaft. Die engen, belebten Gassen der Stadt wichen offenen Feldern und sanften Hügeln, die im warmen Sonnenlicht erstrahlten. Mary atmete tief die frische Landluft ein, die nach Wildblumen und frischem Gras duftete. Die Vespa summte leise, während sie auf einem schmalen Weg zwischen goldenen Weizenfeldern entlangfuhren. Das Zwitschern der Vögel und das gelegentliche Wiehern von Pferden waren die einzigen Geräusche, die die friedliche Stille durchbrachen. "Du, Nico, du solltest noch etwas wissen, bevor wir am Wald ankommen ...", reihte sich Marys Stimmchen in die Kakophonie der Natur ein. Sie sprach etwas lauter, um das Brummen des Motors zu übertönen. "Vor einer Weile habe ich einen magischen Hirsch gerettet und er hat eine Art Segen auf mich gesprochen. Er meinte, dass mir in Wäldern des Südens niemals Leid widerfahren wird. Meinst du, das wird relevant ...?"
"Dann geht's los. Festhalten!", merkte Nico in der allerbesten der besten Launen an. Ein wenig hatte er befürchtet, dass Mary mit ihm schimpfen würde, warum er seine hart erarbeiteten Jewels für ein M-Ped ausgegeben hatte. Immerhin war ein M-Mobil doch deutlich praktischer, auch wenn er die noch nicht fahren durfte und man ihm deswegen keines hatte verkaufen wollen. Die Wisp-A war zwar günstiger gewesen als ein M-Rad, aber die Modifikationen hatten die Preisdifferenz gefressen wie gewissen Feen winzige Pastetchen. Aber sie hatte nicht geschimpft. Das war schon einmal schön. Und was noch schöner war, dass sie sich grade an ihm festhielt. Er konnte die Kraft spüren, die in ihren Armen steckte, als sie sich um ihn schlangen. Das war fast wie eine Umarmung, nur halt länger anhaltend. Und er mochte Umarmungen. Besonders, wenn sie Mary involvierten. Ihre Nase bohrte sich in seinen Rücken, sandte winzige, wohlige Böen durch seinen Mantel hindurch. Die Sonne trug ihren Teil zur allgemeinen Erwärmung der Situation bei. Gemütlich surrte das M-Ped durch die Straßen Maldinas. Der Fahrtwind reichte kaum dazu aus, um die Mantelschöße Nicos ein wenig flattern zu lassen. Mehr als einmal musste er den überraschten Ruf von jemandem erwidern, der ihm bekannt war. Barret, ein Cafébesitzer, bei dem Nico sich gerne Pastetchen holte, winkte in ihre Richtung. Eine im Vorbeifahren gerufene Entschuldigung dass Nico auf keinen Fall den Lenker loslassen würde später, kringelte sich der Mann vor amüsiertem Lachen.
Nach Maldina eröffneten sich die weiten, goldenen Wogen der Ährensee Süd-Fiores. Die Farbe erinnerte Nico immer an Marys Haare. Die konnte er zwar grade leider nicht sehen, aber er war sich sehr sicher, dass sich die Farben sich stark ähnelten. "Hm?", machte der junge Mann einen interessierten Sozialgrunzer. Was auch immer Mary zu erzählen hatte, er wollte es definitiv hören. Vermutlich hätte er ihr selbst dann gebannt zugehört, wenn sie das Adressregister ganz Maldinas vorgelesen hätte. Die Information entlockte ihm zuerst vergnügtes Kichern, was in einen kurzen, amüsierten Lachanfall überging. Das M-Ped verlangsamte ein wenig, als Nico für den Moment vergaß Gas zu geben. "Das könnte durchaus relevant werden. Wann ist das denn passiert? Wie hast du das geschafft? Warte, warte." Das Surren des Motors nahm immer weiter ab, als Nico die Wisp-A zum Stillstand brachte. Eine Herde Schafe kreuzte den ohnehin kaum mehr befestigten Weg. Der Hirte reagierte auf das fröhliche Winken Nicos mit einem bedächtigen Nicken. Für einen Moment kam einer der Hirtehunde vorbei, streckte neugierig die Nase nach Nicos dargebotenen Fingern und Marys Waden aus, zog dann aber doch rasch wieder von dannen. Zu dem Wiehern der Pferde und dem Zwitschern der Vögel gesellte sich das unablässige Bahen der Schafe und das sanfte Klingeln von Glöckchen. Nico lehnte sich mit einem Arm auf den Lenker, schnallte den M-Plug ab und schüttelte den Arm aus. Halb umgedreht grinste er Mary maximal erfreut ins Gesicht. "Okay. Wir haben einen Moment Zeit. Wie hast du einen magischen Hirsch gerettet? Ich will alles wissen. Da lässt sich doch bestimmt ein Liedchen draus machen. Oh, und...gefällt dir die Fahrt?" Das letzte kam ungewohnt verhalten aus Nicos Mund, der sonst doch so die Angewohnheit nicht nur mit der ganzen Tür, sondern dem Rahmen gleich dazu ins Haus zu fallen.
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