Ortsname: Schatz der Pyramiden Art: Gebäude Spezielles: --- Beschreibung: Diese durchaus beliebte Kneipe ist zwar geräumig, aber bei Weitem nicht so prunkvoll, wie der Name impliziert. Dafür ist es im Inneren immer angenehm kühl. Der Besitzer Garrett, ein Bullenmann, ist bekannt für seine schmackhaften Milchgerichte, seinen guten Alkohol und seinen kräftigen Körperbau. Auch unter den restlichen Beschäftigten findet sich kein einziger Mensch, dafür sehen die hübschen Bardamen aber alle ein gutes Stück jünger aus, als sie sind. Unter ihnen finden sich eine Elbin, ein Golem und sogar eine lebende Mumie!
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Zuletzt von Untiefe am Do 6 Jul 2023 - 22:01 bearbeitet; insgesamt 1-mal bearbeitet
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Lian Thief in Distress
Anmeldedatum : 03.10.20 Anzahl der Beiträge : 2005 Alter : 31
Endlich! Unglaublich, aber wahr: Lian hatte gute Laune. Etwas, das man gemessen an den letzten Wochen und Monaten als etwas Besonderes bezeichnen konnte. Wann hatte der Falls sich das letzte Mal so locker leicht gefühlt wie heute? Mehr als das: Er empfand richtige Vorfreude! Die Baustellen, mit denen der 21-Jährige sich zuletzt hatte auseinandersetzen müssen, waren einfach zu viele geworden: Seien es Konflikte mit anderen Gildenmitgliedern, Familienstreitigkeiten, Liebesdrama oder die unerwartete Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit. Aber heute war es anders: Heute ging es nicht darum, sich mit den schwierigsten Fragen des eigenen Lebens auseinanderzusetzen (oder doch?), sondern sich schlicht und ergreifend mit Charon Dargin in irgendeine Bar von Aloe Town zu verziehen, ein Bier nach dem nächsten zu trinken und dabei miteinander in vielleicht mehr, vermutlich aber eher weniger tiefgründige Gespräche abzudriften. So ungefähr sah die Vorstellung des Falls aus, der sich gerade einen weißen Kapuzenpullover über den Kopf zog und das wuschelige Haar danach aus der Stirn strich. Sein Blick flog zur Uhr – so langsam sollte Charon bereit sein, oder? Lian, der zuletzt ausreichend Erfahrung damit gemacht hatte, wie lange der Finsternismagier benötigte, um sich fertigzumachen, hatte sich heute bewusst Zeit gelassen, um erst später beim Dargin aufzutauchen. Ausnahmsweise hatte der Illusionist mal keine Lust, tatenlos auf dessen Bett herumzusitzen und die Wand anzustarren. Aber jetzt war es spät genug, die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden und eine angenehm kühle Luft verbreitete sich auf den Straßen der trockenen Wüstenstadt.
Es war offiziell an der Zeit, um Charon Dargin abzuholen.
Lian nahm zwei auf der Treppenstufen auf einmal, um in das höhere Stockwerk des Gildenpalastes zu gelangen und klopfte direkt an, kaum dass er an der Tür von Charon angekommen war. Der Braunhaarige war durch und durch motiviert und seine Kalkulation offensichtlich aufgegangen: Nicht nur öffnete der ältere Magier wenige Sekunden nach dem Klopfen bereits die Tür, er war auch bereit zum Aufbruch. Die hellgrünen Augen musterten den älteren Magier aufmerksam, der mit weißem Hemd und schwarzer Weste verdammt förmlich aussah. Und irgendwie jünger, oder? Tja, da hatte der Dargin wohl eine gute Anti-Aging-Creme für sich entdeckt. Lian grinste. „Du hast bereits auf mich gewartet?“, waren die ersten Worte, die dem Falls über die Lippen kamen und er neigte den Kopf zur Seite. „Entschuldige, weißt du, ich konnte mich einfach nicht entscheiden. So viele Outfits, so viele Frisuren, dazu noch Schmuck und Accessoires… da ist die Entscheidungsfindung nicht immer einfach.“ Lians Seelenspiegel blitzten amüsiert auf. War klar, dass Lian die Aussage nicht ganz ernst meinte, oder? Erneut musterte er das Outfit seines Freundes und fragte sich, wie lange Charon wohl gebraucht hatte, um sich dafür zu entscheiden. Vorsichtig linste er an dem Hellhaarigen vorbei, wollte einen Blick auf sein Zimmer erhaschen – falls dort noch Spuren der vorherigen Anprobe zu entdecken waren. Aber Lian sah nichts – vermutlich hatte Charon sämtliche Spuren bereits weggeräumt. Egal, es gab wichtigere Dinge! „Ja, lass uns losgehen. Ich kann es kaum erwarten.“ Anstatt in die Wohnung einzutreten, winkte der Braunhaarige seinen Freund hinter sich her und drehte sich auf dem Absatz um. Seite an Seite schlenderten sie dem Ausgang des Gildenpalastes entgegen. „Bevor ich dir verrate, in welche Bar ich dich entführen möchte“, begann Lian gutgelaunt und sah mit einem aufmerksamen Seitenblick zum Dargin. „Kennst du dich mit der Kneipenlandschaft Aloe Towns überhaupt aus? Nicht, dass ich jemals mitbekommen hätte, dass der großartige Charon Dargin in einer Kneipe Aloe Towns gesichtet worden wäre…“
“Aber natürlich”, lächelte Charon auf seine altbekannte Weise, als Lian hervorhob, dass der Dargin tatsächlich auf ihn gewartet hatte. “Ich bin mit meinem besten Freund verabredet… Da erwischt selbst mich eine gewisse Vorfreude.” Den warmen, ruhigen Gesichtsausdruck dürfte Lian zur Genüge kennen. Die Offenheit, mit der der Ältere ihm begegnete, war aber vielleicht etwas weniger gewohnt. Nachdem der Dargin in letzter Zeit zunehmend akzeptiert hatte, dass auch jemand wie er seine Freunde nicht nur schätzte, sondern gar brauchte, fiel es ihm etwas leichter, etwas weniger restritktiv mit seinen eigenen Gefühlen und Gedanken umzugehen - und dass Lian sein bester Freund war, daran gab es keinen Zweifel. Insofern… konnte er das gerne erwähnen. Ein Seufzen entkam ihm, als der Schütze davon anfing, wie lange er gebraucht hatte, um sich fertig zu machen. “Wem sagst du das?”, erwiderte Charon, schüttelte leicht den Kopf. “Was denkst du, wie lange ich…” Er stockte, stoppte. Seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen, während er den Falls unbeeindruckt anstarrte. “Ah. Ha, ha. Sehr witzig.” Kurz behielt der Dargin seinen ernsten Blick bei, ehe sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete und seine Augen amüsiert funkelten. Zugegeben, lustig war es schon. Spielerisch klopfte er seinem Kumpel an den Oberarm. “Na, schön, dass du was Passendes gefunden hast. Komm, machen wir uns auf den Weg.”
Auf dem Weg die Treppe herunter, in Richtung des Ausganges der Gilde, hinauf auf die Straße, wo sie zusammen ihre Kneipe des Abends finden würden, hatte Lian tatsächlich eine interessante Frage im Sinn. Hatte er Charon wirklich noch nicht trinken gehen sehen? “Ach, die eine oder andere Bar hier kenne ich schon. Ich finde es eigentlich ganz angenehm, abends mal ein paar Gläser trinken zu gehen”, lächelte er, nicht ahnend, wie viel mehr als ein paar Gläser sein Begleiter sich manchmal gönnte. “Wobei… du hast nicht Unrecht. Hier in Aloe Town geh ich gar nicht so oft aus. Meistens besuche ich Kneipen, wenn ich auf Reisen unterwegs bin… außerorts.” Eigentlich eine interessante Sache. Es war nicht so, als würde der Dargin es nicht genießen, auszugehen… Warum also tat er es hier so selten? Es gab eine handvoll Leute, perspektivisch steigend, mit der er hier immer mal Zeit verbrachte, aber dann war es ein unschuldiger Besuch oder ein gemeinsames Essen beim Gastgeber, vielleicht mal eine Teestunde. So etwas. Zum gemeinsamen Trinken würde er sie eher nicht einladen, obwohl er das unterwegs immer mal machte - damals mit Mareo war es ein schöner Abend gewesen, und selbst der ruhige Moment mit Shukketsu in Hargeon. “Ich schätze, es ist angenehmer, wenn man nicht jemandem über den Weg laufen kann, den man kennt”, stellte er fest und konnte nicht anders, als zu schmunzeln. “So eine Freizeitbeschäftigung passt ja nicht unbedingt zu meinem Image…”
Ja, Lian hatte wirklich Ewigkeiten gebraucht, um dieses unglaubliche Outfit zusammenzustellen, in dem er am heutigen Abend vor Charon trat. Weißer Kapuzenpullover, schwarze Hose, einfaches Schuhwerk… und der silberne Ohrring, den man immer an seinem linken Ohr fand. Tja, so eine exquisite Zusammenstellung von verschiedensten Kleidungsstücken bekam bei Weitem nicht jeder hin! Lian grinste auch noch dümmlich, als Charon und er sich schon längst auf den Weg zum Ausgang des Gildenpalastes begeben hatten und der Scherz eigentlich nicht mehr lustig war. Der Finsternismagier war einem Kneipenabend grundsätzlich also nicht abgeneigt? Klar, irgendwie naheliegend, ansonsten hätte der Ältere vermutlich anders auf die Verabredung reagiert. Andererseits war es schon so, dass sich der Falls schwer damit tat, sich seinen eher vornehmen Freund bei einem Bier in irgendeiner Kneipe vorzustellen. Auch Lian hatte Charon bisher eher als Teetrinker kennengelernt. „Ah, verstehe. Da ist es natürlich praktischer, wenn man gar kein Image hat, das es zu verteidigen gilt“, kommentierte er achselzuckend und mit spielerisch zur Seite geneigtem Kopf. „Du wirst es bestimmt nicht bereuen, heute eine Ausnahme gemacht zu haben.“ Der Falls zwinkerte Charon siegessicher zu und deutete dann auf den Ausgang des Gildenpalastes, auf den die beiden Magier zuhielten.
Lian hielt sich zuerst zurück damit, Charon zu offenbaren, wohin genau sie gingen. Die Sonne war noch nicht lange untergegangen, dennoch konnte man bereits jetzt einen kühlen Windhauch spüren, der durch die teilweise engen Straßen der Stadt wehte. Es waren viele Menschen unterwegs – kein Wunder. Einigen Tätigkeiten konnte man unmöglich bei der sengenden Hitze des Tages nachkommen, sodass gerade die Abendstunden eine gute Ausweichmöglichkeit boten. Der Falls ließ die Hände in die Taschen seines Pullovers wandern, ließ den Blick kurz über die verschiedenen Menschen auf der Straße schweifen, ehe er sich wieder Charon zuwandte. „Tatsächlich ist mein Ziel eine Kneipe, in der ich erst vor kurzer Zeit mit einer guten Bekannten war.“ Gute Bekannte? Na, das ließ Lian für den Moment einfach mal so im Raum stehen. Stattdessen führte er weiter aus: „Vielleicht nicht so prunkvoll, wie du es wohlmöglich sonst gewohnt bist. Aber ich verspreche, das Bier wird nicht enttäuschen. Kennst du den Schatz der Pyramiden?“ Und damit war er raus, der Name. Es war eine Kneipe, die einigen Menschen in Aloe Town etwas sagte, denn sie war groß, geräumig und nicht zuletzt bezahlbar. Gelegentlich kam es hier zu Zwischenfällen, aber insgesamt hatte der Inhaber – Garrett – seinen Laden ganz gut im Griff. Kein Wunder: Der Stiermensch war eine Erscheinung, die für sich alleinstehend schon schnell respekteinflößend sein konnte. Soweit sich Lian erinnerte, waren alle Mitarbeitenden in der Bar Tiermenschen und für einen winzigen Augenblick fragte sich der Braunhaarige, ob das vielleicht unterbewusst zu seiner Vorliebe für diese Lokalität beigetragen hatte… er schob den Gedanken schnell wieder beiseite. "Dahinten ist die Bar.“ Lian und Charon waren gerade um eine Straßenecke gebogen, da deutete der 21-Jährige mit einem Kopfnicken in Richtung eines hängenden Schildes, das leicht in der kühlen Abendbrise schaukelte. Es war gar nicht allzu viel Zeit vergangen, seit Lian aufgrund seiner Quest mit Isabelle hier gewesen war. Ob der Inhaber sich wohlmöglich noch an ihn erinnerte? „Solltest du die Bar nicht kennen, bin ich schon sehr gespannt auf dein Feedback.“ Mit einem Seitenblick musterte Lian seinen Freund, nur noch wenige Meter von dem Etablissement entfernt.
Lian hatte aber auch wirklich keine Lust, das doofe Grinsen wieder von seinem Gesicht zu wischen, hm? Hämisch wie immer, der alte Gauner. “Oh? Kennst du jemanden, der ohne Image durch die Welt läuft?”, hakte der Dargin gespielt unschuldig nach, während er die Aussage seines Begleiters herausforderte: “Über dich hört man heutzutage schließlich an jeder Ecke etwas.” Und auch, wenn Charon nicht unbedingt der allseits beliebte Promi war, als den er sich gern sehen würde, gab es doch erhebliche Unterschiede darin, was für Gerüchte über ihn kursierten und mit welchen Lian bedacht wurde. Und dennoch war er hier, bereit den Abend zu verbringen mit jemandem, der schlimmstenfalls als zwielichtige Gesellschaft durchgehen würde. Heute war so ein Abend, an dem der Dargin das, was ihm persönlich wichtig war, tatsächlich über seinen Ruf stellte. “Ich bin nicht der Typ für Reue”, erwiderte er und grinste den Schützen an. “Also machen wir uns heute einen tollen Abend.” Wenn man schon gemeinsam etwas trinken wollte, dann war die Location natürlich fast genauso wichtig wie die Begleitung. Dass Lian in der Hinsicht gut informiert war, war wenig überraschend. Charon erinnerte sich noch gut an dem Tag, an dem er komplett geschockt darüber gewesen war, dass der Falls den Fellball, der sein Shirt ruiniert hatte, als Freund bezeichnet hatte - weil es ja so abwegig gewirkt hatte, dass ausgerechnet Lian mehr Freunde haben können. Inzwischen hatte der Dargin seinen eigenen Kreis ausgebaut und auch anerkannt, dass Leute, die nicht er selbst waren, Lian sympathisch finden konnten, insofern war er nicht allzu geschockt, dass auch der Brünette sich mal von einer Dame begleiten ließ. “Ich hoffe, du vergleichst mich nicht mit einer einfachen guten Bekanntschaft”, schmunzelte er, hob fordernd die Augenbraue. “Um ihretwillen, natürlich.” Wie man es auch drehte und wendete, das konnte kein schmeichelhafter Vergleich sein. Leicht amüsiert kicherte der Dargin vor sich hin. “Aber ja, der Schatz der Pyramiden sagt mir etwas. Es ist optisch durchaus ansprechend, und ich mag tatsächlich das etwas kühler gehaltene Ambiente.” Wobei das nichts daran änderte, dass er noch nicht viele Erfahrungen mit dem Ort gesammelt hatte. Warum eigentlich nicht? Es dauerte von Crimson Sphynx aus nicht lange hierher und die Kelnerinnen setzten sich durchaus ansprechend in Szene.
Gerade Letzteres fiel deutlich auf, als die beiden in die kühl und dunkel gehaltene Bar eintraten. Gerade waren zwei Damen an den verschiedenen Tischen unterwegs, auch wenn es nicht ganz leicht zu erkennen war, um was für Personen es sich dabei handelte. Die dunklen Augen der einen Kellnerin bildeten einen merklichen Kontrast zu ihrer fahlen Haut, die im schwachen Licht der Kneipe fast zu leuchten schien, doch wenn man davon absah, von ihren leichten Augenringen und von den scharfen Eckzähnen, die in ihren Mundwinkeln glitzerten, konnte man sie schon fast für einen einfachen Menschen halten. Die andere war einfacher zu deuten: Ein Blick auf ihre Handgelenke und auf das freigelegte Stück ihres Bauches zeigte Ansätze von Fellwuchs, auch wenn es sehr gut getrimmtes Fell war. Besonders um ihren Hals herum legte es sich fast wie eine aufgeplusterte Boa, während sie an anderer Stelle alles bis zur Haut wegrasiert oder sogar Muster hineingegraben hatte. Die genaue Tierart dieses offensichtlichen Tiermenschen konnte Charon aber mit einem einfachen Blick nicht feststellen. Er hatte ohnehin nicht vor, sich heute von ihnen bedienen zu lassen. “Setzen wir uns an den Tresen?”, hakte er nach bei seinem Begleiter. So gehörte sich das ja wohl, wenn man gemeinsam trinken und über all die unausgesprochenen Dinge zwischeneinander sprechen wollte. Charon hatte schließlich versprochen, Lian ein bisschen was über seine Vergangenheit zu erzählen, da konnte er nicht auf einen Kellner warten, um sein Glas zu füllen - was leer war, musste voll werden, und zwar Dalli. Da hatte man direkt an der Quelle zu sitzen. Zweimal tippte der Dargin auf das alte Holz, als er sich hingesetzt hatte. “Zwei Gläser Bourbon, bitte”, bestellte er und grinste herausfordernd. “Die gute Sorte.”
Während er mit Charon in die dunkle Kneipe eintrat, dachte Lian über die verschiedenen Aussagen nach, die sein Freund während des Weges getätigt hatte. Über den Falls hörte man heutzutage an jeder Ecke etwas? Das war nicht gerade das, was der Braunhaarige hatte hören wollen, zerstörte es mal wieder seine Illusion, immer noch ein unbeschriebenes Blatt in dieser wirren Welt zu sein. Lian hatte nie bekannt werden wollen – erst Recht nicht in dem Sinne, in dem er es heutzutage war – und doch war es geschehen. Die Gerüchte darum, dass er nur mithilfe eines Gönners an seinen hohen Rang in der Magiergilde hatte kommen können, waren der Anfang gewesen. Dann die Gerüchte darum, dass er irgendein Monster im Norden Fiores mit einem Fingerschnipp hätte besiegen können, was so manchen Gildenangehörigen ziemlich verwirrt hatte – zurecht, wohlgemerkt. Nicht er hatte dieses Monster besiegt, sondern Minerva, aber das war ein Geheimnis, das nur Arkos aus der Gilde Satyrs Cornucopia kannte. Und nicht zuletzt hatte es Gerüchte um den Falls und irgendwelche Frauengeschichten gegeben, die allem voran durch Evies unvorteilhaften Auftritt auf dem Vorplatz des Gildenpalastes entstanden waren. Ja… je mehr Lian darüber nachdachte, desto mehr Dinge kamen ihm in den Sinn, die dafür sorgten, dass wildfremde Menschen sich das Maul über ihn und seine Existenz zerrissen. Manchmal wurde der 21-Jährige damit direkt konfrontiert, weil Menschen ihn darauf ansprachen, meistens versuchte er dem Ganzen allerdings aus dem Weg zu gehen und zu ignorieren. Charons Worte machten jedoch deutlich, dass Ignorieren allein nicht dafür sorgte, dass diese Gerüchte einfach verschwanden. Vielleicht musste Lian sich mit diesen Thematiken doch irgendwann aktiv auseinandersetzen? Die Frage war nur… wie? „Tresen klingt nach einem hervorragenden Plan“, stimmte Lian seinem Freund zu und riss sich damit nicht nur aus den eigenen Gedanken, sondern auch vom Anblick der außergewöhnlichen Kellnerinnen im Lokal ab. Die Sphynx hatte sich noch gar nicht richtig gesetzt, da tippte Charon bereits auf den hölzernen Tresen und bestellte die Getränke. Zwei Gläser Bourbon? Lian hätte sich auch mit einem einfachen Bier zufriedengegeben, aber natürlich war er in diesem Sinne flexibel und anpassungsfähig. Die Stimme des Barkeepers drang an sein Ohr: “Moment, dich kenne ich doch.“ Lian drehte das Gesicht herum und fand sich bestätigt: Dort stand Garrett, der Besitzer der Bar. Er war immer noch genauso respekteinflößend wie damals, obwohl es dieses Mal ein Grinsen war, was sich auf den Lippen des bulligen Mannes wiederfand. Garrett musterte den Falls von oben herab und nickte kurz. “Heute in anderer Begleitung unterwegs, hm?“ Er sah zu Charon, schnaubte ein wenig (was sollte dieses Schnauben denn bitte bedeuten?) und drehte sich danach wieder zum Falls. Mit routinierten Bewegungen machte sich der Barbesitzer daran, der Bestellung des Dargin nachzukommen, ließ es sich aber nicht nehmen, währenddessen weiterzusprechen. “Und? Habt ihr den Ehering von diesem Idioten gefunden?“ Eine Anspielung auf die damalige Quest, die Lian gemeinsam mit Isabelle in den Schatz der Pyramiden geführt hatte. Garrett öffnete die Bourbonflasche mit einer geübten Handbewegung, wodurch sich ein verlockendes Aroma von Vanille, Karamell und Eichenholz in der Luft ausbreitete. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit wurde in zwei bereits mit Eiswürfeln ausgestattete Gläser gegossen – etwas, das Lian besonders aufmerksam von seinem Sitzplatz aus beobachtete. „Hm. Haben wir. Er hat ihn in einer Karaokebar verloren.“ Erinnerungen an Isabelle und ihr in der Karaokebar gemeinsam gesungenes Lied blitzten in den Gedanken des Falls auf. Wie es der Blonden wohl ging? Es gab noch viele Fragen zwischen ihnen, die nicht beantwortet worden waren… Lian entschied, Isabelle bald mal wieder aufzusuchen. Aber nicht heute. Stattdessen griff der Wüstenbewohner nach einem der Gläser, die ihm und Charon von Garrett zugeschoben wurden und schwenkte es leicht. Mit einem Kopfnicken verabschiedete sich der Barbesitzer vorerst wieder, um sich um andere Gäste zu kümmern. Der Dargin und Lian waren also wieder unter sich. „Wie gesagt, ich war vor kurzem erst hier.“ Zumindest eine kleine Erklärung für Charon, ehe das Glas mit einem breiten Lächeln im Gesicht in die Höhe gehoben wurde. „Auf einen guten Abend.“ Lian trank einen Schluck, stellte das Glas danach zurück auf den Tresen und stützte das Kinn auf der rechten Hand ab, um Charon mit einem Seitenblick zu mustern. Die Gründe, warum sie hierhergekommen waren, waren eindeutig und so sprach der Falls geradeheraus los: „Also… die Umstände, aus denen Charon Dargin kommt. Welche sind das?“ Kurze Stille folgte, dann das leise Lachen des Illusionisten. „Oder brauchst du ein bisschen mehr… Aufwärmphase?“ Der Falls schmunzelte. Sie konnten natürlich auch bei einem unverfänglichen Thema wie Hobbys starten – der Abend war immerhin noch jung.
Leicht hob Charon eine Augenbraue, als der Barbesitzer – ein recht ungehobelter Bulle, der vermutlich herzlich wenige Alternativen in der Jobwahl hatte – mit Lian sprach, als würde er ihn gut kennen. „Richtiger Stammgast hier, hm?“, stellte Charon amüsiert fest, während er darüber nachdachte, warum Lian jemandes Ehering suchen sollte. War das eine Quest? Oder irgendein komischer Freund? „Irgendwelche Verheirateten in deinem Freundeskreis?“ Weiter hakte der Dargin nach, während er sich in seinem Sitz zurücklehnte. Irgendwie fühlte er sich in der Atmosphäre einer einfachen Bar gerade ganz wohl. „Oder warum bist du einem Ring in eine Karaokebar gefolgt, hm?“ Allzu erpicht wirkte der Falls auf dieses Gespräch ja nicht. Zugegeben, sie waren auch für ein anderes hier. Sich von der heiteren Stimmung seines Freundes mitreißen lassen hob auch Charon sein Glas. „Auf einen guten Abend.“ Gemeinsam einen Schluck getrunken, ging es nun wohl offiziell los. Lian Falls, der normalerweise ernste Gespräche mied wie die Pest, konnte es wohl kaum erwarten, die Geheimnisse des Charon Dargin zu erfahren. „Immer erst die Anderen, hm? Denk nicht, du kannst dich am Ende einfach wegducken und still bleiben“, schmunzelte das Weißhaar, wehrte sich aber nicht dagegen, den ersten Schritt zu machen. Stattdessen lachte er. „Hah, eine Aufwärmphase. Als würden mich ein paar Worte einschüchtern. Hm...“
Aufwärmen musste er sich auf jeden Fall nicht. Kurz überlegen, wie genau er die Geschichte beginnen wollte, sollte er aber wohl. Die Umstände, aus denen Charon Dargin kam, hm... Was beschrieb seine Herkunft wohl am Besten? „Ugh...“ Ein gequältes Geräusch entkam Charons Hals, während sein Kopf enttäuscht zu hängen begann. Allein der Gedanke daran, wie er aufgewachsen war, war deprimierend. Und er entschied sich so sehr von Allem, was der Magier heutzutage repräsentierte, dass Lian wohl aus allen Wolken fallen würde, wenn er die Wahrheit hörte. Es war kaum vorstellbar, jemandem davon zu erzählen, den er gerade kennen gelernt hatte, geschweige denn jemandem, der bereits ein klares Bild von ihm hatte! „Ich glaube, das war gar keine so gute Idee...“, stellte Charon fest, den Blick auf sein Glas gerichtet, das er langsam anhob, um die Flüssigkeit darin zu schwenken. „Es ist nicht so, als hätte meine Herkunft viel mit meinem Ich von heute zu tun... und du willst es vermutlich ohnehin nicht hören. Es klingt so... absurd.“ Er schüttelte den Kopf, nahm noch einen Schluck. Aber so einfach würde Lian ihn wohl nicht davonkommen lassen, oder? Der Falls ahnte vermutlich gar nicht, wie viel Überwindung es seinen Freund kostete, etwas über sich zu offenbaren, das er nicht einmal in seinem eigenen Kopf akzeptieren konnte.
„Ist ja gut, ist ja gut. Also, ich...“ Charon sprach, stockte. Der Satz wollte sich einfach nicht beenden lassen. „Es fällt dir vermutlich schwer, das zu glauben, aber ich...“ Frustriert schlossen sich die Augen des Dargin, seine Lippen pressten sich zusammen. Wie schwer konnte das denn sein? Mit einem entschlossenen Blick wandte er sich zu dem Schützen, nahm einen tiefen Atemzug. „Ich komme nicht aus einer Adelsfamilie. Nicht einmal aus einer wohlhabenden!“ Sichtlich angespannt starrte er in die Augen seines besten Freundes, wartete auf die Reaktion, von der er wusste, dass sie kommen würde. Das Urteil. Die Enttäuschung. Der Schock. „Genauer gesagt... gehören meine Eltern der Arbeiterklasse an“, seufzte er und schüttelte den Kopf, ein verschämtes Lächeln auf seinem Gesicht. „Ich kann mir gut vorstellen, was du denkst... Es ist ziemlich lächerlich, nicht wahr...?“
„Verheiratete in meinem Freundeskreis? Sehe ich für dich so aus?“ Lian ließ sich seine Bekanntschaften durch den Kopf gehen – Bekanntschaften, zu denen unter anderem auch Charon Dargin zählte – und musste einfach über diese lächerliche Frage lachen. Menschen, die in solch geordneten Bahnen lebten, machten vermutlich einen großen Bogen um eine Persönlichkeit wie den Falls. Genauso, wie es auch umgekehrt der Fall war, wie der Braunhaarige gedanklich ergänzen musste. In seinem Freundeskreis gab es nicht einmal Menschen, die fähig waren, eine stabile Beziehung zu führen (ihn miteingeschlossen). Es war also noch ein langer Weg, bis man von Themen wie lebenslanger Bindung sprechen konnte. Lian stieß mit seinem Freund an, trank von dem Glas und schmeckte bewusst die brennende Süße, die sich in seiner Kehle breitmachte. Hmm. Doch, das konnte der Falls durchaus genießen. Er schenkte dem Dargin ein spitzbübisches Grinsen, als dieser ihn darauf aufmerksam machte, dass er im Verlauf des Abends sicherlich nicht still bleiben könnte. Anstatt zu antworten, trank Lian allerdings einfach noch einen Schluck von seinem Getränk und lauschte…
Obwohl. Eigentlich beobachtete Lian vielmehr.
So mutig Charon im ersten Moment gewirkt hatte, desto schwerer fiel es ihm, tatsächlich Worte zu finden. Er haderte mit sich, gab ein gequältes Geräusch von sich und ließ am Ende sogar den Kopf enttäuscht hängen. Ernsthaft: Wenn Lian es nicht mit eigenen Augen sehen würde, er hätte jeden einer Lüge bezichtigt, der behauptet hätte, Charon Dargin zögerlich zu erleben. Mit deprimiert gesenktem Haupt! Es war ein Bild, das Lian sich gedanklich abspeicherte, in der Überzeugung, dass es ihm in dunklen Momenten seines Lebens Kraft spenden könnte. Was? Das war ziemlich unfair gegenüber einem Freund? Ach. Charon würde das schon verkraften. „Sag Bescheid, wenn wir doch zur Aufwärmphase übergehen sollen.“ Lian zwinkerte, nippte von seinem Glas und staunte, als der Finsternismagier doch endlich zu Worten ausholte, die auch Inhalt vermittelten. Es würde ihm schwerfallen, zu glauben? Was zu glauben? Diverse Ideen huschten durch den Kopf des Falls: Dass Charon in Wirklichkeit bescheiden wäre? Der gute Nachbar von nebenan? An einer lebenslangen Beziehung mit einer Person auf Augenhöhe interessiert war?
… Nein, viel schlimmer.
„Wow.“ Charon Dargin stammte also nicht aus einer Adelsfamilie. Nicht einmal aus einer wohlhabenden Familie. Er stammte aus… aus… „Der Arbeiterklasse?!“ Der Illusionist spie das Wort aus, als wäre es eine Beleidigung und schüttelte entsetzt den Kopf. Lian wusste nicht, was er gerade amüsanter fand: Die Tatsache, dass Charon ernsthaft davon ausging, dass man ihn für einen Adeligen hielt? Oder jene, dass er glaubte, ausgerechnet gegenüber einem Lian Falls (der wohlgemerkt aus den Slums von Aloe Town stammte) dadurch irgendeinen Schock zu verursachen. Es war so amüsant, dass der 21-Jährige wirklich all seine Kraft zusammenbringen musste, um nicht in schallendes Gelächter zu verfallen. Stattdessen schwenkte er sein Glas, ähnlich wie der Ältere es zuvor gemacht hatte und konzentrierte sich auf die darin befindliche Flüssigkeit, um sich zu sammeln. „Wer hätte das gedacht. Charon Dargin, ein Kind der Arbeiterklasse. Unglaublich.“ Die hellgrünen Seelenspiegel musterten den Finsternismagier mit einem Seitenblick und um die theatralische Stimmung zu untermauern, legte Lian eine Hand an die Brust und schnappte übertrieben entsetzt nach Luft. „Ich weiß ja nicht, ob ich das verkraften kann. Mein Bild von dir wird vollkommen auf den Kopf gestellt. Wie schaffst du es nur, mit dieser Bürde zu leben?“ Der Braunhaarige stellte sein Getränk auf dem Tresen ab und drehte sich auf dem Hocker herum, um Charon direkt ansehen zu können. Und dann kam es doch: Das flegelhafte Grinsen des Falls. „Sag bloß, dass wir uns deshalb so gut verstehen? Weil du eigentlich – ich kann es immer noch nicht fassen – einer von uns bist? Ein Mitglied des niederen Proletariats? Die unterste Schicht, die unsere Gesellschaft zu bieten hat?“ Es war eine Angewohnheit des Braunhaarigen, Dinge überspitzt auszudrücken, wenn er sich über etwas lustig machte – das würde auch Charon erkennen. Und hey, Lian sprach davon, selbst zu dieser Gesellschaftsschicht zu zählen! Er winkte ab, doch das Amüsement wollte nicht aus seinen Gesichtszügen verschwinden. „Und wie willst du es schaffen, diesen Makel loszuwerden?“ Lian stoppte, als ihm eine Idee kam. Eine Idee, die ihn erneut zum Lachen brachte. Hatte Charon nicht eben das Thema Heirat eingebracht? „Oh, sag mir bitte nicht, dass dein langfristiges Ziel die Heirat einer Adligen ist. Ich hab ja gehört, dass man damit in der Gesellschaftsschicht aufsteigen kann, aber ich bin mir nicht sicher, ob irgendjemand in dieser Konstellation glücklich werden könnte.“
Nein, Lian sah tatsächlich nicht so aus, als würde er sich mit irgendwelchen niedergelassenen Paaren hinsetzen, die ihr Leben im Griff hatten, um Kanaster und Bingo zu spielen. Verheiratete waren vermutlich nicht sein Stil, aber da war Charon ja nicht wirklich anders. Wer das Leben soweit fertig hatte, der war nicht interessant. Da gab es keine Entwicklung. Er mochte lieber Sonderfälle wie den Falls, und davon hatte er sich ja inzwischen so einige an Land gezogen. Rin, Karma, Vashti, Alice, um nur die zu nennen, die er direkt in seiner Gilde an der Seite hatte. Trotzdem war der dunkelhaarige Schütze selbst zwischen all diesen Frauen noch etwas Besonderes - und das nicht nur, weil er zu den seltenen männlichen Freunden des Dargin gehörte. Er war besonders genug, dass Charon ihm offenbarte, was er so noch niemandem gesagt hatte…
… und es direkt bereute.
“Ja… unglaublich”, seufzte der Magier, am Anfang noch unter dem Eindruck gefangen, dass Lian Falls tatsächlich Verständnis ihm gegenüber zeigte. Ein Eindruck, der sich schnell wieder auflöste. Charon mochte nicht sonderlich gut darin sein, zwischen den Zeilen zu lesen, aber wer das überdramatisierte Schauspiel des Falls nicht als die Farce erkannte, die es war, der musste es schon nicht verstehen wollen. Es dauerte nicht lange, bis Charons Augen deutlich genervt waren, ein visuelles “Bist du endlich fertig?, das mit einem klaren Nein beantwortet wurde. “Keine Sorge, Lian”, sprach er aus und legte mit einem sehr gezwungenen Lächeln eine Hand auf die Schulter seines Freundes. “Solange es dich gibt, werde ich nie die unterste Schicht der Gesellschaft sein.” Wer austeilen konnte, der musste schließlich auch einstecken… wobei das wohl kaum die Schlagfertigkeit war, die man von dem Dargin gewohnt war. Es grenzte an das kindische “Nein, du bist das!”, das einem Mann von Welt nun wirklich nicht stand. Es mochte daran liegen, dass das Lachen Lians tatsächlich verletzend war. Charon hatte sich ihm geöffnet, und dafür wurde sich über ihn lustig gemacht. Dafür war er nun wirklich nicht hierher gekommen… auch wenn er den Teufel tun würde, zu verstehen, warum Lians Reaktion ein Stechen in seiner Brust auslöste. “Wenn du denkst, eine Hochzeit ist Teil meiner Pläne, dann kennst du mich schlechter, als ich mir erhofft hätte”, gab er zurück, in seiner Aussprache wieder etwas lockerer, aber mit einer gewissen Schärfe, die vorher nicht da gewesen war. Seinen Oberkörper hatte er von seinem vermeintlich besten Freund abgewandt, dem Tresen zu, um noch einmal ins Glas zu blicken. “Auch, wenn es dir vielleicht nicht so vorkommt… Alles, was ich erreicht habe, habe ich mir selbst erarbeitet. Meine Magie, mein Aussehen, mein Wissen, meinen Stand in der Gilde. Für jedes Outfit in meinem Schrank habe ich gekämpft, und ich habe nicht vor, plötzlich irgendjemandes Almosen anzunehmen oder irgendwelche Titel geschenkt zu bekommen.” Vermutlich reagierte er etwas zu ernst auf einen offensichtlichen Scherz. Warum er gerade so war, konnte Charon selbst nicht so recht einschätzen. Es konnte ja nicht wirklich sein, dass er sich… gekränkt fühlte.
“Jedenfalls… Wie du siehst, gibt es in meiner Vergangenheit nicht viel zu erkunden. Ich weiß nicht, was du noch hören willst.” Leicht grummelig hob Charon eine Hand und zählte an seinen Finger ab. “Mein Vater? Der war ein Holzfäller. Meine Mutter eine Handwerkerin. Mein kleiner Bruder ein Nichtsnutz. Und mein großer Bruder… Naja, der sagt dir vielleicht was. Sein Name ist James Dargin.” Selbst Lian musste von den Wizard Saints schonmal gehört haben, nicht? Diesen lebenden Legenden unter den Magiern, die im ganzen Reich bewundert wurden. Es war ein Schatten, in dem man nicht stehen wollte. So sehr Charon seinen Bruder auch schätzte, wollte er nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden. Entweder würde man ihn im Vergleich unbeeindruckend finden, oder man würde ihm seine Erfolge abstreiten, denn natürlich war der Bruder eines Wizard Saint ein erfolgreicher Magier. Wie könnte es auch anders sein? “Ansonsten… war es das. Vor meiner Reise ist nichts wirklich Interessantes in meinem Leben passiert”, schloss das Weißhaar ab, dachte dann bei einem weiteren Schluck, der sein erstes Glas des Abends leerte, aber noch einmal nach. “Ich schätze, da war noch das eine Mal, dass ich ein anderes Kind ins Krankenhaus geprügelt habe, aber das war es auch.”
Awww. War er nicht süß? Lian bemerkte sowohl die bissige Erwiderung als auch die Verletzlichkeit, die Charon nach dem Lachen zeigte – aber das musste dieser gestandene Mann nun wirklich aushalten. Wenn er jemanden suchte, der ihn sofort in die Arme schloss, ihm den Rücken tätschelte und ihn gut darin zuredete, wie unglaublich gemein und fies die Welt gegen ihn doch bisher gewesen wäre, musste der Dargin sich wirklich einen andere Gesprächspartner suchen. Der Falls war vielmehr die Kategorie Freund, die Klartext sprach und sich auch gerne mal amüsierte, wenn er merkte, dass der Gegenüber in vollkommen andere Sphären abdriftete. Einem Magier mit Götterkomplex konnte so etwas gelegentlich auch nicht schaden, oder? „Ah, Charon Dargin teilt aus. Na, solange das noch möglich ist, kann es dir ja nicht allzu schlecht gehen.“ Lian zwinkerte, das Grinsen immer noch breit auf den Lippen tragend und stützte das Kinn auf der Handfläche ab, ohne die hellgrünen Augen vom Finsternismagier zu nehmen. „Aber ich freue mich, dass meine Existenz alleine dir so viel Sicherheit gibt. Dafür sind Freunde doch da, nicht?“ Die Schärfe in Charons Worten geflissentlich ignorierend, verstummte der Falls und lauschte den weiteren Ausführungen. Keine Hochzeit? Nicht, dass es Lian überraschte, denn Charon hatte schon mehrfach klar gemacht, dass er nicht einmal dem Prinzip einer monogamen Beziehung etwas abgewinnen konnte. Eine Heirat? Das wäre ja noch viel schlimmer, zumindest, solange man die Ehe im traditionellen Sinne betrachtete. Es blieb nicht bei dieser kurzen Erklärung, denn der Dargin steigerte sich mehr und mehr in einen Wortschwall hinein, verteidigte Dinge, die Lian niemals infrage gestellt hatte und dieses Verhalten sagte so unglaublich viel über den Hellhaarigen aus. War er es nicht gewohnt, mit einem echten Freund auf Augenhöhe zu sprechen? Auch Scherze auf seine Kosten ertragen zu müssen? Hatte er sofort das Bedürfnis, sich selbst rechtfertigen zu müssen? Mit wem auch immer der Dargin bisher zu tun gehabt hatte, eine Form von Kumpel, wie zumindest Lian ihn auch schon früher besessen hatte, schien nicht darunter gewesen zu sein. Und so winkte der Illusionist am Ende schlicht ab. „Da habe ich ja nen ziemlich wunden Punkt getroffen, was?“ Okay, das war nicht wirklich eine Frage, sondern vielmehr eine Feststellung. Obwohl es erst der Einstieg in den Abend gewesen war, machte sich Lian bereits jetzt einige mentale Notizen.
Kurzzeitig schwieg der Dargin, dann führte er weiter aus und ging auf das Thema Familie ein. Besagte Familie war… interessanter, als Charon vielleicht glaubte. Der Vater ein Holzfäller, die Mutter eine Handwerkerin? Hm. Parallelen waren vorhanden. Dazu ein kleiner Bruder (Nichtsnutz? Woran das wohl festgemacht wurde?) und einen älteren Bruder, der… James Dargin hieß? Zuerst verstand Lian gar nicht, dass er diesen Namen erkennen sollte, erst der herausfordernde Blick von Charon machte ihn darauf aufmerksam. Oh? Der 21-Jährige blinzelte, schnappte sich sein Glas und trank, um Zeit zu gewinnen. Erst als das Getränk geleert zurück auf der Theke stand, fiel es dem Falls doch noch ein. „Ah. Doch, von dem habe ich schon einmal gehört. Ein Wizard Saint.“ Keine weiteren Details? Nein, nicht wirklich. Obwohl Lian inzwischen selbst ein hochrangiger Magier war, lagen seine Interessen bis heute im Alltag woanders. Er identifizierte sich selbst immer noch mehr mit dem Proletariat – wenn wir bei dem Thema bleiben wollten – als mit irgendwelchen Heldinnen und Helden, die Fiore mit ihren magischen Fähigkeiten vor Drachen und Dämonen schützten. Es war eigentlich nur seinem Zusammentreffen mit Minerva geschuldet, dass Lian sich mehr mit den Wizard Saint in dieser Welt auseinandergesetzt hatte – warum war er eigentlich nicht sofort darauf gekommen, dass ein Verwandtschaftsverhältnis mit Charon bestand? Die hellgrünen Augen musterten den Dargin genauer und … dann war da eine Vermutung. Eine Vermutung die viele Charakterzüge erklärte, die der Hellhaarige besaß. „Und wie stehst du zu James Dargin?“ Lian wusste zu gut, wie es sich anfühlte, im Schatten von jemandem zu stehen. Wenn man händeringend versuchte, eine eigene Identität aufzubauen, die nicht ständig im direkten Vergleich mit einer anderen Person stand. Der Lockenkopf und Charon hatten sich vielleicht unterschiedlich entwickelt, aber wohlmöglich waren ihre Ausgangspositionen gar nicht so verschieden gewesen. Kurzes Schweigen folgte, dann hob Lian die Hand und wandte sich zum Inhaber der Bar, der einige Schritte entfernt andere Gäste bediente. „Hey, Garrett. Noch eine Runde!“ Und während der Bullenmensch hinter der Theke nähertrat und sich die geleerten Gläser der Magier schnappte, wanderte die Aufmerksamkeit des Illusionisten zurück zu seinem Freund. „Wie kannst du behaupten, das wäre nicht interessant? Ich klebe förmlich an deinen Lippen. Du hast also ein anderes Kind ins Krankenhaus geprügelt? Erzähl mir mehr.“ Der Illusionist grinste, würde er doch wirklich gerne wissen, was einen kleinen Charon so genervt hatte, dass er sich zu einer einfachen Schlägerei hatte hinreißen lassen. Doch dann… stutzte der Falls. Nicht wegen dem Dargin, sondern vielmehr wegen sich selbst. Lian verfiel in alte Muster, wie ihm just in diesem Augenblick aufging. Und so seufzte er, ließ das Kinn zurück in die eigene Hand wandern und streifte Charon mit einem Seitenblick. „Du hast gesagt, ich könne den Abend über nicht still bleiben. Aber du machst es mir ziemlich leicht, wenn du keine Fragen stellst.“ Eine Hilfestellung, die Lian eigentlich nie jemandem gab, mit dem er interagierte. Aber das heute war ein anderer Anlass, er und Charon waren hier als Freunde, oder? Gut möglich, dass der Finsternismagier auch gar keine Übung darin hatte, andere zum Erzählen aufzufordern. „Weißt du, ich bin ziemlich geübt darin, anderen Leuten Fragen stellen und damit einen ganzen Abend zu verbringen, ohne dass mein Gegenüber merkt, dass ich kaum etwas von mir selbst erzählt habe. Aber… das war heute nicht unsere Absicht. Daher werde ich mal nicht so sein.“ In der Sekunde, als Lian geendet hatte, schob Garrett den beiden Magiern die neu gefüllten Gläser über die Theke. Der Falls bedankte sich mit einer kurzen Handbewegung, ohne den Blick von Charon abzuwenden. „Über meinen Onkel weißt du ja schon Bescheid. Ansonsten…“ Nun war es Lian, der mit den Fingern der freien Rechten abzählte: „Meine Mutter ist eine Schneiderin, mein Stiefvater ein Maurer. Und meine kleine Schwester so ein schreckliches Vorzeigekind, dass mir früher immer übel davon geworden ist.“ Lian hob das Kinn von der Handfläche, schnappte sich das neu gefüllte Glas und hielt es Charon motivierend entgegen. Sie hatten gerade erst angefangen – wenn der Dargin jetzt schon schlapp machte (und damit war nicht der Alkoholkonsum gemeint), wäre das eine herbe Enttäuschung. „Auf die Herkunft, die man sich nicht aussuchen konnte? Wie klingt das?“ Auf zur nächsten Runde.
Lian wischte den zugegebenermaßen wenig beeindruckenden Konter des Dargin beiseite, nahm ihn gar optimistisch auf. Dafür waren Freunde da, hm? “Ich schätze, das sind sie wohl.” Sich wieder ein wenig fassend, schenkte Charon ihm ein sanftes Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Was hatte sich Lian davon erhofft, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren? Einen guten Lacher? Nicht unbedingt das Ziel des Finsternismagiers. Wie das Ereignis mit Rin zeigte ihm diese Situation noch einmal deutlich, was er eigentlich schon hätte wissen sollen: Wenn man seine Gefühle erst einmal nach außen dringen ließ, vermehrten sich die negativen ungehalten. Lieber hielt man sie verschlossen und verschollen. Daran änderte wohl auch ein guter Freund nichts. “Bitte? Ich habe keine wunden Punkte”, antwortete er also stattdessen und schüttelte leicht den Kopf, während er Lian angrinste. “Jetzt verwechselst du uns zwei aber.”
Ein Wizard Saint. Besonders beeindruckt wirkte Lian nicht, was Charon tatsächlich ganz gut passte. Er war nicht hier, um nach Bewunderung für seinen großen Bruder zu haschen, der hatte genug davon. Wenn es Bewunderung zu vergeben gab, dann nahm er die gerne selbst an. “Ich würde sagen, wir stehen gut zueinander. Er war unter meinen Verwandten stets mein liebster… wenn er denn da war.” Nachdenklich legte Charon den Kopf zur Seite, blickte leicht an Lian vorbei ins Nichts. Bilder seines großen Bruders kehrten zu ihm zurück, Bilder aus seiner Kindheit. Wenn sie sich gesehen hatten, war es eigentlich immer schön gewesen. “Die Grundlagen der Magie habe ich von ihm gelernt, auch wenn er mir über Elementarmagie herzlich wenig beibringen konnte. Das Meiste habe ich mir eigenständig angeeignet”, erklärte er und lehnte sich ein wenig auf seinem Hocker zurück. “Er ist viel gereits. Ich habe ihn immer lange nicht gesehen, aber dafür hat er schöne Geschichten mitgebracht. Unsere Eltern und Gerald haben sich auch immer gefreut, wenn er da war. Dann war er ein paar Tage lang das Zentrum unseres Lebens und dann auch schon wieder weg. Die Welt entdecken. Menschen helfen.” Er zuckte mit den Schultern. Damals war James noch keine so große Nummer gewesen, aber die Ansätze hatte man schon damals bemerkt. Er war stark gewesen und kühn, hatte die freundliche Persönlichkeit eines Helden. Leute konnten ihm vertrauen und sich auf ihn verlassen und jeder freute sich, wenn er da war. Schlechte Dinge gab es nicht, wenn er in der Nähe war. Er war ein Ideal, an dem sich sicherlich viele Menschen orientierten. “Seit ich meine eigene Reise angetreten bin, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Anders als er besuche ich die Familie nicht”, meinte Charon und zuckte mit den Schultern. Seine neue Adresse hatte er seinen Eltern nie mitgeteilt, selbst wenn James nach ihm gefragt haben sollte, würde er also wohl kaum hier aufschlagen. Mit einem schmalen Lächeln blickte Charon hinab in das leere Glas vor ihm. Er mochte James, das tat er wirklich. Dass sie sich so lange nicht gesehen hatten, konnte man dieses Mal wohl nur Charon zuschreiben. Irgendwie wünschte er sich, das Glas wäre voller.
Als könne er die Gedanken des Weißhaarigen lesen, bestellte Lian auch schon die nächste Runde. “Ach, Lian. Kein Wunder, dass wir Freunde sind”, lachte Charon auf, etwas heiterer als zuvor. Wenn er seine Gedanken von seiner Herkunft weg lenkte, dann fühlte er sich gleich besser. “Es gibt da nicht viel zu erzählen… Der Kleine war ein Weichei! Hat sich nichtmal ordentlich gewehrt!” Charon war nicht stolz darauf, was er damals getan hatte, aber gut hatte es sich schon angefühlt. Das hatte er auch in all den Jahren nicht vergessen. Für den Moment ließ er es aber in den Hintergrund sinken. Der Dargin hatte eine Neigung - eine sehr starke Neigung - dazu, viel von sich zu erzählen und wenig nach anderen zu fragen. Dabei interessierte ihn die Geschichte seines besten Freundes weit mehr als seine eigene. “Ich wäre schon noch dazu gekommen”, grinste er, als Lian die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. “Aber bitte, schnapp dir das Rampenlicht, du Gierschlund.” Er stichelte, aber tatsächlich freute sich der Magier, dass der Falls von sich aus das Wort übernahm. Es half. Seinen Onkel kannte Charon gut, hielt auch viel von ihm. Aber der Rest… ein Maurer, eine Schneiderin. Das war… dem Hintergrund des Dargin gar nicht mal so unähnlich. Es war eine unscheinbare Erkenntnis, aber sie fühlte sich irgendwie seltsam an. “Hah… bei uns Zwillingen war ich das Vorzeigekind”, grinste er und stieß mit dem Schützen an. Viel gebracht hatte es ihm nicht. Es waren die Problemkinder, die gesehen wurden, nicht die Guten. James mal ausgenommen. “Wenn wir zusammen aufgewachsen wären, hättest du mich gehasst, da wette ich drauf.” Noch einmal blickte er hinab, bereit, den Alkohol zu genießen, ehe er ihn an seine Lippen führte. “Auf die unerwünschten Klauen der eigenen Herkunft!” Es schmeckte gut, immer noch. Charon hatte eine gute Wahl getroffen, wenig überraschend. Der Falls schien auch glücklich damit zu sein. “Deine Herkunft ist aber mehr als deine Familie, nicht?”, schmunzelte er, ein herausfordernder Blick auf seinen Freund gerichtet, während er einen Arm gelassen auf dem Tresen ruhen ließ. “Deine Fähigkeiten sind schließlich nicht gerade die eines Maurer oder Schneiders.”
Wie gerne Lian doch Gedanken lesen würde, so wie Evie es damals bei ihm getan hatte. Ob man diese Magie erlernen konnte? Eine Sache, mit der sich der Illusionist in jedem Fall auseinandersetzen wollte. Aufmerksam beobachteten die hellgrünen Seelenspiegel den Dargin, musterten das Lächeln, das sich zwar auf den Lippen zeigte, die Augen des Älteren aber nicht erreichte. Diverse Vermutungen waren vorhanden, aber keine Gewissheit. Wenn Lian die Gedanken hätte lesen können, wäre er darin bestätigt worden, dass der unglaubliche Charon Dargin, der sich gerne über alles erhob und Stärke sowie Autorität ausstrahlte, in Wirklichkeit eine verdammt ausgeprägt Opfermentalität besaß. Wenn es ein bisschen schwierig wurde und nicht jeder zu hundert Prozent nach der Nase des Finsternismagiers tanzte, sah Charon sich als absoluten Leidtragenden. Das war keine sonderlich anziehende Eigenschaft, die im ziemlichen Kontrast zum Bild stand, dass Charon im Alltag von sich vermittelte. Naja, aber um die Opfermentalität zu bemerken, musste man den Hellhaarigen erstmal näher kennenlernen, was an sich schon eine Herausforderung war. „Dein liebster Verwandter, ja?“ Interessant. Damit war der Verhältnis, das Charon zu seinem Bruder hatte, anders als jenes, das Lian mit seinem Onkel pflegte. James war also eine Art Lichtblick der Familie gewesen, hatte Charon die Grundlagen der Magie beigebracht und diverse Geschichten von seinen Reisen mitgebracht, die jeden erfreuten. Ob der Finsternismagier seinem Bruder nacheiferte? Wollte er eigentlich so sein wie James und wich der Familie aus, weil er diesen Maßstäben nicht glaubte, gerecht werden zu können? Viele Möglichkeiten und obwohl Lian gerne direkt nachgefragt hätte, ging er davon aus, dass Charon einer konkreten Antwort aktuell ausweichen würde – oder sie wohlmöglich bisher selbst nicht wusste. Es gab viele Aspekte seiner eigenen Persönlichkeit, die dem Dargin nicht gänzlich bewusst zu sein schienen, was sich nicht zuletzt darin zeigte, dass Lian immer wieder Emotionen aufflackern spürte, die dann wieder vehement in den Hintergrund gedrängt wurden. Nur um das deutlich zu machen: Der Falls wäre der Letzte, der das Anrecht hätte, Charon hieraus einen Vorwurf zu machen – es war eine Art und Weise, mit den eigenen Empfindungen umzugehen, die Lian selbst oft genug zeigte. Aufgefallen war es dem Lockenkopf dennoch.
Nachdem beide Magier zu ihrem Trinkspruch angesetzt hatten, setzte auch Lian das Glas an seine Lippen und trank. Es war wie immer: Während das Brennen in der Kehle am Anfang noch deutlich spürbar war, milderte es sich mit jedem weiteren Schluck, der verging, zunehmend ab. Ein guter Start. Aber was hatte Charon da noch angesprochen? Wenn sie gemeinsam aufgewachsen wären, hätten sie sich gehasst? „Hm. Wohlmöglich wäre ich das Kind gewesen, dass du ins Krankenhaus geprügelt hättest“, gab Lian unumwunden zu und grinste amüsiert. Die Konflikte, in die sich der Braunhaarige in seiner Kindheit und Jugend hineinmanövriert hatte, waren schon lange nicht mehr zählbar, ganz gleich, dass es meistens Lian gewesen war, der nicht zuletzt aufgrund der eher schmächtigen Statur unterlegen gewesen war. War es dem jungen Mann eine Lehre gewesen, um sich das nächste Mal klüger zu verhalten? Natürlich nicht. Er war sehenden Auges von einer Prügelei in die nächste gestolpert, was sich irgendwie bis heute nicht gänzlich verändert hatte. Ohne den Blick von Charon abzuwenden, führte der 21-Jährige weiter aus: „Aber glaub nicht, dass mich das daran gehindert hätte, mich das nächste Mal wieder mit dir anzulegen. Als ich früher einmal von einer Freundin nach einer Schlägerei zusammengeflickt wurde, warf sie mir vor, ein unbelehrbarer Narr zu sein. Ich denke, sie hatte Recht damit.“ Lian erinnerte sich gerne an Manija, die mittlerweile ihr eigenes Lokal in Elmora besaß. Oh – das letzte Mal, dass der Falls besagtes Lokal besucht hatte, war mit Isabelle gewesen. Was ein Zufall: Genauso wie er zuletzt mit Isabelle im Schatz der Pyramiden gewesen war. Die blonde Frau zog sich wie ein roter Faden durch sein Leben… Ein weiterer Schluck von Lians Getränk folgte, während Charon ein neues Thema anschnitt – zumindest indirekt. Seine Herkunft war mehr als seine Familie? Es war eine Frage, aber auch keine richtige. Natürlich verstand der Braunhaarige, worauf sein Freund hinauswollte, aber ganz unkommentiert konnte er es einfach nicht lassen. War sein Amüsement zu Teilen vielleicht auch dem Alkohol geschuldet? „Ein Fortschritt, aber das mit der Formulierung von echten Fragen üben wir noch.“ Ein kleines Zwinkern, bevor Lian erneut das Kinn auf der Handfläche ablegte und nachdachte, was genau er Charon erzählen sollte. Seine Fähigkeiten waren nicht unbedingt jene eines Maurers oder eines Schneiders – das stimmte. „Meiner Familie wäre es durchaus lieber gewesen, wenn meine Fähigkeiten mehr denen eines Maurers oder eines Schneiders entsprochen hätten, nur um das vorneweg zu nehmen“, begann er am Ende seinen Teil des Gesprächs. Wie oft hatte Awira ihm damit in den Ohren gelegen, einen handwerklichen Beruf zu erlernen? Seine Zeit sinnvoll zu nutzen? Bis zu jenem Tag, als seine Familie gemerkt hatte, dass Lian Magiebegabung besaß. Zumindest hatte er sich seit jenem Tag nicht mehr anhören müssen, irgendeinen Lehrberuf starten zu müssen. Viel angenehmer waren die Gespräche danach dennoch nicht geworden. „Was soll ich sagen? Meine Mutter, mein Stiefvater, meine Schwester – sie alle haben mit Magie nichts am Hut. Allgemein war mein Onkel die einzige Person in der Familie, die Magie einsetzten konnte und alle begegneten ihm mit einer Mischung aus Faszination, Respekt aber auch Ehrfurcht. Naja und dann kam ich, mit meiner Magiebegabung, aber ich konnte mir wirklich Schöneres vorstellen, als mit Aram in einen Topf geworfen zu werden. Daher habe ich das möglichst lange für mich behalten.“ Der Falls zuckte mit den Schultern. Anders als Charon, der in seinem älteren Bruder wohlmöglich ein Vorbild gesehen hatte, hatte Lian nie in die Fußstapfen seines Onkels treten wollen. Es wäre ihm lieber gewesen, einen großen Abstand zu Aram Falls aufrechtzuerhalten und einen anderen Weg einzuschlagen. Auch das war – neben so vielen weiteren Ereignissen – ein Grund gewesen, der ihn schlussendlich auf die Straßen Aloe Towns gebracht hatte. Lian war ein Mitglied der Wüstenfüchse geworden. Eine Erinnerung, die schon so lange zurücklag, dass der Braunhaarige sich einen schrecklichen Moment lang viel zu alt fühlte. „Was genau möchtest du wissen? Warum ich kein Schneider geworden bin? Weil meine Mutter und ich nicht sonderlich gut aufeinander zu sprechen sind. Oder eher, warum ich so begabt darin war, die Schulden bei Herrn Heftward einzutreiben?“ Ah ja, eine Aktion, die schon einige Zeit in der Vergangenheit lag. Als Lian – unterstützt durch Charon – bei einer Person eingebrochen war, die regelhaft Quests an die Gilde Crimson Sphynx gab und ihn um diversen Schmuckstücke erleichtert hatte. Es war ein lukrativer Einbruch gewesen und irgendwie der richtige Start der Freundschaft zwischen den beiden Magiern. „Wahrscheinlich die gleichen Hintergründe. Ich kam nicht gut mit meiner Familie zurecht und hab mein Glück woanders gesucht. Eines kam zum anderen und ich entdeckte Talente in mir, die unabhängig vom Schneidern und von Magie waren.“ Kurz verstummte Lian, unsicher, wie genau er hätte fortführen sollte. Warum genau er ein Problem mit seiner Familie hatte? Wie genau sein Start auf der Straße war? Die Wüstenfüchse? Sein erster Einbruch? Gin? Der Tag, als er aufflog und in der Gilde Crimson Sphynx landete? Zu viele Möglichkeiten, um sie alle auf den Punkt zu bringen, daher trank der 21-Jährige noch einen Schluck, mehr um die Zeit zu überbrücken und zuckte danach mit den Schultern. „Was genau möchtest du wissen? Oder reichen dir diese Informationen schon aus?“ So wie Charon Hilfe benötigte, wenn es darum ging, sich selbst zu offenbaren, so brauchte Lian das gleiche. Er war es nicht gewohnt, viel von sich preiszugeben, eigentlich widerstrebte es ihm sogar. Also lieber die Wahl dem Hellhaarigen überlassen und dann schauen, wie sich das Gespräch weiter entwickelte. Und hey: Das war gleich auch noch Übung für den Dargin zum Thema Gesprächsführung!
“Würde ich sagen, ja.” Charon nickte. James Dargin, sein großer Bruder, war sein liebster Verwandter, ohne Zweifel. “Ihm stehen keine besonders großen Hürden im Weg… aber ich mag ihn wirklich.” Es war eine etwas seltsame Beziehung. Zwischen den Brüdern herrschte eine gewisse Nähe, aber durch die Abwesenheit auch eine spürbare Distanz. Wobei Charon ehrlich zugeben musste, dass Distanz etwas war, das er schätzte. Es brachte herzlich wenig, sich zu sehr auf die Anwesenheit Anderer zu verlassen. “Das glaube ich dir sofort”, lachte er amüsiert, als Lian meinte, dass die eine Prügelei ihn nicht davon abgehalten hätte, es noch einmal zu versuchen. Er konnte wirklich ein Narr sein. “Wobei es kein nächstes Mal gegeben hätte. Ich habe mich ein Mal von meiner Wut mitreißen lassen, ja, aber seitdem habe ich mich davon distanziert. Mit irgendwelchen Provokationen kommt man bei mir nicht weit.” Ein selbstzufriedenes Lächeln legte sich auf die Lippen des Weißhaarigen. Ja, er hatte sich seither so ziemlich vollständig unter Kontrolle. Keine negativen Gefühle, keine erwähnenswerten Ausreißer. “Hey!”, Charon grinste, etwas kalt erwischt davon, als Lian ihm vorwarf, dass er das mit den Fragen noch üben müsse. Gut, Unrecht hatte er nicht. Anstatt direkte, klare Fragen zu stellen, lenkte Charon gern das Gespräch in die Richtung, die er suchte, und forderte Antworten mehr oder minder ein, oder zumindest heraus. “Du hast doch verstanden, was ich meine!” Die Andeutung war eindeutig. Der Dargin hatte nicht vor, in aller Öffentlichkeit zu erwähnen, was für weniger gesellschaftlich akzeptable Gewohnheiten der Falls aus seiner Vergangenheit mitbrachte, aber dass es weder Maurern, noch Schneidern war, das war eindeutig. Seinen Eltern wäre es anders lieber gewesen, hm? “Ja, kann ich mir vorstellen.” Ein Lächeln. Ob es Charon wohl ähnlich ging? So im Detail hatte er sich damit nie befasst, das Thema ein wenig zur Seite geschoben. Als großer Crimson Sphynx-Magier hatte er allerlei kriminelle Aktivität ja zu verurteilen. Andererseits war er flexibel genug, Fähigkeiten und Taten auseinander zu halten und den Nutzen in dem zu sehen, was Lian konnte. Und… auf einer persönlichen Ebene musste er sich wohl eingestehen, dass er die schelmische Art seines Partners mochte, auch wenn sie hier und da Grenzen übertritt. Wenn Lian jemand anders wäre, dann wären sie wohl heute nicht hier. Er wollte nicht mit Aram in einen Topf geworfen werden, hm? Auch, wenn Charon den älteren Falls nicht minder bewunderte als den, der an seiner Seite saß, verstand er das Gefühl durchaus. So sehr er James auch mochte, Lust auf einen direkten Vergleich hatte er nicht. Es hatte seinen Grund, dass er außer mit Lian noch nie über seine Beziehung zu dem Wizard Saint gesprochen hatte. “Kam nicht gut mit der Familie zurecht… und hat einen anderen Weg gefunden”, fasste der Dargin noch einmal zusammen, was er da hörte. Das war seiner eigenen Geschichte gar nicht mal unähnlich, hm? “Kein Wunder, dass unsere Wege zueinander geführt haben.” Schicksal oder Vorbestimmung waren zwar nichts, woran Charon glaubte, aber selbst der verklärteste Forscher hatte gelegentlich eine übernatürliche Erklärung in seinem Kopf, zumindest für einen Moment. Reell betrachtet wusste Charon sehr genau, dass sein Treffen mit Lian reiner Zufall gewesen war, auch wenn sich all die Entwicklungen, die die beiden miteinander durchgemacht hatten, rückblickend nach so viel mehr anfühlten. “Naja… mit dem Unterschied, dass ich jetzt das mache, was ich für mich gewählt habe, und du auf den Weg deiner Familie zurückgedrängt wurdest. Deine Selbstbestimmung ist noch in Arbeit, hm?” Nachdenklich nippte Charon an seinem Getränk, sein Blick von Lian abgewendet. Wollte er mehr darüber wissen, wie sich Lian mit seiner Familie zerstritten hatte? Oder mehr über seine Zeit als Dieb? Waren das… die relevanten Fragen? Es gab etwas viel Relevanteres, etwas Aktuelleres, das sich dem Dargin in den Sinn drängte. Langsam wandte er sich wieder seinem Freund zu. “Weißt du… Wenn du so ein großer Fan direkter Fragen bist, werde ich nicht am heißen Brei vorbei sprechen”, stellte er fest und deutete auf den Falls. “Bist du inzwischen… glücklich damit, ein Gildenmagier zu sein, Lian?”
Es war lange her, dass Lian den Gedanken an seine Familie ernsthaft zugelassen hatte. Wenn er sich an seine Vergangenheit erinnerte, an seine Wurzeln, dann waren es zuletzt die Wüstenfüchse gewesen, die in der Erinnerung erschienen waren. Er dachte an Evie, die unerwartet vor dem Palast von Crimson Sphynx aufgetaucht war, um ihn zu der Bande zurückzuholen. Oder an Gin… Der Braunhaarige schloss die Augen und unterdrückte ein Seufzen, als die Gesichtszüge der Vampirin in seiner Gedankenwelt aufflammten. Für seine Familie war da nicht viel Ressource übrig geblieben, noch weniger, was diese eigentlich von ihm und seinem Lebensweg erwartet hätten. Was für eine Person Lian hätte werden können, wenn er einfach getan hätte, was Awira von ihm verlangt hatte? Obwohl… absolut sicher, was seine Mutter von ihm wollte, war der Falls bis heute nicht. Nur eines hatte Lian gewusst: Er hatte verschwinden sollen, um das neue Familienglück, das sie sich aufgebaut hatte, nicht weiter zu trüben. Nunja, zumindest diesen Gefallen hatte Lian seiner Mutter getan – wenn auch auf eine andere Art und Weise als zuerst geplant. Der Braunhaarige, dessen Kinn auf der Handfläche ruhte, hob die Lider wieder an und musterte Charon mit einem Seitenblick. Na? Was genau wollte er wissen? Der Illusionist ging alle Möglichkeiten gedanklich durch, machte sich bereit, die verschiedensten Kapitel seiner Vergangenheit näher zu erläutern.
Nur leider interessierte sich der Dargin überhaupt nicht für seine Vergangenheit.
„Was?“ Lian blinzelte, hob das Kinn von der Handfläche an und starrte den Finsternismagier vollkommen irritiert an. Ob er inzwischen glücklich damit war, ein Gildenmagier zu sein? Das hatte doch überhaupt nichts damit zu tun, woher er kam! Was seine Vergangenheit war! Wie er zu dem geworden war, der heute hier saß! Das verstieß sowas von gegen die Regeln! So oder so ähnlich wollte der Illusionist einem ersten Impuls folgend antworten, aber natürlich hatte es bei dieser Konversation gar keine Regeln gegeben, gegen die Charon hätte verstoßen können. Er hatte nur in eine andere Kerbe geschlagen, als Lian gerechnet hatte – in eine Kerbe, auf die er mental nicht vorbereitet war. Verdammter Mistkerl. Die Verwunderung wich aus den Gesichtszügen, doch anstatt sofort zu antworten, wandte sich Lian ab. Er musterte die restliche Flüssigkeit in seinem Glas, legte das Kinn wieder auf der Handfläche ab und seufzte leise. „Hm. Ich glaube, deine vagen Andeutungen waren mir doch lieber. Wollen wir nicht dahin zurückkehren?“ Kurzzeitig wanderte der Blick hinüber zu Charon und er schenkte seinem Freund ein amüsiertes Lächeln. Dann wandte er sich wieder seinem Glas zu und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. „Um ehrlich zu sein… nein“, holte er dann, einige Zeit später, endlich zu einer Antwort aus. Ob das die Antwort war, die der ältere Magier hatte hören wollen? Hatte er überhaupt eine konkrete Erwartung gehabt? „Ich habe immer noch nicht das Gefühl, dass es der Platz ist, an den ich gehöre. Aber… ich weiß nicht. Ich befürchte, ich habe den Absprung verpasst. Es gibt Leute, die mich erkennen, die mich auf offener Straße mit meinem Namen ansprechen und mich um Hilfe in irgendwelchen Angelegenheiten bitten. Das ist etwas, das mir früher nie passiert wäre.“ Wenn es eine Sache gab, die Lian seit seiner Jugend genossen hatte, dann war es jene, dass er in der Masse unterging. Nicht zuletzt das hatte seinen Erfolg als Dieb ausgemacht. Insbesondere in der Wüste war es immer schwer gewesen, eine Person wie Lian im Gedächtnis zu behalten. Doch je länger er als Magier von Crimson Sphynx tätig war, je höher er im Rang stieg, desto mehr ging dieses Merkmal verloren. Die Menschen wussten, wer er war und wollten in irgendeiner Form seine Aufmerksamkeit. Nicht alle, selbstverständlich, doch die Anzahl stieg kontinuierlich und das war etwas, das Lian überhaupt nicht gefiel. Es widersprach dem Verständnis, das er von sich selbst hatte. Er schnappte sich sein Glas und trank einen Schluck, dann drehte er sich wieder vollends seinem Freund zu und neigte den Kopf. „Es ist nicht so, dass man das einfach wieder rückgängig machen kann. So tun, als hätte es mich als Magier von Crimson Sphynx nie gegeben und einfach dort weitermachen, wo ich zuletzt aufgehört habe. Wenn ich höre, was die Leute mir für Fähigkeiten zusprechen… manchmal wirkt es auf mich so, als hätten sie gar Angst davor. Vor mir, kannst du dir das vorstellen?“ Lian lachte und schüttelte gleichzeitig den Kopf, denn er fand es wirklich absurd… Oder?
Du bekommst ihn nur, weil ich dich in diesem Moment mehr fürchte und hasse als Orwynn. „L…ian“
Die Bilder von Gin und Rownan huschten nur für den Bruchteil einer Sekunde durch Lians Gedankenwelt, ein winziger Moment, in dem ihm die Gesichtszüge entglitten. Doch der Moment war schnell wieder verschwunden, die Erinnerungen verdrängt. Eine Gefahr für andere, hm? „Stell dir vor, ich würde dort weitermachen, wo ich war, bevor ich Crimson Sphynx beigetreten bin. Der berühmt berüchtigte Magier Lian, der… auf die schiefe Bahn gerät. Ich bezweifle, dass ich noch wie irgendein Dieb behandelt werden würde.“ Und was er nicht sagte, aber damit ebenso meinte: Die Wüstengilde selbst würde so etwas kaum zulassen. Es wäre mehr als nur eine einfache Rufschädigung, wenn ein bekannter S-Rang-Magier aus den eigenen Reihen plötzlich durch kriminelle Tätigkeiten Aufmerksamkeit erregte. Selbst wenn Lian die Gilde verließ: Crimson Sphynx würde etwas dagegen unternehmen, damit es nicht auf sie zurückfiel. Wie hatte Yuuki es damals ausgedrückt? Sollte der Falls je etwas tun, das sich negativ auf die Gilde auswirkte, müsse er damit rechnen, alle Konsequenzen dieser Taten zu spüren zu bekommen. Damals hatte Lian es leicht von sich geschoben, doch je höher er im Rang gestiegen war, desto mehr verstand er die Bedeutung hinter diesen Worten. Es war mehr als eine leere Drohung. Allem voran war es eine Drohung, die nicht nur durch einen Yuuki Grynder bestand. Vielleicht auch durch Charon? Rin? Alle anderen Mitglieder von Crimson Sphynx? Nein, es stand außer Frage: Der Falls war auf ewig mit Crimson Sphynx verbunden, auf die eine oder andere Weise und ganz gleich, was er sich für seine Zukunft vorstellte, er musste es mit dieser Tatsache in Einklang bringen. Der junge Mann leerte sein Glas – das hatte er gerade mehr als nötig. Als er Charon musterte, lag in den hellgrünen Augen eine gewisse Bitterkeit. Sich nicht gänzlich richtig fühlen, aber auch nicht wissen, wohin genau man gehen sollte – eine Phase, in der sich jeder Mensch irgendwann befand. Manche bewältigten sie… andere hingegen hielten sich auf ewig in diesem Zwiespalt auf. Zu welcher Gruppe Lian am Ende wohl zählen würde? Die Mundwinkel hoben sich wieder zu einem Lächeln an, wenngleich es die Augen nicht so recht erreichte: „Meine Mutter hat früher ständig davon gesprochen, dass es vollkommen egal ist, was man versucht, ob man eine andere Abzweigung wählt, in dem Versuch, sich selbst zu verwirklichen: Am Ende landet man doch wieder auf dem Pfad, der für einen vorherbestimmt ist. Schicksal hat sie es immer genannt. Vielleicht trifft das hierauf ja genauso zu. Selbstbestimmung, wie du es nennst, kam hingegen nicht in ihrem Wortschatz vor.“ Eine Sache, die ich von ihr übernommen habe So schnell konnte sich das Blatt wenden: Eben noch war es Charon, der in die Mangel genommen wurde und kurze Zeit später war es Lian, der sich mit unbequemen Dingen auseinandersetzen musste… Gott. Wenn sein Freund in diesem Tempo weitermachen wollte, dann brauchte Lian definitiv eine neue Runde. Der Falls bemühte sich mit einem Kopfschütteln, die Bitterkeit loszuwerden. „Mensch. Ich habe nicht damit gerechnet, so schnell so deprimierende Themen anzuschneiden. Bei uns beiden liegt echt Einiges im Argen, was?“
Eventuell entsprach es nicht dem Geist des heutigen Abends, eine Frage zu stellen, die wenig mit der Vergangenheit zu tun hatte. In der Hinsicht konnte Charon wohl nicht aus seiner Haut. Wenn etwas sein Interesse weckte, dann gab er seiner Neugier gerne nach. Selbst wenn er wusste, dass Lian diese Frage vermutlich nicht gerne hörte. „Ich fürchte, für vage Andeutungen ist es zu spät“, schmunzelte der Dargin und sah seinen Freund auffordernd an. Er hatte eine Frage gestellt, und auf die wollte er eine Antwort. Ob Lian es nun so sah oder nicht, Charon hatte sich heute Abend schon über seine Komfortzone hinaus geöffnet und er würde vermutlich noch mehr preisgeben müssen. Da war eine einfache Frage danach, wie sich Lian fühlte, doch wohl keine Unmöglichkeit. Es dauerte trotzdem, bis die Antwort kam. Lian musste sich emotional und mental darauf vorbereiten, so wirkte es, und vielleicht musste er sogar darüber nachdenken. War er glücklich in seiner aktuellen Rolle? Anscheinend... war er es nicht. Leicht verzog sich der Mundwinkel des Dargin. Er war auf diese Antwort vorbereitet gewesen, aber... er hätte sich eine andere gewünscht. Der Gedanke, dass Lian Falls die ganze Zeit über, die sie sich schon kannten, lieber gar nicht da gewesen wäre... schmerzte. Auch wenn er wusste, dass es nicht das war, was der Schütze sagen wollte. „Du meinst also... du gehörst nicht zu Crimson Sphynx“, fasste Charon zusammen, wie er verstand, was sein Freund sagte, der Kopf gesenkt. Vielleicht hätte er diese Frage wirklich nicht stellen sollen. „Dabei... hatte ich eigentlich das Gefühl, dass es dir inzwischen ganz gut gefällt, mit mir zu arbeiten.“ Eventuell verfehlte das den Punkt. Die Welt, so schockierend es auch war, drehte sich nicht immer um Charon Dargin. Das wusste selbst er. Trotzdem war es schwierig, Lians Gefühle, seinen Platz nicht gefunden zu haben, nicht irgendwo auch auf sich selbst zu beziehen. Nachdenklich legte er den Kopf in den Nacken.
„Doch... ich verstehe schon, warum man dich fürchten würde.“
Die Worte waren offen, klar. Es lag keine Wertung in Charons Stimme, aber definitiv Verständnis. Verstand Lian es selbst nicht? Oder wollte er es lieber nicht wahrhaben? „Du wirst dich vermutlich nicht mehr daran erinnern, aber... ich glaube, ich habe dir schon bei unserem ersten Treffen gesagt, dass deine Magie etwas Besonderes ist. Erfahrene Illusionsmagier gehören zu den gefährlichsten Gegnern, weil sie wissen, wie man andere Leute manipuliert. Natürlich warst du damals noch nicht erfahren. Du warst die Art Magier, die nicht einmal die Limitationen seiner eigenen Zauber beachtet hat.“ Der Dargin lachte auf, leicht hämisch. Ja, das waren Zeiten gewesen. Er würde lügen, wenn er behauptete, dass er damals nicht auf den Falls hinabgesehen hätte. Auf eine Weise, wie er es heute nicht mehr konnte. „Aber jetzt... Jetzt bist du einer der erfahrensten Illusionsmagier, die ich je gesehen habe. Und du weißt sehr genau, wie du Leute beeinflusst. Manchmal fühle selbst ich mich nicht ganz sicher.“ Vor Allem jetzt, wo er noch mit Emotionen zu spielen gelernt hatte. Eine Fähigkeit, die dem Dargin einen kalten Schauer den Rücken hinablaufen ließ. Lian Falls war in der Lage, in das Innere einer Person zu blicken und voll auszunutzen, was er darin sah. Wer würde so jemanden nicht fürchten? „Naja. Zum Glück muss ich mir keine Gedanken machen. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann.“ Mit einem warmen Lächeln lehnte sich Charon wieder vor, stützte sich auf den Tresen der Bar, während er seinen Partner anblickte. Selbst wenn Lian tatsächlich den Punkt erreichte, an dem der Dargin seiner Magie ausgeliefert wäre, zweifelte das Weißhaar nicht daran, dass sein bester Freund den rechten Weg wählen würde. „Ich sehe auch nicht, dass du wieder zum Dieb werden würdest“, meinte er ehrlich und musste grinsen. „Zumindest nicht mehr, als du es immer noch bist. Du bist reifer geworden, denke ich. Du verstehst langsam, was es bedeutet, jemanden zu verletzen.“
Lians Mutter war also eine Person gewesen, die ans Schicksal glaubte. Jemand, der bereit war, sein Leben einer höheren Macht zu überlassen und zu akzeptieren, dass eben geschah, was geschah. Das absolute Gegenteil von einem Charon Dargin, der sich selbst gegen die Götter auflehnte und auf sie hinabblickte. Eventuell war er als anderes Extrem auch nicht auf dem rechten Weg, aber er mochte seinen eigenen Weg deutlich lieber. „Gut, dass du nicht sie bist“, zwinkerte er und stieß seinem Freund leicht gegen den Arm. „Es ist nie zu spät, damit anzufangen, für sich selbst zu bestimmen.“ Wobei Charon zugegebenermaßen nicht immer gefördert hatte, dass Lian eben das tat. Bei ihrem ersten Treffen hatte er sich die fixe Idee angelacht, den Falls zu einem fähigen Magier hochzuziehen, der nach den Vorstellungen des Dargins agierte. Ihre ersten Treffen danach waren komplett vom Weißhaar bestimmt gewesen, das entschieden hatte, Lian auf die ein oder andere Quest zu schleppen mit Versprechungen leicht verdienter Belohnungen. Selbst nachdem er akzeptiert hatte, dass sie Freunde sein mussten, hatte Charon nie damit aufgehört, Entscheidungen für Lian zu übernehmen oder ihn mitzuschleifen auf den Wegen, die ihm gefielen. Oder Einigkeit mit Rin zu nutzen, um ihn zu überstimmen. Eventuell war Charon, der die Selbstbestimmung prägte, gleichzeitig Teil dessen, was Lian noch immer in alten Mustern festhielt, aus denen er gerne ausbrechen wollte. Wobei... nein. Das konnte nicht sein. Charon tat Lian gut, daran bestand wohl kaum ein Zweifel. „Du hast schon Recht... je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr Dinge fallen mir ein, die ich nie jemandem erzählt habe“, lachte der Dargin amüsiert vor sich hin, während er den Rest seines Glases leerte und es wieder hinstellte. „Noch eine Runde, bitte.“ Die konnte Lian sicher auch gebrauchen. Der hatte gerade ganz schön ausgepackt. Vielleicht sollte man ihn ein wenig schonen. „Gibt es noch Fragen, die du an mich hast?“, hakte er also nach und blickte seinem Freund in die Augen. „Ich denke, ich habe dich für den Moment genug gequält.“
Tja – was hätte Lian sagen sollen? Leider entsprach es immer noch der Wahrheit, dass er sich nicht vollständig richtig bei Crimson Sphynx fühlte. Einige Dinge hatten sich verändert, er hatte Aufträge übernommen, Menschen geholfen und nicht zuletzt neue Leute in sein Leben gelassen, deren Bekanntschaft der junge Mann heutzutage nicht mehr missen wollte. Aber reichte das aus, um zu behaupten, er wäre ein überzeugter Gildenmagier? Bei einer solchen Bezeichnung kamen ihm Leute wie Yuuki Grynder oder Akay in den Sinn. Beide hatte der Falls – wenn auch in sehr unterschiedlicher Art und Weise – als stolz, pflichtbewusst und von den scheinbaren Werten der eigenen Gilde überzeugt wahrgenommen. Sie hatten stolz ihr Gildenzeichen gezeigt, hatten aus ihrer Zugehörigkeit als Magier keinen Hehl gemacht und… naja, es irgendwie auch genossen, als solche in der Öffentlichkeit erkannt zu werden. Doch Lian? Er fand sich damit ab, dass es sein Job war, doch im Alltag war es ihm immer noch lieber, wenn man ihn vergaß oder übersah. Selbst Arkos hatte mehr die Ausstrahlung eines überzeugten Gildenmitglieds gehabt als Lian… nicht umsonst hatten die Anwesenden damals lange gedacht, dass der Aurelius der hochrangige Magier in dem Duo wäre. Der Lockenkopf seufzte stumm. „Es geht nicht darum, ob es mir gefällt, mit dir zu arbeiten, Charon.“ Dass der Dargin ein Problem damit hatte, so etwas nicht auf sich persönlich zu beziehen, damit hatte Lian schon gerechnet. Umso wichtiger war es ihm, nochmal deutlich auszusprechen, dass es bei der Frage, ob er gerne ein Gildenmagier wäre, um andere Dinge ging als um seinen Freund. Ein bisschen mehr überraschte es den Braunhaarigen allerdings, als der Hellhaarige unumwunden zugab, verstehen zu können, dass man Lian fürchten könne. Erfahrene Illusionsmagier gehörten zu den gefährlichsten Gegnern… doch, der 21-Jährige erinnerte sich daran, dass Charon so etwas ähnliches bereits bei ihrer ersten Begegnung geäußert hatte. Damals war es ihm wirklich albern vorgekommen, Lian hatte seine eigene Magie nicht als mächtig angesehen, hatte sie sogar beim Einsatz vollkommen falsch eingeschätzt und sich blamiert. Aber in den letzten Jahren… doch, da hatte sich etwas verändert. Gins ängstliches Gesicht blitzte erneut in Lians Gedankenwelt auf, die voller Entsetzten über die Illusion gewesen war, in die Lian sie willentlich gesteckt hatte. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, dass der Braunhaarige sich damals nicht mächtig gefühlt hätte. „Du fühlst dich manchmal nicht ganz sicher vor mir?“ Wow. Als könnte Lian mit einem Charon Dargin ernsthaft mithalten. Doch das schmale Grinsen, das über die Lippen des Illusionisten huschte, verriet, dass er sich ein bisschen an diesem Gedanken erfreuen konnte. Lag es daran, dass es ihm das Gefühl gab, mehr auf Augenhöhe mit seinem Freund zu sein? Daran, dass man ihn für seine Fähigkeiten respektierte? Vielleicht spielte auch wieder diese Sache mit der Macht hinein, der sich Lian nicht gänzlich erwehren konnte. Naja… und der Alkoholkonsum brachte sicherlich auch seinen Teil ein. Lian, der sein Glas bereits geleert hatte, stützte das Kinn auf der Handfläche ab und neigte den Kopf ein bisschen zur Seite. Tatsächlich gehörte Charon zu den sehr wenigen Menschen, die Lian wirklich vertrauen könnten, denn er wusste vermutlich von allen Menschen am meisten über den Falls und seine Hintergründe Bescheid. Aber stimmte es, dass Lian inzwischen gelernt hatte, was es hieß, jemanden zu verletzen? Skrupel hatte der Braunhaarige schon immer gehabt und ein Gewissen, das er insbesondere in der Vergangenheit allzu oft verflucht hatte. Der Falls hatte sein Gewissen nur als Ballast wahrgenommen. Wohlmöglich hatte der Dargin aber Recht damit, dass Lian früher deutlich öfter über dieses Gewissen hinweggehandelt hatte, es ignorierte, trotz dessen, dass er jemanden damit verletzte. Irgendwie musste Lian dabei an das Medaillon von Yuuki denken. Würde er so einen Diebstahl heute immer noch durchziehen? Ganz gleich, dass es einen emotionalen Wert für den Besitzer hatte? Vermutlich nicht.
Charon bot freiwillig an, nun selbst wieder mit Fragen gebohrt zu werden? Lian musste schmunzeln. „Wie unerwartet aufmerksam und freundlich von dir. So kenne ich dich ja gar nicht.“ Langsam wog die Sphynx seinen Kopf nach rechts und links, schloss die Lider und dachte nach, während Garrett sich um die nächste Runde kümmerte. Die Frage, ob der Finsternismagier mit seiner Rolle als Gildenmagier zufrieden war, hätte nicht ansatzweise die gleiche Wirkung wie bei Lian. Über die familiären Hintergründe des Älteren hatten sie auch schon gesprochen, wenngleich es hier natürlich noch viele Details gab, bei denen man nachbohren könnte. Aber das konnte auch noch zu einem späteren Zeitpunkt geschehen… Der Falls entschied sich für den Moment anders. „Als wir uns das erste Mal getroffen haben, warst du schon eine Weile bei Crimson Sphynx“, begann er mit seiner Frage, öffnete die Augen wieder und lächelte fein. „Erzähl mir ein bisschen was von deiner Zeit bei Crimson Sphynx, bevor wir uns getroffen haben. Gabs Personen, mit denen du damals mehr zu tun hattest? Ich meine… Amy Crest scheint auch in dieser Zeit passiert zu sein. Erzähl mir ein bisschen was, damit ich zukünftig besser vorbereitet bin.“ Lian wusste zwar nicht viel, aber ausreichend über die Beziehung, die Charon mit der ehemaligen Banditin gepflegt hatte. So oder so wurde deutlich, dass Charon vor seiner Bekanntschaft mit dem Falls gut in die Gilde Crimson Sphynx eingegliedert gewesen war… oder? Allzu viele Freunde, die der Finsternismagier aus der Gilde bereits länger hatte, hatte Lian nicht kennengelernt. Da… fiel ihm doch noch eine weitere Sache ein, die vielleicht als Einleitung zur ersten Frage noch besser geeignet war: „Hm. Warum ist es bei dir eigentlich ausgerechnet Crimson Sphynx geworden? Gab es da irgendeinen besonderen Umstand, der dich hier gehalten hat?“
„Wenn du das sagst...“, seufzte Charon. Irgendwie, aus seiner Sicht, spiegelte Lians Unzufriedenheit mit seiner Arbeit in Crimson Sphynx doch irgendwo wider, dass die alleinige Nähe von Charon Dargin nicht genügte, um sein Leben in Gänze zu erfüllen. Das war vielleicht auch eine etwas unangemessene Erwartungshaltung, aber... wie sollte man es denn sonst sehen? Aber gut, manchmal hatte er eine ganz schön eigene Sicht. Vielleicht lag es daran, dass er die Furcht vor Lian so gut verstehen konnte. „Ein Stück weit, ja“, bestätigte er, als der Schütze nachhakte, ob er sich nicht immer sicher fühle. „Um ehrlich zu sein... Der Gedanke, dass jemand anders sehen kann, was ich in meinem Inneren fühle, ist etwas, das mir häufiger Kopfzerbrechen bereitet. Das ist eigentlich nicht für Andere bestimmt.“ Er seufzte, schüttelte den Kopf. „Ich bin ja nicht einmal sicher, dass ich es immer selbst weiß...“ Vielleicht konnte der Falls diese Art Gefühl ja nachvollziehen. Wäre es jemand anders, wäre es nicht gerade Lian, dann würde Charon die Nähe von jemandem mit dieser Fähigkeit vermutlich eher meiden. Der Brünette hatte Glück, dass sein Freund so an ihm hing.
Schlussendlich war Lian jemand, dem sich Charon auch ohne die ganzen Gefühls-Tricksereien öffnen konnte. Genau dafür waren sie schließlich hier, nicht wahr? Wie es sich gehörte, gab das Weißhaar den Spielball zurück an seinen Kumpel, ließ ihn die nächste Frage stellen. „Wie meinen? Ich bin doch stets zuvorkommend und gönnerhaft“, schmunzelte er selbstsicher, als wäre er der Heilige, den er so gern nach außen ausstrahlte. Aufmerksam betrachtete er das Gesicht des Falls, der so langsam etwas mehr Zeit brauchte, um herauszufinden, was er wissen wollte. War das der Alkohol? Oder hatten sie einfach schon zu viele Themen ausgeschöpft? Sie hatten auf jeden Fall schon einige Gläser geleert. Auch wenn sie sich die Rechnung am Ende teilten, konnte es wohl nicht mehr ewig so weitergehen. „Bevor wir uns getroffen haben...“, murmelte Charon nachdenklich, stützte seine Wange auf seine rechte Hand auf eine Weise, die man selten von ihm sah. Normalerweise achtete er mehr auf seine Haltung. „Ich weiß gar nicht, ob es da so viel zu erzählen gibt. Die Story zwischen mit und Amy ist auch nicht annähernd so groß, wie du sie gerne machst“, meinte er ruhig, während er versuchte, eine ordentliche Antwort zu finden. Zu behaupten, dass er nichts zu erzählen hatte, wäre wohl eine schwache Aussage, aber ihm fiel wirklich nicht viel ein. „Ich kann dir nicht recht sagen, woran es lag, aber trotz meiner Art und meinem Aussehen sind nie viele unserer Kollegen auf mich zugekommen. Wenn ich mit jemandem zusammenarbeiten wollte, ging das meist von mir aus... so wie mit dir ja auch. Natürlich habe ich mit einigen Mitgliedern immer mal zu tun gehabt, mit Leuten wie El, oder Amaya, oder... mit Yuuki.“ Er zuckte mit den Schultern. Potenziell war der Rotschopf tatsächlich einer von den Leuten gewesen, mit denen sich Charon am Besten verstanden hatte, bis er mit seinen verlorenen Magien und seinem Rang einfach an dem Dargin vorbeigezogen war. Außerdem war er einfach... sozialer. Es wäre falsch zu sagen, die beiden hätten einander nicht irgendwo geschätzt, aber je weiter sie sich voneinander distanziert hatten, desto weniger fühlte sich der Weißschopf mit ihm auf einer Wellenlänge. Er seufzte. „Aber da wäre jetzt niemand, mit dem ich abseits von Quests viel getan hätte. Keine Freunde, und... keiner, mit dem ich trinken gegangen wäre.“ Er lachte auf. Nein, tatsächlich waren seine Beziehungen in der Gilde vor dem Treffen mit Lian ziemlich knapp ausgefallen. Obwohl er schon damals ziemlich perfekt gewesen war, hatte sich Charon wohl noch auf irgendeine Weise entwickeln müssen, um sich sozial wirklich zu etablieren. „Ich habe mich aber denke ich auch immer mehr darauf konzentriert, einen guten Eindruck beim Gildenmeister zu hinterlassen, als Zeit mit irgendwelchen einfachen Mitgliedern zu verschwenden“, gab er zu, jetzt, wo er das ganze ordentlich reflektierte. „Es war mir wichtig, in eine Vertrauensposition zu kommen. Aram weiß, dass er sich auf mich verlassen kann, deshalb kann ich in der Gilde eine große Rolle spielen. Das ist mir eine Menge wert.“
Ein Lächeln legte sich auf das Gesicht des Dargin, als er über die zweite Frage nachdachte. Kurz in Erinnerungen schwelgend lehnte er sich auf dem Hocker zurück... Ein Stück zu weit, tatsächlich. Er drohte kurz, das Gleichgewicht zu verlieren, ehe er sich schnell wieder nach vorne lehnte und mit seinen Unterarmen auf dem Tresen abstützte. „Heh... Du weißt sicher, dass ich ein paar Jahre durch ganz Fiore gewandert bin, bevor ich mich hier niedergelassen hatte“, meinte er und überging dabei gekonnt das kleine Missgeschick von eben. Das musste man ja nicht weiter thematisieren, wenn man es auch unter den Tisch fallen lassen konnte. „Nachdem ich alle Ecken von Fiore gesehen hatte... habe ich festgestellt, dass das hier der schönste Ort in ganz Fiore ist. Oder, genauer gesagt, der schönste Nachthimmel in ganz Fiore. Deswegen... habe ich mich entschieden, hier meine Wurzeln zu schlagen.“ Ja, das war die Basis der Entscheidung gewesen. Eine Überraschung war es aber sicherlich nicht. Den gleichen Nachthimmel, und das wusste Lian definitiv, beobachtete der Dargin bis heute sehr, sehr häufig. Er hatte seinen Zauber noch nicht verloren. „Und die Gilde... naja, ich hab einen Job gebraucht, nicht?“, lachte er auf. „Ich konnte ein wenig Magie, also habe ich daran gearbeitet, zu einem Gildenmagier zu werden. Und als ich dann drin war, war ich echt glücklich. Ich schätze, die Philosophie von Crimson Sphynx passt gut zu mir? Es ist ein Ort, an dem harte Arbeit wirklich geschätzt wird und diejenigen, die die Gilde runterziehen, mit ihren Konsequenzen zu leben haben. Das hat mir zugesagt, schätze ich. Ich mag es, wenn diejenigen, die gute Leistungen erbringen, dafür auch geschätzt werden.“ Zufrieden lächelte er bei diesen Worten – ein Lächeln, das langsam verblasste, während seine Gedanken weiter wanderten. Seine Augen zogen sich zusammen und in seinen nächsten Worten war eine gewisse Verbitterung nicht zu überhören: „Da, wo ich herkomme, war das sehr anders...“
„Ob Amy das gleiche behaupten würde?“ Ein Grinsen schlich sich auf Lians Lippen, das deutlich zu breit ausfiel. Eine Nebenwirkung des Alkohols? Gut möglich. Entsprechend komisch fand der Falls auch seinen eigenen Witz und lachte, nicht übermäßig laut, aber doch unkontrollierter, als es diese kleine Anspielung eigentlich verdient hatte. Trotz des leichten Nebels in seinem Hirn bemühte sich der junge Mann wirklich, den Worten und Ausführungen des Dargin zu folgen und war ziemlich stolz auf sich, dass er es sogar schaffte. Wenige soziale Kontakte, früher ein deutlich größerer Fokus auf die Erledigung von Quests und einen guten Eindruck bei Aram Falls. Hm. Hieß das, Lian war irgendwie ein schlechter Einfluss gewesen? Hatte den Fokus von Charon in eine Richtung gelenkt, die nicht mehr ausschließlich mit pflichtbewusster Aufgabenerledigung zu tun hatte? Das war ein Gedanke, der dem Illusionisten viel zu sehr gefiel. Deutlich weniger gefiel ihm da die Aufzählung der Personen, mit denen Charon früher mehr zu tun gehabt hatte. Ungezügelt suchte sich der Unmut seinen Weg nach außen, als der Name Yuuki fiel. Es würde auf ewig ein rotes Tuch bleiben, insbesondere bei einem Lian, der ein paar Getränke über den Durst konsumiert hatte. „Wenn du mich mit Yuuki auf eine Stufe gestellt hättest, wäre ich auch empört gewesen!“ Der Braunhaarige schnaubte lautstark, schnappte sich sein Getränk und nippte ein weiteres Mal von dessen Rand. Obwohl… seien wir ehrlich: Es ging deutlich über das vorsichtige Nippen hinaus. Über den Rand des Glases hinweg musterte Lian den Finsternismagier und hob die Mundwinkel zu einem wissenden Lächeln an. „Charon Dargin, der kleine Schleimer.“ Auch an der anstößigen Ausdrucksweise hatte der Alkohol durchaus seine Beteiligung – hoffentlich würde Charon dafür Verständnis aufbringen. Naja… oder es gar nicht richtig wahrnehmen, saßen die beiden Crimson Magier doch immerhin aktuell im gleichen Boot. Oder vielmehr in der gleichen Bar. Lian winkte mit einer ausladenden Bewegung ab. „Nicht, dass ich diese Fähigkeit nicht auch bis zu einem gewissen Grad anerkennen kann oder ich so etwas nicht manches Mal selbst anwende, um besser an mein Ziel zu kommen. Aber trotzdem: Das absolute Gegenteil von mir. Ich wollte den Hochrangigen immer lieber aus dem Weg gehen. Einem Aram Falls erst Recht.“ Und damit wäre die Verschwendung der Zeit mit einfachen Gildenmitgliedern – wie Charon es ausdrückte – immer Lians erste Wahl gewesen. Doch so, wie Charon sich verändert hatte, seit er mehr mit Lian zu tun hatte, verhielt es sich natürlich auch umgekehrt. Der Falls war heutzutage mehr darauf bedacht, einen anständigen Job zu machen, als es früher vielleicht der Fall war und vielleicht freute er sich insgeheim auch darüber, für gute Taten ein Lob oder Aufmerksamkeit zu kassieren. Der Lockenkopf war im Alltag höchstens zu stolz, um diese Veränderung offen gegenüber anderen zuzugeben.
In dem Moment, als Charon sich aufrichtete und kurzzeitig das Gleichgewicht verlor, stürzte Lian bereits unkoordiniert nach vorne, um dem Hellhaarigen Halt zu bieten. Man konnte von Glück sprechen, dass der Dargin es alleine schaffte, wieder eine gerade Haltung einzunehmen. Es war wahrscheinlicher, dass beide Männer von ihren Stühlen gefallen wären, als dass der deutlich schmächtigere Lian nach den Getränken eine echte Stütze hätte sein können. Charon war also in Aloe geblieben, weil es hier den schönsten Nachthimmel gab? Eine Entscheidung, die Lian nicht nur guthieß, sondern auch nachvollziehen konnte. „Die absolut richtige Entscheidung!“, unterstützte er entsprechend die Aussage seines Freundes und prostete ihm ein weiteres Mal grinsend zu. Nachdenklich legte er das Kinn auf der Handfläche ab und grübelte darüber nach, was Charon über die Möglichkeiten dachte, die Crimson Sphynx einem bot. Es war ein Ort, an dem harte Arbeit wirklich geschätzt wurde? Und diejenigen, die die Gilde runterzogen, mit den Konsequenzen leben mussten? Lian war sich unsicher, ob er das auch so empfand. Und Yuuki hätte da mit Sicherheit vehement widersprochen. Hatte der Rothaarige dem Falls nicht mehr oder minder vorgeworfen, ein Beispiel dafür zu sein, dass die Philosophie von Crimson Sphynx so überhaupt nicht der Wahrheit entsprach und man deshalb die Gilde verlassen müsste? Dass Menschen wie er, die es nicht verdient hatten, Teil der Wüstengilde waren – einfach nur, weil ein Verwandtschaftsverhältnis zum Gildenleiter bestand. Lian war jemand, der die Gilde runterzog und damit eben den Werten, die Charon gerade hochhielt, widersprechen würde. Argh… warum wurden die Gedankengänge gerade so düster? So sollte der Abend aber nicht sein! Und was tat Lian, wenn er Alkohol getrunken hatte und von seinen dunklen Gedanken davonkommen wollte? Natürlich: Auf dumme Ideen kommen. Was wäre ein Kneipenabend unter Freunden, wenn man am Ende nicht irgendeine kleine Dummheit zusammen anstellte? Die Frage war nur, was… „Oh? Was war das?“ Ehe der Braunhaarige seine wirren Gedanken hätte ordnen können, horchte er auf. Da, wo Charon herkam, wäre das anders gewesen? Das war viel zu spannend, als dass Lian das Thema einfach hätte fallenlassen können. Die hellgrünen Augen musterten den Dargin und fokussierten sich, soweit das noch möglich war. „Inwiefern war das dort, wo du herkommst, anders?“ Eine tiefergehende Familientragödie, die verborgen lag? Als Charon zuletzt über seine Familie gesprochen hatte, waren sie noch beim ersten Getränk gewesen… war der Finsternismagier jetzt etwa redseliger?
„Ich glaube, wenn du Amy fragst, ob ich ihr etwas bedeute, haut sie dir eine rein“, lachte Charon auf Lians Frage provokant auf und nahm noch einen Schluck aus seinem Glas. „Also bitte, geh sie fragen und erzähl mir danach die Details.“ Schlussendlich war der Dargin heute nicht mehr genau die gleiche Person wie damals. Zu viel hatte sich geändert. Es war nicht nur, dass er mehr erreicht hatte, sondern auch, dass seine Werte begonnen hatten, sich zu verschieben. Nur wo genau sie landen würden... das stand noch nicht fest. „Ein Schleimer? Also bitte!“, schnaubte Charon, die Arme vor der Brust verschränkend. „Als hätte ich das nötig. Meine Fähigkeiten und meine angenehme Natur sind alles, was ich brauche, um einen guten Eindruck zu hinterlassen.“ Auch wenn er gerade mehr oder minder zugegeben hatte, dass diese Aspekte die meisten Mitglieder nicht sonderlich beeindruckt hatten... Eventuell hatte er sich schon besondere Mühe gegeben, um Aram zu zeigen, welchen Wert er für die Gilde hatte. Das hatte auch nicht geendet. Der Dargin fühlte bis heute eine besondere Bindung zu dem Falls, auch wenn diese von der anderen Seite nie offiziell bestätigt worden war. Musste sie aber auch nicht. Charon vertraute darauf, dass der Gildenmeister ihn auch auf persönlicher Ebene sehr schätzte. So, wie es auch sein Neffe tat, dessen Weg sich trotz allem Motzen stetig dem des Finsternismagiers annäherte. Tatsächlich kamen sich die beiden wohl näher, als sie es erwarten würden.
Es war schön, ein wenig in Erinnerungen an eine einfachere Zeit zu schwelgen und sich daran zu erinnern, wo Charons Überzeugung gegenüber den Werten von Crimson Sphynx eigentlich herkam. Er war gekommen, weil er den rechten Platz zum Leben gesucht hatte, und war geblieben, weil ihm die Wertschätzung seiner Mühen so viel bedeutete. Nur dumm, dass er sich dabei nach all den Drinks ein wenig verplapperte. Und natürlich bohrte Lian sofort nach, inwiefern er das schon anders erlebt hatte. „Hm? Anders? Hab ich das gesagt?“, murmelte Charon mit geröteten Wangen und leerte den Rest seines Glases, ehe er es mit einem Seufzen abstellte. „Das klingt gar nicht nach mir... hey, noch eine Runde, bitte.“ Ganz so höflich wie sonst war er jetzt auch nicht mehr. So langsam fielen mehr Fassaden, als es dem Weißhaar lieb wäre. Glücklicherweise bekam er es nur zum Teil mit. „Ich bin nicht der Typ dafür, mich an der Meinung gedankenloser Möchtegern-Pragmaten aufzuhängen. Es gibt nicht wirklich etwas darüber zu sagen, was ich in Nord-Fiore erlebt habe. Immerhin war ich damals selbst noch ein einfacher Jugendlicher.“ Mit einem Schulterzucken hakte er das Thema ab, froh darüber, als ihm ein neues Glas präsentiert wurde. Wortlos nahm er es an, gönnte sich einen Schluck, betrachtete die Flüssigkeit im Inneren. Nein, es gab nichts in seiner Vergangenheit, über das er reden wollte. Nichts, was einen relevanten Einfluss hätte.
Aber es gab da schon eine Frage, die ihn gerade unerklärlicherweise beschäftigte.
„Sag mal... ist dir schon einmal aufgefallen, wie viel Aufmerksamkeit auf Fehler gerichtet wird?“ Ein Hauch von Frustration lag in den Augen des Weißhaarigen, während er hinab in sein Glas starrte, trotz seinem Versuch, ruhig und unberührt wie immer zu wirken. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der zuerst auf das geschaut wird, was falsch gemacht wird. Die Leute, die ihre Arbeit gut erledigen oder die Fehler der Anderen korrigieren, werden übersehen. Stattdessen liegt der Fokus auf den Leuten, die anderen schaden. Ist das nicht Unsinn? Absolut kontraproduktiv?“ Unzufrieden schnaubte der Dargin, schüttelte den Kopf. „Ich weiß sehr zu schätzen, dass in Crimson Sphynx ein besonderer Blick darauf gelegt wird, wer die Gilde gut repräsentiert, aber selbst in der Gilde haben wir solche Leute. Wenn ich mich nicht irre, kennst du Koren Zur sehr gut... das ist so einer. Immer auf der Suche nach dem, was nicht funktioniert. Selbst nach meinem Aufstieg zum S-Rang hat dieser Kerl noch nie auch nur eine Minute Zeit für mich gehabt. Solche Leute sind es, die die Schönheit unserer Gesellschaft mit hässlichen Flecken überziehen...“
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