Typ: Zimmer Besitzer:Mary Baumgardner Beschreibung: Dieses kleine Zimmer recht weit am Anfang des Ganges (und damit in der Einflugschneise so ziemlich jeder Person, die schlafen gehen will, was ein Glücksgriff) beherbergt Mary Baumgardner, eines der Mitglieder der Gilde Satyrs Cornucopia.
Im Grunde genommen handelt es sich bei dem Zimmer eher um einen Schuhkarton als eine Übernachtungsmöglichkeit; es mag der Eindruck entstehen, man hätte die arme Bewohnerhin aus Versehen in die Abstellkammer gepfercht. Tatsächlich ist der Grundriss des Zimmers eher schmal und lang als breit und geräumig, so dass sich das Bett, der Schreibtisch mit dem Stuhl und die Schrankkommode ziemlich aneinander quetschen. Abgesehen von einer Lichtquelle und einem Fenster, das zusätzliche Wandfläche frisst, verfügt der Raum jedenfalls über keine großen Attraktionen neben der Tatsache, dass er zumindest "bewohnbar" ist. Die Abwesenheit von persönlichen Gegenständen die spärliche Möblierung lassen darauf schließen, dass Mary erst seit Kurzem hier residiert. Oder sie ist einfach sehr langweilig.
Changelog: Wenn sich im Verlauf des Rollenspiels etwas an dem Ort ändert, wird es hier aufgeführt.
Zuletzt von Mary am Fr 5 Jan 2024 - 23:01 bearbeitet; insgesamt 2-mal bearbeitet
Da war sie nun also … Mary Baumgardner, C-Rang Magier der Gilde Satyrs Cornucopia.
Noch fühlte es sich seltsam fremd an, diese Worte auszusprechen, ja, selbst sie zu denken kam der jungen Magierin beinahe anmaßend vor, die schon seit fünf Minuten vor dem Eingang des Gildenhauses stand und haderte. Ab und zu streckte sich der rechte Arm der Jugendlichen aus, als hätte sie besorgniserregende Zuckungen entwickelt, nur um sich kurz vor dem Türgriff wieder abzusenken. Die linke Hand umklammerte krampfhaft den Träger ihres schweren Rucksackes, in dem sich ihr gesamter weltlicher Besitz befand. Es war ein solides, ledernes Teil und in der Anschaffung recht teuer gewesen. Ihre Eltern hatten sie damit überrascht und ihn mit allerlei Leckereien und Erinnerungsstücken von Zuhause gefüllt, damit sie sich an ihrem ersten offiziellen Tag in der Gilde nicht so verloren fühlte. Gerne hätte Marys Verwandtschaft sie auch bis an die Pforten des Gildenhauses begleitet, doch bei einer so großen Entfernung zwischen ihrer Heimatfarm und Maldina Town war eine Reise einfach zu teuer, zu weit und zu unbequem gewesen.
Vielleicht besser so, dachte Mary, der sich beim Gedanken an den tränenreichen Abschied von ihrer Familie und ihrem alten Leben schon wieder die Kehle zuschnürte. Zum Glück war gerade niemand hier draußen auf der Straße, der sie ansprechen konnte. Ein oder zwei freundliche Gildenmitglieder hatten ihr schon die Tür aufgehalten, aber sie hatte mit einem Lächeln, als hätte sie insgeheim Bauchkrämpfe, abgelehnt und war fest verwurzelt stehen geblieben, wie ein Mauerblümchen, das sich in den Kopf gesetzt hatte, hier festzuwachsen. Wie dämlich sie doch war … Sie hatte genau dasselbe Recht wie jeder andere, das Gildenhaus zu betreten. Das grüne Zeichen auf ihrem Unterarm, das sich ziemlich mit dem weißen Blümchenkleid biss, das um ihren Leib flatterte, war ein Beweis dafür. Dennoch kostete es alle Überwindung, die das Mädchen besaß, hier nicht in Tränen auszubrechen. Konnte man es ihr verübeln? Sie hatte sich erst am Morgen von ihrer Familie verabschiedet, nachdem sie die Zimmerverteilung und die Aufnahmebedingungen abgeschlossen hatte, um sich nun endgültig, quasi ohne Rückticket, ins Getümmel zu stürzen. Was, wenn sie nicht zu den anderen passte? Was, wenn sie fies waren? Wenn sie keinen Questpartner fand, wenn sie …
Mary atmete tief durch. Der Rücken der Lichtmagierin straffte sich, sie riss sich zusammen. Beherzt trat sie einen Schritt nach vorne, langsam, als würde sie durch Gallertmasse waten, doch nachdem sich die Muskeln erst einmal daran erinnert hatten, dass sie eigentlich jung, gesund und funktionstüchtig waren, konnte man sie kaum aufhalten. Sie durchschritt die Pforte in die simpel möblierte, aber deshalb für Mary umso heimeligere Eingangshalle. Die Augen wurden rund und groß, als sie all die Kunstwerke erblickte, welche hier aufgestellt worden waren, und sie fühlte sich gleichsam sehr klein und sehr groß für den Schritt, den sie gemacht hatte. Ein paar der Gildenmitglieder drehten sich um, als sie versehentlich die Tür hinter sich ins Schloss knallen ließ, was sie mit einem piepsigen "Tschuldigung" kommentierte, die meisten nahmen aber keine sonderlich große Notiz von ihr. Vermutlich, weil ihre Augenbrauen kurz nach ihrem Eintritt ein entschlossenes, nach unten gerichtetes Dreieck in ihrem Gesicht bildeten und die junge Magierin den raschelnden Zettel hervorpuhlte, den sie sich in die Westentasche gesteckt hatte. „H-Halle der Nachtruhe“, wiederholte sie leise, legte den Kopf in den Nacken und glubschte wie das Huhn, das man soeben unter den Flügeln gepackt und in einen fremden Stall geschmissen hatte, umher. Wo … genau war das?!
Aaah... Es war doch nichts schöner, als einfach mal tief in den Tag hinein zu schlafen! Ravinuthala Tsumiho war selbst unter den Oni ein Stück weit ein Unikat dafür, wie viel Energie sie zu jeder einzelnen Minute des Tages zeigte... aber ihre stetigen hundert Prozent kamen auch mit schneller, häufiger und tiefgreifender Erschöpfung, die zwei Tribute forderten. Das erste war Schlaf. Unmengen an Schlaf. So viel die Tsumiho herumbrüllte, ihre Keule schwang und durch die Welt rannte, so viel Zeit brauchte sie auch, um herumzuliegen, Nickerchen zu machen, lange Nächte zu schlafen. Das... hatte sie hiermit getan. Mit einem langgezogenen Gähnen streckte sie sich, ehe sie von ihrer Bettrolle aufsprang und mit breitem Grinsen die Luft vor sich boxte. Anders als einige andere Mitglieder hatte Ravinuthala in der Gilde kein eigenes Zimmer, weil sie meistens nicht hier schlief. Sie nahm sich meist eins der freistehenden Zimmer für die Nacht, wenn sie mal hier bleiben wollte, und Savanna zog das dann von ihrer nächsten Questbelohnung ab. Funktionierte gut soweit. Bereit für den Tag stieß sie die Tür auf und ging in den Gang, der die „Hallen der Nachtruhe“ miteinander verband, auf dem Weg zur Einganghalle der Gilde. Das war erst einmal genug Schlaf für die nächsten Stunden! Jetzt fehlte nur noch das zweite Tribut...
„Essenszeit!“
Die Tür zur Halle der Sammlung flog auf, krachte in die Wand, während Thalas Ausruf durch den Rahmen schallte. Mit einem kräftigen Stampfer betrat die hochgewachsene Oni die Halle, ihr Kopf gesenkt, damit sie sich nicht am Türrahmen stieß, ehe sie sich zu voller Größe aufrichtete und die Tür hinter sich wieder ins Schloss warf. Spätestens jetzt dürfte dem Neuankömmling klar sein, warum ihr Auftritt nicht allzu viel Aufmerksamkeit generiert hatte. Genau wie sie war die muskulöse Dame mit der dunkel gebräunten Haut mit einem Knall eingetreten, aber einerseits stellte die reine Lautstärke und Präsenz der Oni sie bei Weitem in den Schatten, und andererseits war das eine Person, die hier schon länger hingehörte, ein anderes Mitglied, wie ein grünes Zeichen auf ihren größtenteils unbedeckten Schulterblättern deutlich zeigte, als sie tiefer in den Raum hinein trat und sich ein wenig umsah, was denn gerade so los war. Auch bei ihr fiel die Reaktion mau aus. Leute hoben kurz den Kopf, sahen in ihre Richtung, ehe sie sich wieder ihren Dingen widmeten. Dafür waren der Anblick und der Klang hier einfach zu alltäglich. In Satyrs Cornucopia konnte man Tag für Tag die verrücktesten Dinge sehen, vermutlich mehr noch als in den meisten anderen Gilden, und so ziemlich jede Art Mensch war willkommen, sich so auszuleben, wie es zu ihr passte. Für Oni wie Ravinuthala und Valdayanna war das eben eine sehr auffällige Art. Da schämte sie sich aber ganz offensichtlich auch nicht für.
Nach einer kurzen Orientierungsphase wandte sich Ravi entschlossen in Richtung Tür und stapfte darauf zu. Essen würde sie nicht durch Rumstehen finden. Sie hatte überlegt, in der Küche zu gucken, ob ein paar Köche am Werkeln waren, sich dann aber doch entschieden, dass sie für so einen kurzen Weg gerade etwas zu viel Energie hatte. Guter Schlaf tat gut und sie strotzte vor Kraft, also konnte sie auch raus und zu irgendeinem Restaurant oder Straßenstand sprinten! Soweit zumindest der Plan. Ein kleines Stück vor der Tür blieb sie dann aber doch stehen und blickte hinunter auf eine kleine, zierliche Blondine, die da stand und ihren Zettel las. „Hey, hey, Mädel! Du stehst im Weg, weißte das?“, fragte sie mit ihrer natürlich lauten Stimme, ließ ihre Stimmbänder kraftvoll schwingen, ehe sie in Gelächter ausbrach. Bestimmt wusste sie das, oder? Konnte ja keiner direkt vor der Tür stehen und nicht erwarten, dass da wer durch wollte. Mutiges Kind war das! Neugierig betrachtete die Oni ihr Gegenüber und beugte sich zu ihr runter. „Hey, hey, hey... Sag ma, wir kenn uns noch nich, ne? Ne? Hab dich noch nich gesehn, glaub ich!“ Eine spannende Feststellung! Hier im Gildenhaus traf man meist nur Gildenmitglieder, also... war sie vermutlich eins davon. Ein Blick auf ihre Arme zeugte auch von einem Gildenstempel, also gehörte sie wohl tatsächlich dazu. Coole Sache! „Krass! Ich freu mich immer, wen Neues kenn zu lernen!“, grinste die Hünin und richtete sich wieder auf, ihre Arme hebend, um ihre Muskeln anzuspannen. Beim ersten Eindruck wollte sie doch zeigen, wo sich ihre ganze harte Arbeit niederschlug. „Ich bin Ravinuthala Tsumiho, stärkste Kriegerin aus dem Stamm der roten Sonne! Freut mich, dich kennen zu lernen!“, rief sie laut aus, ehe sie sich wieder entspannte und eine Hand in die Hüfte stemmte. „Und, wer bist du? Kann man dir irgendwie helfen oder stehst du einfach gern komisch inner Gegend rum?“
Bei Ravinuthalas Ausruf nach Essen regressierte Mary spontan zur Schildkröte: Die Schultern hoben sich, der Kopf senkte sich und wäre es noch möglich gewesen (sie befand sich sowieso schon tendenziell nahe am Boden) hätte sie sich vermutlich so klein gemacht, dass man sie wie eine Ameise entweder niedergetrampelt oder einfach übersehen hätte. Die erste Reaktion, als das gewaltige Muskelwesen aus dem Gang hervorbrach war, dass sie sich klein machte. Soviel zum ersten Eindruck, aber kurz sah es tatsächlich aus, als hätte Mary Angst, dass sie auf dem Speiseplan stehen könnte.
Die Augen etwa so groß wie das ganze Gesicht musterte Mary die Belagerungsramme in Personenform, die da auf sie zuhielt. Spontan wurde sie in eine Zeit auf der Farm zurückversetzt, als ein junger Stier sich entschieden hatte, einfach aus dem Gatter auszubrechen. Die halbe Familie hatte ihm nachrennen müssen und wäre fast auf die Hörner genommen worden. In etwa so fühlte sich die junge Magierin auch, als das ihr unbekannte Wesen auf sie zusteuerte. Sie schielte auf ihren Zettel, ob der doch spontan irgendwie ein rotes Tuch geworden war, das sie ohne es zu wissen vor der Oni gewedelt hatte. Was ist das für eine Person?!
Jedes ihrer Wörter brachte nicht ob der Lautstärke, sondern ob der Ausstrahlung die Jugendliche dazu zu vibrieren, als wäre jemand Schweres und Starkes in einem Porzellanladen getreten und brächte alles zum Klirren. Sie ging davon aus, dass sie in dieser Gleichung ebenso leicht unter den Muskeln der Fremden zerbrechen würde wie das Glas unter der Last des grauen Rüsseltiers, das normalerweise für solche Metaphern hergenommen wurde. Die runden Augen hafteten einige Sekunden jenseits von logischen Gedankengängen an den Muskelbergen, nein, Muskelgebirgen, die sich da vor ihr auftaten, und seltsamerweise bekam sie spontan die Assoziation von Brot, das man zu lange gehen hatte lassen – nur bestand der Teig hier vermutlich aus Stahl und könnte sie einfach zerquetschen. Aber nein, das war kein wildes Tier, sondern ein Gildenmitglied, ja, das Gildenzeichen war eindeutig zu sehen. Anscheinend durfte sie den heutigen Tag doch überleben. Vorerst, wenigstens. Moment, sie sprach Mary an.
Blinzelnd versuchte sich das Mädchen an die soeben gesprochenen Worte zu erinnern, ließ den Zettel natürlich direkt fallen und legte die schlanken Hände an die Wangen, die sich vor Peinlichkeit gerötet hatten. Ihre Augen noch immer groß und glubschend, öffnete sich der Mund einige Male wie ein Goldfisch und schloss sich wieder. „Wow“, entfuhr ihr zuerst, was sicherlich einen guten ersten Eindruck zementierte, dann schaffte sie es irgendwie, den wie ein Reh im Scheinwerferlicht erstarrten Körper immerhin zur Seite zu wuchten, damit sie nicht mehr wie ein Idiot direkt vor der Tür stand. Erst rumstammeln, dann auch noch blöd den Weg versperren. Doppelt peinlich. „Es tut mir so Leid, ich wollte nicht …“, setzte sie an, aber irgendwie überwalzte sie da die nächste Wortarmada der muskelbepackten Frau und … interessierte sich für sie. HUH?! Mary klappte direkt den Mund wieder zu, schaute sich im Raum um und deutete fragend mit dem Daumen auf sich selbst, als könnte sie es nicht fassen, dass man mit ihr sprach. Das hatte gerade etwas von dem Königstiger, der sich vor ein Kätzchen gesetzt hatte und mal eben fragte, wie der Tag so lief. „I-ich bin Mary Baumgardner, von keinem Stamm, aber Sonne hatte ich auch ganz viel, freut mich, äh, Tsumiho-san.“ Rote Sonne? Wo war die denn rot? Aber Mary wollte nicht fragen. Falls das etwas war, was eigentlich jeder kannte, dann wollte sie nicht gleich als Hohlbrot dastehen, auch wenn sie das vielleicht schon hatte. Sie fasste ganz schnell die Hände zusammen und verbeugte sich vor dem Wesen, das eindeutig ranghöher sein musste, wenn auch nicht im Gildenrang, dann mindestens in der Nahrungskette. „Ich bin heute der Gilde beigetreten“, erklärte sie, nachdem der Höflichkeit soweit Genüge getan war. Ob es hier wohl so etwas wie Welpenschutz gab? Den würde sie jetzt gerne beanspruchen. „Ich kenne mich hier leider gar nicht aus und weiß nicht wo mein Zimmer ist und mit wem ich reden soll und …“ Sie drückte die Lippen aufeinander, weil sich ihre Kehle wieder zuschnürte.
Hm... Irgendwie wirkte das blonde Mädchen vor der Tür unsicher, oder bildete Ravinuthala sich das ein? Sie zeigte auf jeden Fall nicht die klassischen Merkmale eines Oni: Stolz erhobener Kopf, herausgestreckte Brust, Arme abgewinkelt und bereit zur Arbeit, Hände zu Fäusten geballt. Nein, sie wirkte eher ein bisschen wie eine Schildkröte, die den Kopf einzuziehen versuchte. Neugierig und eindringlich betrachtete Thala ihr Gegenüber aus großen Augen, als diese sich zur Seite verschob, nicht mehr länger vor der Tür stehend. Aber die Tür war ihr gerade herzlich egal. Viel interessanter war doch der Neuankömmling selber! „Kein Stamm, hm? Wo kommst du'n dann her?“, hakte die Oni nach, weiterhin über das Mädchen gelehnt. Sie nahm sich selbst nicht wirklich als bedrohlich wahr. Wenn sie jemandem drohen wollte, dann guckte sie ganz anders. Gebleckte Zähne mit dazu passendem Grollen im Hals, die Arme erhoben, alles mit dem entsprechend bösen Blick. Und vermutlich mit einem Kriegsschrei! Jetzt gerade kam Ravi zumindest sich selbst ganz gelassen vor. Aber gut, sie hatte noch nie so richtig verstanden, wie gefährlich sie in den Augen eines Menschen eigentlich sein konnte. „Sonne is ne schicke Sache, hm?“, lachte sie fröhlich, als sie damit auch schon die erste Gemeinsamkeit zwischen sich und ihrer neuen Bekanntschaft gefunden hatte, und klatschte einmal kräftig in die Hände. „Oh Kay, Kay, KAY! Schön, dich kennen zu lernen, Mary! Hey, sag ma... wenn du nicht weißt, mit wem du reden sollst! Dann red doch einfach mit mir, hey!“ Eine einfache Lösung für ein einfaches Problem. Stolz klopfte sich die Tsumiho auf die Brust, froh darüber, der Baumgardner so schnell schon eine Hilfe zu sein, ehe sie nach der Hand des Mädchens griff und sie weiter ins Gildenhaus zog. Sie wirkte aufgeregt. Vermutlich sollte sie sich erst einmal beruhigen. „Na komm, komm, Mary! Setz dich erstmal hin! HEY! Kann uns wer was zu trinken holen? Mary, was willst du trinken?“
Tatsächlich löste sich nach kurzem Zögern einer ihrer Gildenkameraden von seinem Sitzplatz und machte sich auf den Weg, um Getränke zu besorgen. Es war keine Angst vor der großen Oni, die ihn bewegte, und nicht einmal das Pflichtgefühl, sich um ein neues Mitglied zu kümmern. So war das eben üblich. In Satyrs Cornucopia gehörte es zum guten Ton, sich zu unterstützen und zu helfen und auch mal zu tun, worum man gebeten wurde. Dass Ravinuthala ihnen allen den gleichen Gefallen tun würde, war wohl jedem hier bewusst, schließlich war es immer schwer zu übersehen, was diese riesige Frau Tag für Tag so alles tat. Ständig schleppte sie Zeug für Leute herum, half wenn etwas gehalten oder gebaut werden musste. Nicht viele Mitglieder konnten einen Hammer so kräftig schwingen wie sie, was zwar ein selten nützliches, aber in Einzelfällen sehr geschätztes Talent war. Insofern saßen die beiden jungen Damen schnell am wie so oft unbesetzten Rezeptionstresen, ein paar Gläser vor ihnen, und Mary konnte in das breite Grinsen ihres Gegenübers starren. „Is immer cool, wen Neues hier zu haben, Mary! Was machst du denn so? Inner Freizeit mein ich“, fragte Ravinuthala neugierig nach, ihre Hände hinter ihrem Nacken ineinander faltend, während sie ihren Rücken durchstreckte. Ein wenig Müdigkeit steckte noch in ihren Knochen, gemischt mit einer gewissen hibbeligen Ader, die es ihr schwer machte, komplett still zu sitzen. „Ich bin Trommlerin! Ne tolle Trommlerin, übrigens! Hab oben in meinem Stamm immer an den großen Festen für Raijin teilgenomm un dann ORDENTLICH draufgehaun, hah!“ Stolz schwang in jeder einzelnen Silbe mit, die sie aussprach, zusammen mit einer Freude darüber, sich wieder an ihre Vergangenheit zu erinnern. Ravi hatte die Zeit bei ihrem Stamm geliebt. So sehr es ihr hier gefiel, freute sie sich darauf, irgendwann wieder zurückzukehren. „Was hat'n dich zu uns nach Satyrs gebracht, hm, Mary?“
Der fleischgewordene Wirbelwind namens Ravinuthala brachte die junge Magierin ganz offenkundig aus dem Konzept. Zuerst einmal war sich Mary gar nicht sicher, ob das Wesen, das nur aus Muskeln zu bestehen schien und sich über sie beugte (gruuuselig) wirklich überhaupt aus Fleisch und Knochen gefertigt war, oder ob am Ende nicht ein sehr talentierter Bildhauer einen Marmorblock hautfarben bemalt hatte. Herausfinden würde die Lichtmagierin das nur, wenn sie ihr Gegenüber berührte, doch das kam vermutlich äußerst merkwürdig. Mit leicht zusammengekniffenen Augen, die aber eher Furcht denn Skepsis ausdrückten, lauschte Mary also dem Fragenschwall, denn viel Anderes konnte sie sowieso nicht tun. Die dominierende Persönlichkeit der Riesin hatte Mary zu einem fiependen Etwas gemacht, daher verwunderte es auch nicht weiter, dass sie ihr wie ein Entenküken der Mama folgte, als sie gepackt und mitgeschliffen wurde. Gerade hatte sie die erste Frage beantworten wollen, doch eine etwaige Antwort ging nur in ein „Uaaaah~“ über, als sie einfach wie ein Papierfähnchen hinter Ravinuthala herflatterte. Vermutlich war es nur dem nicht gerade geringen Gewichts ihres Rucksackes zu verdanken, dass sie dabei nicht vom Boden abhob und wild durch die Gildenhalle schlackerte. Wenigstens beantwortete das die Frage: Die Finger ließen sich ganz leicht eindrücken, war also wohl doch Haut.
Irgendetwas von Wasser stammelnd und sich die Haare, die sich wie bei einer geschockten Katze das Fell aufgestellt hatten, niederstreichend, krachte erst Marys Rucksack auf den Boden und dann ihr Körper erschöpft in den Hocker. Diese Person war ganz schön anstrengend. Vereinnahmend, dominant und laut. Mary klingelten schon die Ohren, aber sie war auch froh, dass sie nicht mehr alleine war. Das ganze Gewusel hatte sie außerdem die aufgestauten Tränen wieder herunterschlucken lassen, so dass sie sich tatsächlich einigermaßen gesellschaftsfähig vorkam. Wahnsinn, wie normal man sich plötzlich fühlte, wenn man sich mit jemanden unterhielt, der einem vermutlich mit einem Anspannen der Bauchmuskeln durch die Wand schleudern könnte!
Die schlanke Hand Marys schloss sich um das Glas, nachdem sie dem Gildenmitglied einen leise geflüsterten Dank ausgesprochen hatte, und nahm erst einmal ein paar kräftige Schlucke Wasser. Das gab ihr einerseits Zeit, sich eine Antwort zu überlegen und andererseits half es ihr auch dabei, nicht die ganze Zeit dieses fremdartige Wesen anzuglubschen. Sichtbar arbeiteten die Zahnräder hinter der Stirn der jungen Magierin, die sich gerade nacheinander die Antworten zurechtlegte, dann erst öffneten sich die Lippen und sie begann mit etwas festerer, aber noch immer sanfter Stimme zu sprechen: „Ich komme aus einem kleinen Dorf ein paar Stunden entfernt von hier. Bisher, ähm, hatte ich sehr viel auf der Farm meine Eltern zu tun, aber ich finde sicher eine Freizeitbeschäftigung, jetzt, wo ich ein Gildenmitglied bin.“ Sie atmete kurz durch, denn die Bemühung, nicht in irgendeine Art von ländlicher Sprachvernuschelung zu fallen, war etwas strapazierend. „Ich bin hier, um Leuten zu helfen und mich selbst zu finden“, erklärte sie schließlich auf die vermutlich schwammigste und klischeehafteste Art und Weise, wer sie denn war und was man von ihr erwarten musste – und bewies damit wohl so viel Persönlichkeit wie ein Pappkarton. Die Lichtmagierin räusperte sich leise, trank noch einen Schluck (wann immer man süffelte, musste man nicht sprechen!) und unterzog der Unbekannten einer genaueren Musterung. „W-wer ist denn Raijin, Tsumiho-san?“ Das war bestimmt etwas Kulturelles – vielleicht war darüber herauszufinden, wer – oder eher was, auf das Wesen bezogen - da eigentlich wirklich vor ihr saß.
Gruselig hatte echt noch niemand Ravi genannt! Zumindest nicht ins Gesicht, das traute sich doch keiner. Auch Mary beschränkte sich in der Hinsicht wohl auf ihr verklemmtes Quietschen, was die Oni aber nicht aufhielt. Ehe sich die Blondine versah, saßen die beiden auch schon zusammen, Getränke zwischen ihnen, und konnten sich gegenseitig ansehen, miteinander sprechen. Was man eben so tat, wenn man sich kennen lernte. Gespannt beobachtete Thala ihr Gegenüber, starrte sie aus wartenden Augen an, während die einen Schluck trank und überlegte, was sie wohl sagen sollte. „Ach, aus der Nähe! Das is cool!“, lächelte Ravinuthala, die deutlich mehr als ein paar Stunden gebraucht hatte, um ihren Weg hier in die Gilde zu finden. Es dauerte schon Stunden, wenn man aus den Bergen, in denen sie lebte, herunterkommen wollte in die Wüste, in der sie ihre Reise in die menschliche Zivilisation begonnen hatte. „Farmerei machen hier so einige Leute, da findest du bestimmt wen, mit dem du drüber reden kannst. Kennst du Pete? Ne, vermutlich noch nich, ne?“ Würde schwer sein, jemand anders zu kennen, wenn Ravi das erste Gildenmitglied war, mit dem Mary sprach. So drüber nachgedacht war das keine besonders clevere Frage gewesen. Naja, war ja auch egal. Die Tsumiho zuckte mit den Schultern. „Naja, der's auf jeden Fall echt gut mit Pflanzen und mit Tieren auch. Hat mir und Teri geholfen, nen Streichelzoo zu bauen, bisschen hinter der Gilde. Hast du den schon gesehen?“ Vermutlich auch das nicht. Es war nicht ganz einfach, ein gemeinsames Thema zu finden mit jemandem, der so gar nichts wusste, aber gut, das Problem hatten mehr als genug Leute auch mit Ravi gehabt, als die neu hier unter den ganzen Menschen gewesen war. Sie grinste. „Hey, hey, wenn du noch nich weißt, was du machen willst... Ich kann dir ja ma zeigen, wie man trommelt! Macht Spaß! Bin auch voll die gute Musikerin, HEY!“
Mary schien in verschiedener Hinsicht noch ein wenig unentschlossen zu sein. Das kannte Ravinuthala eher weniger. Die hatte eigentlich immer etwas, was sie tun wollte, immer irgendeine Idee vor Augen, auch wenn die Pläne schnell wechseln konnten. Schlussendlich waren es Neugier und die Lust auf Abenteuer, die die Oni Tag für Tag hin und her rissen. Ob die Baumgardner das Gefühl wohl auch kannte? Oder wollte sie es kennen lernen? Sich selbst offenbar schon. „Na dann, viel Glück damit. Ich hab dich schon gefunden!“, stellte Thala fest, ehe sie herzhaft lachte. Vermutlich meinte die Blondine das ein bisschen anders. „Aber klingt doch gut! Ich helf auch gern Leuten! Fühlt sich gut an!“ Da waren die zwei auch nicht alleine. In dieser Gilde und in anderen gab es sicher viele Magier, die das Gleiche empfanden. So albern, wie Mary dachte, war ihre Motivation gar nicht. „HAH! Tsumiho-san, sagste?“ Mit schallendem Gelächter ließ Ravi ihre rechte Faust auf den Tresen niedergehen, dessen Holz erbebte, ehe sie den Kopf schüttelte. „Alles cool, Mary, sind doch alle Freunde hier, ne? Kannst mich Ravi nennen oder Thala! Oder wie's dir halt gefällt, ne?“ Mit Förmlichkeiten hatte es die Tsumiho echt nicht, wie man wohl schnell merkte. Aber sie freute sich, dass die Jüngere Interesse an ihrer Kultur zeigte. Ravi sprach immer gern über die Gewohnheiten und Eigenheiten ihres Stammes. Diese Freude konnte man auch deutlich in ihrer Haltung erkennen. „Raijin is ein Donnergott! Er haut auf seine Trommeln und BUMM! Kommen die Blitze runter auf die Erde!“, erklärte Ravi aufgeregt, ein Feuer in ihren Augen, während sie ihre Arme hochriss, nur um danach wie zwei Blitze mit der flachen Hand auf der Rezeption aufzuschlagen. „Auf unsern Festen trommeln wir immer für ihn. Heißt, dass unsere Taiko-Trommeln klingen wie der Donner, HAH! Nen Kumpel hat er auch, der heißt Fujin, der macht Stürme. Ist aber nicht so spannend wie Raijin, verstehste?“
Ravinuthala war … viel. Viel Charakter, viele Muskeln, aber – und so kam es Mary allmählich vor, die sich weniger und weniger zu fürchten begann – auch viel Herz. Vor wenigen Minuten war sie noch an der Tür gestanden und hatte sich gefragt, wie um alles in der Welt sie auch nur eine Person finden sollte, die bereit war, sich mit einer so langweiligen Person wie ihr selbst zu unterhalten, und dann war da diese Wesenheit gekommen und hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes von den Socken gerissen. Die junge Magierin befand sich noch immer in den Nachwehen dieses ungewöhnlichen Kennenlernens und schaute die Oni an, als habe sie noch nie etwas Vergleichbares gesehen (was auch stimmte). Mary lauschte aufmerksam, neugierig und mit großen Augen, als wäre sie ein Hühnchen, das jedes Körnchen Wahrheit von den Lippen ihrer neuen Bekannten aufklauben musste, um hier in der Gilde zu überleben.
Pete … Nein, den kannte sie noch nicht. Mary schüttelte also entsprechend den Kopf, was die blonden Haare, die sowieso schon aus der Frisur geflutscht waren, fliegen ließ und versuchte sich das alles zu merken. Ein Streichelzoo? Rein theoretisch wusste die Lichtmagierin, dass es so etwas gab, wo Leute Geld bezahlten, um Tiere zu streicheln und zu umsorgen. Es kam ihr nur ziemlich sinnlos vor. Zuhause waren die Tiere vor allem ein Teil des Alltags gewesen; man kümmerte sich um sie, natürlich, aber eine zu enge Bindung wurde zumindest zu den Tieren, die irgendwann auf dem Teller landeten, auch nicht aufgebaut. Mary machte sich eine mentale Notiz, diesen Streichelzoo bei Gelegenheit einmal zu besuchen – nicht alle Tiere sollte oder konnte man schließlich essen und vielleicht hatten sie dort ja etwas, was ihr vertraut war. So ein Lämmchen wirkte bestimmt wahre Wunder, um ihr Heimweh zu heilen. Auch hier schüttelte Mary den Kopf, nur um dann direkt noch größere Augen zu bekommen. Ravinuthala wollte ihr zeigen, wie man trommelte? Um ehrlich zu sein hatte Mary bisher nicht gedacht, dass man dafür wirklich irgendein Talent haben musste, aber wenn es für rituelle Zwecke verwendet wurde, dann musste da wohl mehr dahinterstecken als bloßes Herumgeklöppele. Hätte Mary Ahnung von Takt, Rhythmus und allem Drumherum gehabt, hätte sie womöglich mehr Begeisterung aufbringen können, aber so war sie vor allem froh, dass man ihr anbot, sie in irgendeine Aktivität einzubeziehen. Außerdem klang das doch lustig, laute Geräusche zu machen, indem man mit einem Hammer (wie nannte man das?) auf ein Fell herumdonnerte.
Gerade wollte sie das Angebot annehmen und sich überdies noch dafür bedanken, dass man sie so unter die Fittiche nahm, da bekam Mary direkt wieder einen Kloß im Hals. Ja, das stimmte wirklich, Ravi hatte sie gefunden. Ein verirrtes Schäfchen am Eingang des Gildenhauses, das vielleicht direkt wieder umgekehrt wäre, wenn da nicht dieses Trommelwunder angekommen wäre, um sie mit sich zu reißen. Mary bekam allmählich das Gefühl, dass ihr Gegenüber zu einem ganz eigenem Takt tanzte – und es gefiehl ihr. Die Selbstsicherheit, die Unabhängigkeit und die Einfachheit, mit der scheinbar ohne alle Hintergedanken vor sich hin geplappert wurde. Zu Beginn war sie noch bei den ganzen lauteren Ausrufen zusammengezuckt, doch nun blinzelte sie nur leicht und hob die Mundwinkel zu einem kleinen, aber glücklichen Lächeln, als man ihr den Vornamen anbot. Die Füße, die nicht ganz bis zum Boden reichten, wackelten ein wenig und sie drückte die Hände ineinander, sonst hätte sie vermutlich nicht an sich halten können und diese eigentlich noch fast Fremde vor Dankbarkeit umarmt. Das käme aber vermutlich reichlich seltsam, also nickte sie nur eifrig, kniff die Augen zusammen und sprach ein entschlossenes, festes „Gerne, Ravi! Wir sind Freunde!“
Sie hatte noch nie einen Freund gehabt (vor allem nicht nach etwa fünf Minuten), aber es fühlte sich gut an. Mary wurde warm ums Herz und für einen langen Augenblick fragte sie sich, ob ihre Gesprächspartnerin vielleicht auch eine etwas seltsame Art der Lichtmagie besaß, denn ihren eher düsteren Tag hatte sie bereits erhellt. Vorsichtig nahm Mary die beiden Getränke, als Ravinuthala mit den Fäusten auf den Tresen aufschlug, um das Holz, vor allem aber auch sich selbst vor einer unfreiwilligen Dusche zu bewahren. Die Augen blieben aber auf der Oni, und als sich ein begeistertes Feuer in ihnen zeigte, überwand Mary sogar die Furcht vor Blickkontakt. Sie mochte es, wenn Leute von dem erzählten, was sie bewegte, was sie ausmachte … Sie bekamen dann immer so ein Strahlen, was sich schwer beschreiben ließ. Aber Mary beschloss, dass sie, egal was im Verlaufe dieses Gespräches noch passierte unbedingt dafür sorgen musste, dass Ravinuthala weiter strahlte, solange sie sich nur daran wärmen durfte.
„Das klingt nach lauten und fröhlichen Festen. Das würde ich gerne einmal sehen!“, meint sie daher sofort, nun mit nicht mehr ganz so zarter Stimme. „Sagmal, Ravi, kannst du mir vielleicht helfen ein Zimmer zu finden, das ich beziehen darf? Ich soll mir eines in der Halle der Nachtruhe nehmen, aber ich weiß leider nicht, wo die ist.“ Mary tastete nach ihrem Zettel, aber der war ihr irgendwie abhandengekommen.
Zu sagen, dass Ravinuthala viel war, war auf jeden Fall nicht falsch. Auch damit, dass ihr Herz wohl der größte unter den ganzen Muskeln war, die die Oni am Körper trug, hatte Mary wohl Recht. Was man von ihr sah, war auch alles, was es zu sehen gab. Die meisten Gedanken formulierte Thala direkt in Worten und wenn nicht das, dann zeigten sie sich deutlich in ihrer Mimik und Gestik. Auch wenn sie bedrohlich wirken mochte als großes, kräftiges und vor Allem aufdringliches Wesen, strahlte sie schlussendlich wie eine Sonne nichts Anderes aus als Wärme, die sich um Andere legen, sie wärmen und schützen wollte – auf ihre eigene Weise. „Klar, klar, KLAR! Klar sind wir Freunde, Mama!“, lachte Thala fröhlich, als sie die Freude im Gesicht ihres Gegenübers sah. Jetzt, wo sie ganz offiziell Freunde waren, war es auch an der Zeit, dass sie Mary einen Spitznamen mitgab! Der durchschnittliche Oni hatte einen längeren – teils deutlich längeren – Namen als der durchschnittliche Mensch, was vermutlich daran lag, dass die Namen des Stammes echt viel tiefe und wichtige Bedeutung hatten... auch wenn Ravi keine Ahnung hatte, was ihr Name wohl bedeuten könnte. Aber diese Neigung zu langen Namen führte genauso zu einer Neigung, die Namen anderer zu kürzen. Ravinuthala war Ravi. Ukemochi war Mochi. Karmajeevan war Karma. Valdayanna war Valda. Jemanden bei seinem vollen Namen zu nennen, wenn es nicht gerade in einem rituellen Kontext war, war sehr ungewöhnlich, fast schon unfreundlich. Wenn man sauer auf jemanden war, zum Beispiel, neigte man dazu, den Namen voll auszusprechen. Unter Freunden kam das praktisch gar nicht vor. Deswegen war es für die Tsumiho praktisch selbstverständlich, auch ihren Menschenfreunden Spitznamen zu geben. Ronja war Ronnie, Moira war Momo, Arkos war Ari... und Mary? Der doch recht kurze Name war ein bisschen schwer zu kürzen gewesen, aber wenn man die erste Silbe – das Ma – einfach zweimal nahm, dann passte das doch schon ganz gut!
„Hah, das kannste zweima sagen, Mama! Laut und fröhlich is genau, was wir Oni gerne sind!“, lachte sie fröhlich, eine Aussage, die sich vermutlich schwer hinterfragen ließ. Wer Ravi mehr als ein paar Minuten kannte, oder auch nur Karma oder Valda, der würde diese beiden Adjektive vermutlich unzertrennlich an die Oni ketten. „Fürchte, ich bin so bald nich wieder bei meinem Stamm, dass ich dich mitnehm und's dir zeigen könnte. Aber hey, wir könn ja mal unser eigenes Fest hier starten, nich? Da holen wir uns dann Valda dazu! Die's immer für'n guten Spaß zu haben!“ Klang doch gut. So, wie es aussah, hatte die Baumgardner aber auch noch ein paar ernstere Themen zu besprechen, bevor es ans Feiern gehen konnte. Allen voran: Sie brauchte ein Zimmer hier! An der Stelle war ihr aber nicht nur unklar, welches Zimmer genau das werden sollte, sondern auch, wo überhaupt die Hallen der Nachtruhe waren. „Hah, haste Glück! Nix leichter als das“, grinste die stolz Oni fröhlich und stemmte ihre beiden Hände auf dem Tresen auf, um sich darauf abzustützen und wieder auf die Beine zu erheben. Sie hatte zwar nicht lange gesessen, aber sie hatte lange genug gesessen! Es war Zeit, wieder aktiv zu werden! „Ich komm grad aus'n Hallen der Nachtruhe, die sind da drüben hinter der Tür“, meinte sie und nickte kurz in Richtung des rechten Weses, während sie um den Tresen herum trat und ihre Hand nach Mary ausstreckte. „Hab tatsächlich die Nacht erst in nem Zimmer geschlafen, wo noch keiner drin wohnt. Das is auf jeden Fall frei. Was meinste, wolln wir das gleich für dich nehmen?“ Ohne Scheu vor Kontakt ergriff die Tsumiho die Hand ihres Gegenübers. Dieses Mal zog sie aber nicht daran, riss Mary nicht mit sich. Stattdessen war es ein sanfter Griff, begleitet von einem ebenso sanften Lächeln hinab auf die junge Blondine. „Kommste mit?“, fragte Ravi, wartete geduldig darauf, dass das Mädchen aufstand. Sie würde Mary gerne ihr neues Zimmer zeigen. Dafür musste das Farmermädel nur mitkommen.
Moooment mal. Wie genau hatte Ravinuthala sie gerade genannt? Die Gläser noch in beiden Händen haltend, um sie vor der überschwänglichen Zerstörungswut der Oni zu bewahren, linste Mary irritiert zu ihrer Gesprächspartnerin. Mama? Wie in … Mutter? Natürlich wusste die Lichtmagierin nicht, dass Ravinuthala einfach die erste Silbe ihres Namens aneinandergereiht hatte und sich dadurch ein Unsinnswort ergab. Vielleicht gab es in ihrer Kultur auch gar keinen solchen Begriff, was wusste Mary schon über dieses Volk mit ihren Gebräuchen, die ihr interessant, aber auch fremdartig vorkamen? Na ja, es war auch nicht auszuschließen, dass sie sich einfach verhört hatte, das passierte schon einmal und bei den ganzen Gedanken an ihre Familie und das Heimweh, da konnten die auditorischen Synapsen schon einmal fehlzünden.
Oder auch nicht. Gerade, als Mary die Gläser wieder vorsichtig auf dem Tresen abstellte, wiederholte Ravinuthala das eigenartige Wort. Ohne Zweifel erzählte sie nicht etwa von einer Erzeugerin in dritter Person, sondern bezog diesen Namen auf Mary, die nun die Augenbrauen zu verwirrten und überraschten Bögen gehoben hatte. Hatte sie aus Versehen eine Oni adoptiert? Aber wie? Sie war doch bestimmt viel jünger als Ravinuthala und davon abgesehen noch gar nicht bereit, eine Mutter zu sein. Sie musste noch so viel lernen und erfahren und … Moment, natürlich war die Oni nicht wirklich ihr Kind. Es wäre etwas absurd sich vorzustellen, wie etwas Derartiges (groß, kräftig, einnehmend) aus einem so kleinen Wesen wie Mary entstanden sein sollte, also schüttelte sie nur leicht den Kopf. Korrigieren wollte sie Ravinuthala nun aber auch nicht, denn eigentlich war es ja ganz nett, dass man ihr einen Spitznamen gegeben hatte. Das war noch nie vorgekommen, also fühlte sich Mary gerade wie etwas ganz Besonderes. Leicht lächelnd lauschte die Lichtmagierin den Vorschlägen, dass man ja ein Fest feiern könnte, zu dem sie tatsächlich eingeladen sein würde. Auf dem Land hatte es auch Feste gegeben, vor allem zur Saat und zur Ernte, oder wenn die Sonne sich im Jahreszeitenwechsel besonders hoch befand. Man hatte gegessen, getanzt und sich schön gekleidet – niemand musste explizit eingeladen werden, da eigentlich jede Familie die Gelegenheit genutzt hatte, die Einsamkeit des Landlebens einige Abende hinter sich zu lassen und sich mit gutem Essen und fröhlicher Gesellschaft zu vergnügen. Gerne hätte Mary das Fest eines Oni besucht und sich mit deren Gebräuchen und deren Kochkünsten vertraut gemacht, aber da das offenbar eher schwierig wurde, war sie doch recht begeistert von der Idee, hier ein Fest zu veranstalten. So konnte man sich doch bestimmt gut kennen lernen, und außerdem konnte sie zwar nicht für musikalische Untermalung sorgen, aber Dekorationen und Essen standen in ihrer Macht! „Au ja, das klingt nach einer guten Idee!“, erklärte sie daher doch recht begeistert – Mary war einfach mitzuziehen, jedenfalls in der Theorie.
Als sich Ravinuthala erhob und ihr auch sofort das Zimmer zeigen wollte in dem sie selbst geschlafen hatte, ließ Mary sich zwar an der Hand nehmen, bewegte sich aber nicht vom Fleck. Sofern ihr Gegenüber sie nicht noch einmal am Arm durch die Gegend reißen wollte, würde die Oni nun erst einmal eine Lektion in Geduld erfahren, denn Mary dachte ja gar nicht daran, wie ein verrückter Flummi vom Tresen zu hüpfen. „Wir können das gerne für mich nehmen, aber nicht so stürmisch, Ravi!“ Die kleinere, schlankere Hand Marys fand in die der muskelbepackten Oni, drückte diese auch kurz, wie um zu signalisieren, dass sie kurz warten sollte. Ein bisschen kam sich Mary ja gerade schon wie die Mama vor, die das Kind an der Hand gepackt hatte, damit es nicht im Sauseschritt die Straße überquerte, bevor die Ampel auf grün geschaltet hatte. Obwohl das momentane Größenverhältnis das natürlich ganz leicht ins Lächerliche zog.
„Wir haben hier etwas angefangen und jemand war so lieb, uns Getränke zu bringen. Du trinkst jetzt erstmal aus, damit nichts verschwendet ist und dann bringen wir die Gläser weg. Und danach kannst du mir gerne dein Zimmer zeigen, ja, Ravi?“ Soviel zu Mama. Die Augen zusammengekniffen, lächelte sie der weitaus größeren Oni fröhlich zu, aber mit einem vielleicht bisher unbekannten Blitzen in den Augen, das suggerierte, dass sie sich nicht ohne Gewalt wegbewegen würde, bis man ihrer Bitte nachgekommen war. Höflichkeit und der Respekt vor Lebensmitteln, selbst wenn es nur Getränkebecher waren, nahm Mary durchaus ernst. Außerdem wollte sie hier keinen Müll abladen, den am Ende jemand Anderes wegräumen musste. Um aber zu zeigen, dass Mary durchaus vorhatte, heute noch aufzubrechen, griff sie nach ihrem Rucksack, schlang ihn sich mit leisem Ächzen über die Schultern und blickte danach noch einmal zu Ravinuthala hoch. „Wenn ich dein Zimmer nehme, wo schläfst du denn dann?“
Mary wirkte echt glücklich über den Gedanken, mal ordentlich zusammen zu feiern! Da freute sich Rainuthala auch schon drauf! Auf den ersten Blick wirkte die blonde Farmerin nicht unbedingt wie ein Partymädel, aber mal ehrlich, wer mochte Partys denn nicht? Singen, Tanzen, Musik, viel zu essen, viel zu trinken, da wurde einem richtig warm! „Dann machen wir das! Heizen wir die Hütte auf! Ne Willkommensfeier für dich!“, freute sich die Oni, auch wenn sie das vermutlich nicht jetzt gleich machen würde. Erst einmal war Mary ja noch dabei anzukommen, und auch da half die Tsumiho ihr gerne. Sie war schon Feuer und Flamme, war von ihrem Platz aufgestanden, um das Mädchen in ihr Zimmer zu führen... aber die rührte sich nicht von dem Tresen weg. Die Hünin begann nicht, an ihrer Hand zu zerren oder sie mitreißen zu wollen. Stattdessen blinzelte sie nur verwirrt. Hatte die Blondine einen Grund zu zögern?
Offenbar ging das Ganze der Jüngeren ein bisschen zu schnell. Sie schien sich nicht Ravinuthalas Griff entziehen zu wollen, aber sie war auch noch nicht so weit, der Oni zu folgen. Erst einmal sollten sie in Ruhe austrinken und dann war das Zimmer dran? „Oh, okay. Wie du willst, Mama“, nickte Thala und ließ die Hand ihrer neuen Freundin wieder los. Sie setzte sich zwar nicht wieder hin – es war dann selbst für sie ein wenig sinnlos, die ganze Zeit von einer Seite der Rezeption auf die andere zu rennen –, lehnte sich aber mit einem Arm auf dem trockenen Holz ab und nahm mit der anderen Hand ihr Glas wieder auf. „Ich mein, is nich als hätt ichs eilig. Ich lass eh nich gern n Glas oder'n Teller voll! Magste vielleicht noch was zu Essen bestelln? Ich hab immer noch übel Kohldampf, HAH!“ Fröhlich lachte die Tsumiho auf, ehe sie einen langen Schluck nahm und das jetzt fast leere Glas wieder auf das Holz knallte. Sie hatte immer noch keinen Bissen zwischen die Zähne bekommen, weil sie sich ja entschieden hatte, sich um die Baumgardner zu kümmern. Das wäre vermutlich das Erste, was sie nachholen musste, wenn sie mit der Neuen fertig war. „Hm? Ich glaub, du kapierst nich ganz, Mama“, meinte Thala und hob abweisend die Hände, als es noch einmal um das Zimmer ging. „Is nich mein Zimmer. Ich hab hier drin keins. Ich schlaf, wo's mir grad passt. Und das war'n leeres Zimmer, wo grad keiner lebt, also hat's gepasst.“ Es war nicht so, als würde die Oni etwas abgeben, das ihr gehörte. So ein Verständnis von Besitz war ihr eh nicht wichtig, auch wenn sie wusste, wie sehr Menschen darauf achteten. Genauso wie Menschen unbedingt ein Bett brauchten und einen eigenen Raum. Komische Kreaturen waren das. Oni machten es sich da nicht so schwierig. „Ich schlaf meist irgendwo draußen. Bäume sin gut zum Schlafen. Steine auch, und Wiesen erst. Oh, und Menschen stellen gern auf den Straßen oder sonstwo diese Holzbänke auf! Da lässt sich auch gut drauf schlafen!“ Für Ravi war es noch nie ein Problem gewesen, einen Platz zum Schlafen zu finden. Weil sie nicht wählerisch war, offensichtlich. In den Bergen hatte es funktioniert, in der Wüste, in jeder Stadt und jedem Dorf, und gerade hier im grünen Süden zögerte sie nicht, mal ein schönes Schläfchen in einem gesunden Park, auf einer bunten Blumenwiese oder in einem schattigen Wald zu machen. Es war eine gute Ergänzung zu ihrem Training. „Härtet gut ab, immer ma woanders zu schlafen! Abwechslung macht anpassungsfähig! Und wenn ich doch ma hier schlafen will, dann find ich nen anderen Raum. Und hey, wenn nich... dann wirfst du mich doch bestimmt auch nich raus, wenn dich ne Freundin lieb fragt, nich?“
Eine Willkommensfeier war dann vielleicht doch etwas zu viel des Guten … Mit wachsender Sorge bemerke Mary, dass sie sich auf mehr eingelassen hatte, als sie wollte. So schnell konnte man von einem unauffälligen Mauerblümchen also ins Rampenlicht rutschen: Man nehme eine feierwütige Oni, etwas Begeisterung und frische Freundschaft und schon kam eine Situation dabei heraus, in der sich die Lichtmagierin ganz und gar nicht wohl fühlen würde. Ravinuthala konnte daher nur ein leicht panisches „Eh?“ vernehmen, bevor die beiden wieder auf den Beinen waren und die ganze Angelegenheit mit den Gläsern geklärt wurde.
Da war er schon wieder, dieser Spitzname. Mary lief es eiskalt den Rücken herunter, als diese Riesin sie schon wieder Mama nannte, aber zu ihrem Erstaunen hatte noch keines der anderen Gildenmitglieder hier in der Halle mit dem Finger auf sie gezeigt und laut losgelacht. Nicht, dass Mary mit solchem Verhalten übermäßig viel Erfahrung gehabt hätte – oder geglaubt hätte, dass irgendjemand so lebensmüde war eine Person vom Kaliber von Ravinuthala auszulachen – aber es beruhigte das Mädchen doch etwas, dass man hier scheinbar offen für alle möglichen Späße war und sie nicht gleich für seltsam hielt. Oder man war Seltsamkeit so sehr gewohnt, dass eine Oni, die ein Menschenmädchen „Mama“ nannte einfach nur noch müdes Lächeln evozierte. Huh.
Jedenfalls sprach ihre neue Freundin davon, dass sie Hunger hatte und trank tatsächlich ihr Glas aus (das von Mary war schon leer, denn sie hatte sich ja in Gesprächspausen dort hinein geflüchtet). „Einen Moment!“, bat die junge Magierin also ihre Begleitung zu warten – obwohl sie keine Anstalten machte zu gehen – und wuchtete ihren Rucksack von den Schultern auf den Hocker hinauf. Dabei zeigte Mary, dass ihre Arme zumindest nicht vollkommen schwächlich waren, aber da war natürlich kein Vergleich zu Ravinuthala, die wahrscheinlich jeden Morgen einen Hühnerstall voller Eier aß und mit Metallbolzen gurgelte. Wenn die Honig wollte, kaute sie einfach Bienen … Mary friemelte den Reißverschluss auf und förderte eine kleines in Stoff gewickeltes Paket hervor. Das Taschentuch, das darum gewickelt war, war dunkelblau und zeigte ein weißes Wellenmuster. Vorsichtig öffnete die Lichtmagierin es und entblößte eine Metallbox darunter, deren Deckel sie ebenso vorsichtig anhob. Eine Lunchbox! Sie bestand aus zwei Abteilen: Das Eine, abgetrennt durch einen Papierfilm, beinhaltete ein paar Minisandwiches, die mit unterschiedlichen Dingen (Hühnchen, Wurst, Käse und Frischkäse) gefüllt waren, das andere kleine Frikadellen und etwas Salat. Beides schob sie über dem Tresen Ravinuthala zu. „Bitteschön, greif zu! Ich habe etwas dabei. Wenn es dir schmeckt und weil du so nett bist, packe ich dir gerne eine Box für deine nächste Quest! Es ist wichtig, ordentlich zu essen, damit man bei Kräften bleibt, Ravi!“ Der Tonfall der Jugendlichen war nicht belehrend, sondern fröhlich, und sie lächelte strahlend, während sie ihrer neuen Freundin dieses Angebot machte. Zwar brauchte sie für Ravinuthala bestimmt eher einen Aktenkoffer als eine kleine Box, aber das war ja wohl das Mindeste, was sie tun konnte, um sich für all die Freundlichkeit zu bedanken.
Das nächste Thema war das Schlafzimmer. Mary hörte aufmerksam zu und verpackte ihr Taschentuch wieder ordentlich im Rucksack. Sie nickte Ravinuthala zu, um zu signalisieren, dass sie ihre Aufmerksamkeit besaß und brachte die leeren Gläser (oder nur ihres, falls Ravi noch brauchte) weg, sogar einen Lappen trieb sie auf, mit dem sie über den Tresen wischte. Bei den rabiaten Schlägen der Oni war es Mary nicht möglich gewesen, alle Tropfen am Fallen zu hindern, aber Wasserflecken auf Holz machten sich gar nicht gut!
„Achso …“, antwortete Mary langgezogen, als sie verstand, dass sie hier niemandem etwas wegnahm, sondern eher in einen Ort ziehen würde, den Ravinuthala ab und an genutzt hatte. Die Augenbrauen zogen sich ein Stück nach unten, unsicher hörte sich die Lichtmagierin die Ode an den Schlaf auf allen möglichen bettfremden Dingen an. Vielleicht konnte man das ja machen, wenn der Rücken aus Muskeln bestand und man mit einem Anspannen der Schultern einfach Kiesel aus einem Stein flexte, aber Mary bevorzugte eindeutig ein weiches Bett. Oder überhaupt ein Bett. Sonderlich hohe Ansprüche stellte sie eigentlich nicht an ihre Unterkunft. Aber … huh?! Ravinuthala wollte bei ihr schlafen?! Da wurden Marys Augen noch einmal einen guten Deut größer. Wie genau stellte die Oni sich das denn vor? Ein Bett zu teilen war ja wohl allein aufgrund des Größenunterschieds nicht möglich, wenn Mary nicht zermatscht werden sollte, und wenn Ravi auf dem Boden lag, würde sich die Magierin trotz aller Beteuerungen schlecht fühlen. Aber das war ein Problem, was man wohl besser anging, sollte es einmal so weit sein. „Ich denke nicht …“, wurde also vorsichtig zugestimmt. War das denn normal bei Freundschaften? Mary fühlte sich geplättet, überfordert, aber auch … glücklich.
Mary hatte nicht ganz Unrecht: Bienen waren zwar nicht ganz leicht zu essen, aber Ravi fand jetzt auch nicht, dass sie ungenießbar waren. Und Honig war eh köstlich. Aber vermutlich hatte die junge Blondine andere Essenspläne. Neugierig sah die Oni dabei zu, wie sie ihren Rucksab abnahm, legte dabei ihren Kopf leicht schief. Irgendwie sah dieses ganze Auf- und Absetzen bei Mary gar nicht mal so einfach ist. „Hey, hey, sag mal!“, meinte Ravinuthala und deutete auf das Gepäckstück, in dem ihre Partnerin gerade herumwühlte. „Siehst immer so angestrengt aus, wenne damit rummachst, Mama. Soll ich das Ding für dich rumtragen? Bin echt gut im Schleppen, hey! Die Beste!“ Apropos die Beste... Mary zeigte sich gerade als echt gute Freundin, als sie eine metallisch glänzende Box hervorholte, öffnete und der Oni präsentierte. Ravis Augen wuchsen, als sie sah, was da so Alles drin war. Belegte Brote, Fleisch und Grünzeug! Ein Traum für jeden hungrigen Magen, der den der Tsumiho zum Knurren brachte. „Whoa!“, rief sie beeindruckt aus, ihre Mundwinkel ganz weit nach oben gerutscht. Ihr Blick huschte auf und ab zwischen dem guten Essen und dem Gesicht ihrer neuen Freundin. Verstand sie das gerade richtig? Die Baumgardner bot ihr nicht nur an, ihren Proviant heute zu essen, sondern wollte ihr auch für die nächste Quest etwas einpacken? „Oooh, Mamaaa! Du bist ja VOLL! SUPER! Danke dir!“ Wer es nicht für möglich gehalten hätte, dass Ravinuthala noch glücklicher klang als bisher, der würde jetzt wohl ziemlich überrascht sein. Kaum jemand konnte so viel Enthusiasmus zeigen wie eine Oni-Kriegerin! „Mmh, voll lecker! Bist echt ne Gute!“, freute sie sich, während sie große Bissen aus den Sandwiches nahm. Mehr als zweimal beißen musste sie gar nicht, damit das Essen in ihrem großen Mundwerk verschwand. Schnell war das erste Abteil geleert, sodass die Oni eine kurze Pause einlegen konnte, um sich ein wenig zu unterhalten. „Isses das, was du machen magst? Für Leute kochen und Essensboxen packen? Dann musste Valda echt noch kennen lernen, die is ne richtig, richtig, RICHTIG gute Köchin! Kannst sie vermutlich die halbe Zeit bei uns inner Küche findn, HAH!“
Ein schneller Schluck genügte, um Ravinuthalas Glas endgültig zu leeren, und während Mary das Geschirr wegbrachte, wurde auch das letzte bisschen Proviant vertilgt. Während die Jüngere das Holz sauber machte, klopfte Thala zufrieden auf ihre Bauchmuskeln. „Aaah... das hab ich gebraucht. Danke, Mama!“, meinte sie fröhlich, auch wenn sie sicher noch ein gutes Stück mehr essen konnte. Aber für den Moment sollte das genügen, um sie wieder auf Volldampf laufen zu lassen. Mary hatte mehr als genug mit einer Ravinuthala auf halber Energie verbracht! „Dann sind wir uns ja einig!“, grinste die Tsumiho und streckte sich ein wenig, ehe sie noch einmal prüfte, dass der Tresen auch wirklich sauber sein. „Hey, danke dir, dassde dich ums Aufräum gekümmert hast! Hätt ich auch gemacht, wenne'n bisschen gewartet hättest. Hab die Tage gelernt, wie man ordentlich sauber macht, hah!“ Sie hatte ja das Glück gehabt, sich als die Putzfrau eines reichen Kerlchens auszugeben, zusammen mit ein paar Freunden. Tolle Quest war das gewesen – die Tsumiho kicherte ein wenig, als sie daran zurückdachte. Aber gut, das war die Vergangenheit. Jetzt war es Zeit für die Zukunft. Anstatt Marys Hand wieder zu ergreifen, bot Ravi ihr dieses Mal ihre eigene an. „Und, und, ist es soweit? Könnwer jetzt zu dir ins Zimmer schaun, Mama?“
Lag es an Mary oder benutzte Ravinuthala ihren Spitznamen mit einer sich bedenklich steigernden Häufigkeit? Die Lichtmagierin war noch am Aufräumen, und sie lächelte, auch wenn der fröhliche Gesichtsausdruck zumindest zu Teilen gequält wirkte. Dass es am Spitznamen lag und nicht an ihrem Heimweh oder der Tatsache, dass die Oni ihr gesamtes Essen für den Tag eingesaugt hatte, würde aber schwer zu kombinieren sein, selbst wenn Ravinuthala unter dem Haar und den Muskeln einen rasiermesserscharfen Verstand verbarg. Den wollte Mary der Oni nicht absprechen, auch wenn sie irgendwie das Gefühl hatte, dass ihre neue Freundin erst handelte und dann nachdachte. Daran war ja auch an sich wenig verkehrt, wenn man mit den Folgen leben konnte …
Dennoch trat bei all der Fröhlichkeit ihres Gegenübers recht schnell ein glückliches Lächeln auf das Gesicht der Jugendlichen; eine kleine Sonne, die gar nichts mit Lichtmagie zu tun hatte, aber dennoch strahlte. Es erfüllte sie mit Stolz, dass ihre Lunchbox gut aufgenommen wurde und auch die Idee, Ravinuthala für ihre Quests, die vermutlich gefährlicher waren als alles, an das sie selbst sich herantraute, eine solche zu packen. Hoffentlich wusste die Oni, dass Mary dieses Versprechen durchaus ernst nahm, immerhin wollte sie sich wirklich für die Nettigkeit und die Hilfe revanchieren. „Es wäre toll, wenn du die Tasche tragen willst“, bot sie daher mit etwas weniger schlechtem Gewissen an, als sie sonst vielleicht gehabt hätte. Das Teil war wirklich schwer, immerhin befand sich ihr gesamter Besitz darin. Für Ravinuthala war es vermutlich, als würde sie einen Apfel anheben, aber Mary hatte sich damit wirklich ziemlich abgemüht. Die Lichtmagierin packte die leergefutterte Proviantdose wieder zusammen und schlang sorgsam das Taschentuch wieder darüber. Sie würde später mit ihr in die Küche gehen und sie richtig abwaschen, damit sie nicht anfing zu riechen. „Valda“, wiederholte sie den Namen der Person, die hier wohl so etwas wie eine Spitzenköchin war. Auf jeden Fall würde sich Mary bemühen, sie so schnell wie möglich kennen zu lernen. Ob Kochkunst ihre Leidenschaft wurde? Natürlich bereitete es ihr Spaß und Freude, aber Mary behandelte das nicht wirklich wie eine Kunst, sondern eher wie ein methodisches Mittel zum Zweck, mit dem man andere glücklich machte. Zuhause hatte sie die Küche kaum betreten können, weil das immer schon das Reich ihrer Mutter gewesen war. Dort hatte sie nur Gemüse schälen dürfen ... Aber vielleicht mochte diese Valda ihr ja ein paar Dinge beibringen und etwas in ihr entfachen? Und selbst wenn nicht, ein paar mehr Rezepte würden nicht schaden.
Dass Ravinuthala auf Sauberkeit achtete, überraschte Mary ein wenig. Nicht, dass sie jetzt dreckig wirkte oder stank oder dergleichen, aber sie hatte die aktive Oni nun nicht wirklich für eine Person gehalten, die das Chaos, das sie hinterließ auch wieder aufräumte. Das machte sie in Marys Augen noch etwas sympathischer, denn oft neigten solche Persönlichkeiten ja dazu, eher ohne Rücksicht auf Verluste zu handeln, zumindest war das in den Büchern und Geschichten so, die sie bisher so gehört hatte. Manche Gilden waren ja sogar dafür bekannt, dass sie ganze Dörfer plätteten, um sie zu retten … Musste man eigentlich in diesem Gildenhaus Händchen halten? Nachdenklich betrachtete Mary die Finger ihrer Kollegin (und neuen Freundin!), ergriff diese aber auch schon und dachte sich nichts weiter dabei. Wenigstens schien Ravinuthala sie nicht mehr hinterher schleifen zu wollen wie einen Kartoffelsack. Zusammen mit der Oni durchquerte Mary also die Halle der Sammlung, lächelte zögerlich ein paar Gildenmitgliedern zu, die das Lächeln teils fröhlich, teils gar nicht erwiderten. Die meisten waren beschäftigt und Mary befand sich im wahrsten Sinne des Wortes im Schatten der Riesin.
Durch die Tür ging es in einen langen Gang, der von zahlreichen Türen gesäumt war. Die ersten waren recht eindeutig als Badezimmertüren zu erkennen, auch ohne die hübsch bemalten Schilder, die sie als solche auswiesen. Dies musste also die Halle der Nachtruhe sein und irgendwo hier würde Mary ihr Zimmer beziehen … Die Realisierung, dass sie gleich nicht nur offiziell Teil der Gilde war, sondern auch im Gildenhaus leben würde, brachte sie zum Schlucken. War sie überhaupt bereit dazu? Was, wenn sie ihre neuen Gildenmitglieder enttäuschte, wenn sie niemand mögen würde, wenn sie …
Mary atmete leise durch und richtete den Blick auf die Hand, die in der Ravinuthalas vollkommen verschwand. Der Griff war fest, und die Größe und Wärme der Oni fungierte wie ein Anker, der sie auf dem Boden zurückholte, als ihr Herz, ihre Atmung und vor allem ihre Gedanken drohten, sich um all die Unzulänglichkeiten zu schließen, die sie gerade in sich hochkochen spürte. Nein. Sie war hier, weil sie ein Ziel verfolgte. Weil sie ein Versprechen gegeben hatte, an sich selbst und ihre Familie. Und das gruselige Unbekannte würde sie nicht aufhalten. Sie hatte eine Freundin hier! Und wenn sich eine so riesige Person mit einem so riesigen Herzen sofort dazu bereiterklärte, sie als Freundin zu sehen, dann musste da etwas an ihr sein, was mehr Wert besaß als alle Zweifel, die gerade mit ihren eisigen Fingern nach ihr fassten.
Mary straffte die Schultern, setzte ein fröhliches Lächeln auf, das nach wenigen Sekunden in einen ehrlichen Ausdruck der Vorfreude schmolz und zupfte etwas an Ravinuthalas Hand. „Welches ist es denn? Ich bin aufgeregt …!“
„Jap, jap, kein Ding, kein Ding!“ Fröhlich schulterte Ravi die Tasche, mit der Mary sich so abgemüht hatte, und legte kurz den Kopf schief. Die hatte ein bisschen schwerer gewirkt, als sie sich jetzt tatsächlich anfühlte... aber gut, dafür war sie ja da. Wäre schlecht, wenn ihr das ganze Zeug jetzt doch zu schwer war. Über diesen Gedanken lachend folgte die Oni ihrer kleineren Freundin. „Valda wirste mögen“, stellte sie dabei nebenher fest, entschieden nickend. „Ist ne Oni wie ich, nur viiiel größer! Die Stärkste bin aber immer noch ich, HAH!“ Darauf war sie auch sehr stolz... wie man wohl merkte. Inzwischen gab es auch immer weniger Menschen, an denen sich Thala die Zähne ausbiss, ihr Training hier unten brachte sie also tatsächlich weiter. Tigerman war aber immer noch eine unerreichbare Hürde, Magie eine fremde Macht und an die großen Monster, die sie eigentlich erlegen wollte, hatte sie sich auch noch nicht gemacht. Die stärkste Kriegerin aus dem Stamm der roten Sonne hatte noch einen weiten Weg vor sich, wenn sie die stärkste Kriegerin überhaupt werden wollte...
„Hiiier ist es! Tadaaa!“
Laut wie eh und je warf Ravinuthala die Tür auf in den Raum, den sie selbst erst vor einer kurzen Weile verlassen hatte. Es war... nichts Besonderes, wirklich nicht. Dieser recht weit vorne gelegene Raum war eher schmal; die Oni würde wohl nicht mehr viel Platz haben, wenn sie beide ihrer langen Arme zur Seite hin ausstreckte, aber da war sie auch etwas Besonderes. Für Mary fühlte es sich sicher ein Stück geräumiger an. Ein Fenster ließ helles Tageslicht hinein scheinen, das auf ein halbwegs ordentlich gemachtes Bett schien – Ravinuthala hatte sich Mühe gegeben, den Raum ordentlich zu hinterlassen, auch wenn sie als Grobmotorikerin es nicht schaffte, jede noch so kleine Falte aus einer Decke zu bekommen – und... ansonsten erst einmal auf gar nichts. „Die Räume, wo keiner drin wohnt, sind nich groß ausgestattet“, erklärte die Oni kurz und fuhr sich grinsend durch die Haare. „Aber hey, hey, das is kein Ding. Im Lager sind Möbel, da kannste dir'n paar aussuchen. Musst auch nix allein tragen, ich pack da gern für dich mit an.“ Auch die Möbel waren zwar nichts Besonderes, aber sie erfüllten ihren Zweck und die meisten waren zumindest sehr stabil. Außerdem hatte man gelegentlich die Chance auf einen Glücksgriff: „Haben auch'n paar Mitglieder, die selber Schreiner oder sowas sind und gern Zeug für andere baun. Manchma findeste im Lager deshalb was richtig Hochwertiges, was einer von denen gebaut hat. Mir hat sogar ma wer ne coole neue Taiko-Trommel gebaut, HEY! Die donnert echt, als hättest du ne Gewitterwolke direkt im Haus, hah!“ Oh, die musste Thala Mary auch noch zeigen! Vielleicht nicht gleich heute, die Blondine wirkte schon ein wenig überrumpelt, aber früher oder später wollte die Trommlerin ihr gerne einmal etwas vorspielen. Die Baumgardner musste dabei nur darauf achten, dass ihre Trommelfelle nicht platzten...
Das Zimmer, das Ravinuthala Mary zeigte, war ziemlich klein und schmal. Die ersten Assoziationen der Lichtmagierin gingen in Richtung Schuhkarton, doch war sie weit davon entfernt, sich zu beschweren. Zum Einen war die Baumgardner ein genügsamer Mensch, der zwar nicht in armen Verhältnissen, aber vielen Entbehrungen aufgewachsen war, die der moderne Fiorer als selbstverständlich ansah, zum Anderen freute sie sich so sehr, dass sie hier ein Zimmer bekam, dass sie vermutlich auch in der Besenkammer eingezogen wäre. So blickte die junge Magierin mit Neugierde in den leuchtenden Augen in das karge Innere und fühlte sich augenblicklich Zuhause. Das war er also - der erste Schritt in die Laufbahn als Magierin der Gilde Satyrs Cornucopia. Der erste Schritt in ein eigenes, selbst bestimmtes Leben. Noch wusste Mary nicht, ob sie bereit dafür war oder es schaffen würde, ihre Familie stolz zu machen, die sich auf sie verließ, doch das konnte man ja auch nicht, wenn man es gar nicht erst versuchte. Wie dumm und feige es gewesen wäre, einfach umzukehren und dieses Zimmer voller unentdeckter Gelegenheiten verstreichen zu lassen, weil sie ängstlich war! Die Schultern der Jugendlichen strafften sich und wenn sie das nicht seltsam gefunden hätte, hätte sie vielleicht in Ravis "HAH!" eingestimmt, denn sie fühlte sich beim Anblick ihres Zimmers gerade so, als könnte sie ebenso wie die Oni Bäume ausreißen.
Statt ihren Tatendrang aber an etwaiger Vegetation auszulassen, wandte sich Mary ihrer Begleitung zu und hörte bei den Möglichkeiten der Möbelbeschaffung zu. Ein Lager? Gut, das kam ihr sinnvoll vor, denn einen Schrank oder eine Kommode und einen Schreibtisch würde sie brauchen, vielleicht auch ein wie-auch-immer geartetes Regal. Viele Besitztümer hatte Mary nicht, aber die wenigen sollten nicht bis in alle Ewigkeiten in ihrem Rucksack versauern. Mit gerunzelter Stirn trat sie daher in das Zimmer, das ihr tatsächlich im Vergleich zu Ravi nicht sonderlich winzig vorkam, sich um die eigene Achse drehend. Ja, doch, sie würde schon etwas daraus machen können. Besonders gut gefiel Mary, dass sie ein Fenster besaß. Es wäre sonst sicherlich stickig in diesem Zimmer geworden, daher durfte man den Luxus, lüften zu können nicht unterschätzen! Es war vielleicht etwas seltsam beim Anblick dieses Kartons von Luxus zu sprechen, aber Mary schätzte eigentlich schon, dass sie überhaupt einen Ort zum Schlafen hatte, auch wenn sie nicht ganz so weit gehen würde wie Ravinuthala, die ja scheinbar auch Steine nahm, wenn kein Bett in Reichweite war ... "Das ist prima, danke!"
Mal sehen ... Sie waren von der Halle der Sammlung links gegangen und hatten die Badezimmer passiert, dann erreichte man eigentlich auch direkt schon das Zimmer der Baumgardner. Ein wenig ungünstig, weil so jeder Trampel an ihr vorbeilief, aber auch günstig, denn so hatte sie eine gute Chance, als Erste in die Duschen zu kommen und einen kürzeren Weg zum Questboard, sollte sie jemals den Mut bekommen, eine Mission für die Gilde abzuschließen. Früher oder später würde sie das machen müssen, um ihren Unterhalt zu verdienen und in der Gilde aufzusteigen, was ja ihr ultimatives Ziel war. Hätte Mary gewusst, dass Ravi die stärkste Kriegerin der Welt werden wollte, hätte sie viel Verständnis für diese Ambition gezeigt, auch wenn Marys Motivation etwas weniger auf ihren eigenen Vorteil bedacht war und sie eigentlich gar nicht wusste, was sie am Ende des Tages wollte. Nun, sei's drum. In der Gilde hier würde sie das schon finden, immerhin schien Selbstfindung und Selbstverwirklichung hier ganz groß geschrieben zu werden! "Das Lager? Gut, wir können ja schauen. Ein Tisch und eine Kommode für meine Klamotten wären gut. Aber man muss mir nichts extra schreinern, ich bin ja ganz neu ..." Waren die hier wirklich so nett und/oder naiv, dass sie einem Neuling etwas schreinern würden, wo sie doch noch gar nicht wussten, ob sie aus dem Holz geschnitzt (haha) war, das sich als Gildenmitglied eignete? Seltsam, wie viel Vertrauen man hier den Mitgliedern entgegenbrachte ... Wobei ... Mit einem Seitenblick auf Ravi erinnerte sich Mary daran, wie schnell die Oni sie direkt als Freundin bezeichnet hatte, atmete noch einmal durch und straffte abermals ihre Haltung. "Dann lass uns nachsehen, was sie haben!" Sprach's im Brustton der Überzeugung ... und bog direkt zu den Badezimmern ab. In dieser Gildenhalle konnte man sich aber auch verlaufen ...
“Freut mich, dass es dir gefällt”, lachte Ravi mit einem Nicken und stemmte die Hände in die Hüften. Es war schön zu sehen, wie gut Mary hier in der Gilde ankam. “Find’s auch hübsch hier. Und für dich machen wir’s so schick, wie du’s haben magst!” Ein bisschen Inneneinrichtung war ja schnell gepflegt. Solange die beiden an einem Strang zogen, sollte das mit den Möbeln ja keine Herausforderung sein. “Gucken wir uns das einfach mal an, ne? Findest da ja sicher, was du brauchst!" Thala selbst war häufiger mal im Lager, bediente sich da gern an den Trommeln. Auch ihre Taiko stand da mit drin. Die war zwar extra für sie gemacht worden, es störte die Oni aber auch nicht, wenn sich jemand anders daran bediente. Es war tatsächlich ganz nostalgisch, eine andere Person das repräsentative Instrument ihrer Heimat spielen zu hören... auch wenn das leider nicht so oft passierte. “Machen wir uns aufn Weg! Könn ja nix finden, wenn wir nur hier bleiben, hah!" Entschieden riss die Oni die Tür wieder auf, vergleichbar unachtsam, und spazierte zurück hinaus auf den Gang. Als Mary fast in eins der Bäder lief lachte sie kurz auf, machte aber keine großen Kommentare abseits von einem freundlichen “Na komm, hier geht's lang!"
Das Lager von Satyrs Cornucopia war ziemlich voll, wenn auch nicht unordentlich. Vorbei an Leinwänden und Farbeimern, Musikinstrumenten, Tauch- und Kletterausrüstung, allerlei Werkzeugen sowie Holz, Stein und sogar etwas Metall in roher, unverarbeiteter Form, kamen die beiden schlussendlich in der Ecke an, in der die Möbel gelagert wurden. Die wurden ein wenig gestopft, schließlich nahmen sie viel Platz weg für vergleichsweise wenig Nutzen im Alltag. Dementsprechend war auch nicht so viel da, dass man gleich jedes Zimmer im Hause einrichten konnte, aber für ein Einzelnes sollte man finden, was wirklich essenziell war. “Bitte, such dir was aus”, meinte Ravinuthala fröhlich und klopfte Mary auf den Rücken. “Bett ist ja schon drin, also… fangen wir am Besten mit nem Schrank oder sowas an, nicht? Den brauchst du bestimmt!” Da taten Leute ihre Kleidung und all solche Sachen rein, da wusste die Tsumiho bescheid. Sie selbst hatte zwar kaum mehr Zeug als die Sachen, die sie am Leibe trug, und bekam das, was sie irgendwie ablegen musste, schon irgendwo unter - ihre Trommel hier zum Beispiel -, aber Menschen waren da ein gutes Stück komplizierter. Die legten viel Wert auf Besitz, Eigentum und Wechselkleidung. Nach kurzem, gemeinsamen Suchen legte die große Oni beide Hände an einen Schrank, der ausreichend stabil und geräumig wirkte, ohne endlos viel Platz einzunehmen, und spannte ihre Muskeln an, riss das große Holzgestell hoch, um es auf ihre eigene Schulter zu stützen. “Uuund… HEPP! Da wärn wir!” Breit grinsend sah sie hinab auf Mary, wartete auf ein bisschen Bestätigung oder Bewunderung. Abhängig davon war sie zwar nicht, aber hey, wenn man sich schon die ganze Mühe für die guten Muckis machte, dann schadete es auch nicht, wenn Leute ein bisschen drüber staunten! So oder so schleppte sie das Ding aber nicht nur zur Show, wandte sich also wieder der Tür zu. “Getragen krieg ich das Ding locker, aber Türen sind ein bisschen schwierig. Die sind schon für mich allein ein bisschen kurz”, lachte sie amüsiert und klopfte zweimal mit der flachen Hand gegen den Schrank. “Da musst du mir vielleicht’n bisschen helfen. Den Rest pack ich so. Musst mir nur sagen, wo du’s Ding hin haben magst, Mama.”
Beim Versuch, den erbeuteten Schrank zurück in das auserwählte Schlafgemach zu bringen, kam Mary ziemlich ins Schwitzen. Nicht, weil sie sich hier irgendwie körperlich betätigt hätte (Ravinuthala ließ die Muskeln spielen), sondern weil die Baumgardner aufgeregt wie ein auf Krawall gebürstetes Hühnchen um die Oni herumtänzelte, Türen und Stolperfallen ansagte und alles in ihrer Macht Stehende tat, die Schrankwanderung so reibungslos wie möglich über die Bühne zu bringen. Am Ende blieb Mary keuchend und mit hochrotem Kopf im Zimmer stehen und beobachtete mit Augen so groß wie Untertassen, wie Ravi das Möbelstück scheinbar mühelos nach Marys panischen Hinweisen ausrichtete. Die Wände und der Boden hier war zum Glück einigermaßen gerade, so dass man nicht auf zu viel Gewackel achten musste. Der Schrank fand so seinen Platz als primäres Möbelstück neben dem Bett. Wer es geschreinert hatte, war zwar sicherlich kein Meister gewesen, hatte aber viel Leidenschaft in die Verarbeitung gesteckt; an einigen Stellen konnte man kleine Verzierungen erkennen. Mary bekam fast schon ein schlechtes Gewissen dabei, sich einfach so im Lager bedient zu haben, doch wenn Ravinuthala sagte, dass dies beabsichtigt war, würde sie schon niemand wütend mit einer Rechnung attackieren. Aber so ganz ohne Gegenleistung? Die Baumgardner beschloss, dass sie sich etwas einfallen lassen würde, um diese Großzügigkeit der Gilde zurückzuzahlen - und wenn es nur das gewissenhafte Erledigen von zehn Quests war! Während Mary Ravinuthala erneut entsandte, um einen Schreibtisch und einen Stuhl auf dieselbe Art zu suchen wie den Schrank, begleitete Mary die Oni noch einmal ins Lager und besorgte sich einen Eimer und einen Putzlappen. Ersterer wurde im Badezimmer gefüllt und zweiterer genutzt, um den Zustand des staubigen Möbelstückes auf Vordermann zu bringen. Sie putzte, Ravi schleppte ... vielleicht sollte sie die Oni bei nächster Gelegenheit mit "Papa" ansprechen, um dieses Bild traditioneller Rollenverteilung noch etwas zu verdichten ... Na ja, vielleicht in Südfiore. Das Holz roch angenehm, nachdem es angefeuchtet worden war und Mary ließ sämtliche Schubladen offen, damit sie auch gut durchlüfteten, was den Platz im Zimmer ungefähr gen Null sinken ließ. "Danke, Ravi ... ich kann nicht fassen, dass das so schnell ging." Mary hockte sich auf das Bett und legte sich die Hände auf die Knie, während ihr Blick durch das frisch bezogene Zimmer huschte. Leere Schubladen, leere Wände, leere Oberflächen. Fast wie sie selbst, nicht wahr? Auch Mary war ein unbeschriebenes Blatt hier in der Gilde, frisch von der Druckerpresse eines verschlafenen Dörfchens hatte ein wilder Windhauch sie erfasst und in diese Gilde getragen. Es kam ihr vor, als habe das Abenteuer sie direkt geschnappt und kaue nun mit seinen scharfen Zähnen auf ihr herum. Noch wusste Mary nicht, ob sie widerstandsfähig genug war, um das Leben als Gildenmitglied zu meistern. Noch immer schnürte das Heimweh der Jugendlichen die Kehle zu, und noch immer fühlte sie sich winzig und nutzlos im Vergleich zu all ihren neuen Gildenkameraden. Was konnte sie, ein Landei, schon für diese großartige Gilde tun? War es überhaupt wert, die Person zu verändern, als die man geboren wurde, wenn am Ende vielleicht nur Versagen lauerte?
Der Blick goldener Augen glitt von dem Gildenzeichen an ihrem Arm zur lachenden und lärmenden Ravinuthala. Mary kringelte die Mundwinkel nach oben, sprang auf und kletterte auf die Matratze des Bettes, um dem ausgelassenen Befeiern des bezogenen Zimmers mit ein bisschen Gewackel beizuwohnen. Vielleicht, dachte Mary, als sie die Haare schüttelte und die Fäuste durch die Luft tanzten, als würden sie gen unsichtbare Trommeln klopfen, vielleicht ist das hier gar nicht so schlimm. Als die ersten neugierigen Gildenmitglieder sich an ihrer Tür sammelten, sich nach dem Lärm erkundigten und ein paar übermütigere Gesellen damit begannen, ihr verschiedene Wandfarben und Zimmerdekorationen aufschwatzen zu wollen, hatte Mary schon vergessen, dass sie gerade erst angekommen war und sie nichts als Frischfleisch war. Inmitten all er freundlichen Gesichter, der neugierigen Stimmen war sie kein einsames Landei mehr, das man in einen winzigen Karton gesteckt hatte. Weltfremd und zerbrechlich. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Mary mehr als das unscheinbare Mauerblümchen, mehr als die Schmiedetochter und mehr als ein kleiner Fisch in einem Ozean, der zu groß, zu dunkel und zu furchteinflößend erschienen war. Sie war Teil von etwas.
*Shit, shit, shit!* Für gewöhnlich war Maenor die Ruhe selbst, doch was brachte den sonst so entspannten jungen Mann dazu, derart nervös im Empfangsbereich der Gilde herum zu tigern? Nun, die Antwort befand sich in seiner Hand: Ein Brief mit güldener, perfekter Schrift und sauber gezeichnetem Würfel an der Ecke. Jep. Der Grund für seine Nervosität war der an ihn adressierte Brief. Kaum hatte er vor zehn Minuten die Gilde betreten und seinen schweren Reiseumhang abgelegt, war er vom Kollegen am Empfang angequatscht worden. Und kurz daraufhin wurde ihm ein Brief in die Hand gedrückt, der an seinen Namen an die Gilde geschickt worden war. Hatte er etwa etwas falsch getan und jemand verlangte nun Schadensersatz? Oder handelte es sich etwa um eine geheime Verehrerin? Oder vielleicht doch eine Einladung der Rune Knights, die ihn befragen wollten? Was es auch war, der exzentrische Künstler war aufgrund seiner fehlenden Sprachkenntnisse der fiorischen Landessprache nicht in der Lage, den Inhalt des Briefes entsprechend zu lesen. Mehrmals huschten seine Seelenspiegel über den Absender, doch er konnte die Schrift bei bestem Willen nicht entziffern. Als sein Blick schließlich bei dem Würfel hängenblieb, musste der Fice jedoch stutzen. Irgendwie kam ihm dieser Würfel bekannt vor ... wo hatte er ihn nur zuvor bereits gesehen? Es vergingen einige Momente, ehe der Groschen beim braunhaarigen Magier fiel: Der Würfel glich dem von @Cassandra, einer Magierin aus Crimson Sphynx, mit welcher er erst kürzlich eine Quest in den Ruinen am Clover Lake bestritten hatte. Die Wüstenmagierin hatte einen weißlichen Würfel bei sich getragen, der ihr aufgrund schlechter Schulleistungen übergeben worden war und mit dem sie nichts anzufangen wusste. Hmm, bedeutete das also, dass dieser Brief von der blauhaarigen Magierin stammt?
Wie um alles in der Welt sollte er nur den Inhalt entziffern? Klar, er hätte sich in die hiesige Bibliothek setzen - würg - und sich ein Wörterbuch von Fiore & Pergrande schnappen können, während er den Inhalt des Briefes mühsam entzifferte. Leider handelte es sich bei der Bibliothek um einen der Orte, um den er mehr als nur einen kleinen Bogen machte. Außerdem stellte er sich die Übersetzung ziemlich mühsam vor und ehrlich gesagt hatte er keinen Bock auf so viel unnötigen Aufwand. Während Maenor also innerlich mit sich rang, wie er am besten den Inhalt des an ihn adressierten Briefes in Erfahrung bringen konnte, überkam ihn ein Geistesblitz. *Mary!* Seine blonde Gildenkollegin, die ebenfalls Lichtmagierin war und die ihn für gemeinsames Training mit leckerer Hausmannskost bezahlte. Er hatte die junge Frau sowieso demnächst aufsuchen wollen, da er für sie einen sonnenförmigen Anhänger erstellt hatte, den sie zur Schau tragen konnte. Damit konnte sie gratis Werbung für ihn machen und hoffentlich sein Geschäft ankurbeln, welches leider alles andere als gut lief - alles beim Alten also. Damit konnte er ja gleich vier Klatschen mit einer Fliege schlagen: Anhänger, Brief, Essen und Training. Mit neuem Elan machte sich der Fice also auf den Weg zu den Hallen der Nachtruhe. Was hatte ihm die Baumgardner damals noch erzählt, wo sie wohnte? Ganz am Ende des Gangs. Auweia, was den guten Maenor gleich erwarten sollte...
Zielstrebig lief der Lichtgodslayer durch den den Gang der Hallen der Nachtruhe zur letzten Tür. Kurz überflogen seine Seelenspiegel das Namensschild, doch da er in den paar Minuten nicht wundersamerweise die Fähigkeit zum Lesen erlangt hatte, brachte ihm das nicht wirklich etwas. Kurz klopfte der junge Mann an der Tür und wartete schließlich mit hinter dem Rücken verschränkten darauf, dass ihm seine Gildenkollegin die Tür öffnete und sie ihn hereinbat. Schritte näherten sich und die Tür zu dem Gildengemach ging tatsächlich auf ... allerdings handelte es sich bei dem Bewohner nicht um die kleine, blonde Magierin, die er zuvor kennengelernt hatte. Stattdessen wurde Maenor von einem bärtigen und zotteligem Gildenkollegen angebrummt, der ihn mit hochgezogenen Augenbrauen stumm fragte, was zum Teufel er hier wollte. "Oh, hi Mary ... gut siehst du aus. Neue Frisur?", erkundigte er sich mit staubtrockenem Unterton und entsprechendem Gesichtsausdruck bei dem großen Mann vor ihm, der den Witz seinerseits wohl nicht so lustig fand. Stattdessen wies er weiterhin stumm auf die Tür am Anfang des Gangs. Ohne sich diese peinliche Verwechslung anmerken zu lassen, führte der exzentrische Magier eine spöttische Verbeugung aus, ehe er kehrtmachte und zurück zum Anfang des Ganges trottete. An der allerersten Tür, an der er vorhin vorbeigelaufen war, blieb er stehen und klopfte mehrmals. Na hoffentlich hatte er nun die richtige Tür erwischt!
Ob Mary sich wohl aufgeregt hätte, wenn sie etwas von Maenors Kopfsprung ins Fettnäpfchen mitbekommen hätte? Nun, ebenso wie "vorne" und "hinten" in einem Gang offenbar eine gewisse Ansichtssache war, kam es wohl auch auf die Umstände an. Generell verband man nun nicht gerade einen großartigen Sinn für Humor mit der Baumgardner, die viele Dinge im Leben ernst nahm und hohe Ansprüche an sich selbst stellte, aber ein aufgeblasenes Ego konnte man ihr nun auch nicht attestieren ... Sie konnte eigentlich recht gut über sich selbst lachen. Das kam einfach natürlich, wenn man zwei nervige kleine Brüder besaß, die schon dafür sorgten, dass man nicht zu arrogant wurde.
Die Jungmagierin von Satyrs Cornucopia bekam jedoch unglücklicherweise nichts von Maenors Odyssee mit, sonst hätte sie bestimmt eingegriffen oder zumindest geholfen. Es kam öfter einmal vor, dass sie Leuten hier im Gildenhaus den Weg wies - eine Art Zusatzpflicht, die Mary entgegen genommen hatte, als sie das Amt als Questboardverantwortliche erhalten hatte. Neben dem Überprüfen der Questzettel und einer (schlecht bezahlten) Wagenladung an kleineren administrativen Tätigkeiten, die ihre Gildenleitung an ihr abschmierte, hatte sie bemerkt, dass die Rezeption des Gildenhauses fast immer leer war. Es gab zwar angeblich eine Rezeptionistin, aber die konnte ebenso gut ein Fabelwesen sein. Wie ein Einhorn oder eine gute Fee aus einem Märchen tauchte sie angeblich immer dann auf, wenn man sie wirklich brauchte. Und alle anderen Hilferufe blieben unerhört - na ja, bis jetzt. Die Baumgardner bemühte sich sehr, aber Künstlertypen waren nun einmal exzentrisch und oft hatte sie mehr Arbeit beim Helfen als vorher. Eine Sache führte zur anderen, und am Ende stand sie Modell zum Porträtzeichnen, obwohl sie eigentlich aufgebrochen war, um einen verlorenen Questzettel zu finden.
Heute war Mary zum Glück nicht mit solch unmöglichen Aufträgen bedacht, sondern genoss ihren freien Tag in dem Schuhkarton, der sich ihr Zimmer nannte. Pralle Sonne schien durch das große Fenster und grillte die Baumgardner, die dadurch leider nur moralische Kraft schöpfte, lesend auf ihrem Bett. Ein dicker Wälzer aus der Bibliothek lag auf dem Kissen und der Tagesdecke, während Mary abwechselnd auf den Rücken und den Bauch rollte, je nachdem, von welchem Winkel die kleinen Buchstaben und das komplexe Thema mehr Sinn für sie ergab. Es handelte sich um eine Abhandlung über Magieausleger, die Mary nutzte, um etwas mehr über verschiedene verbreitete Magiearten zu erfahren und hoffentlich auf zukünftigen Quests besser auf fremde Magier vorbereitet zu sein, diese vielleicht sogar zu erkennen. Das Klopfen riss Mary aus ihrer Trance. Zuerst dachte sie, dass es sich bei dem Geräusch um eine Alterserscheinung des Hauses handelte, das gerne einmal knackte und krachte, dann erst kamen ihre Gedanken wieder in der Realität an und sie rollte aus dem Bett. Aufgrund des schönen Wetters trug Mary heute einen knielangen, grauen Rock und eine weiße Bluse, die beide aussahen, als wären sie aus dem letzten Jahrhundert. Die Haare waren mit einer roten Schleife hochgebunden. Die Baumgardner öffnete die Tür, ziemlich sicher, dass es sich um eine hungrige Ravinuthala oder ein gelangweilter Nico handelte, blinzelte jedoch, als sich stattdessen eine ganz andere Person direkt vor ihr befand. Wie bei den meisten anderen ihrer Freunde musste sie auch hier den Kopf in den Nacken legen, um Blickkontakt herzustellen. "Maenor?", fragte sie dezent belämmert und schoss einen prüfenden Blick über ihre Schulter, um den Aufräumzustand ihres Zimmers zu überblicken (sah okay aus) und trat dann zur Seite. "Hallo! Alles in Ordnung? Waren wir verabredet?" Wenn sie bei dem ganzen Stress ihre erste Trainingsstunde vergessen hatte, dann würde sie sich das nie verzeihen ...
Da Maenor von ziemlich entspannter Natur war, wartete er höchst geduldig vor der Tür darauf, dass ihm jemand öffnete ... von wegen, so ein Unsinn! Der Fice war alles andere als entspannt, sondern neigte ziemlich schnell zur Langeweile, gegen die er etwas unternehmen musste. Gegen die Langeweile half meist ein Wippen mit den Füßen oder gar das Summen einer Melodie, was er jetzt auch wieder zum Besten gab, während er darauf wartete, dass sich die Tür vor ihm endlich öffnete. Alter, wenn ihm jetzt noch ein bärtiger Typ statt der zierlichen Magierin die Tür öffnen sollte, dann würde er sich echt verlieren.
Glücklicherweise handelte es sich doch um das Zimmer der Lichtmagierin, die ihrem überraschten Gesichtsausdruck nach offensichtlich nicht mit ihm gerechnet hatte. Nach einem kurzen Augenblick der Verwirrung, trat sie zur Seite und ließ ihn in ihr Refugium eintreten, während sie sich bei ihm erkundigte, ob sie heute verabredet waren. Beim braunhaarigen Magier handelte es sich leider erwiesenermaßen um ein unverbesserliches Schlitzohr, weshalb er auf den Zug aufstieg. Mit gespielter Überraschung blinzelte er die kleinere Frau an und legte sich scheinbar angefasst seine rechte Hand an die Brust. "Mary ... sag mir nicht ... dass du unsere Verabredung heute vergessen hast?", fragte er echauffiert nach, die blonde Magierin dabei nicht aus den Augen lassend. Da hinter jedem Lügenkonstrukt ein Fünkchen Wahrheit stecken musste, damit es auch wirklich glaubhaft war, setzte der Lichtgodslayer noch einen nach. "Ein Training am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen! Gibt es das Sprichwort nicht hier in Fiore?", gab er weiteren Unsinn von sich, während er sich dabei in Kampfposition brachte und die Faust vor sich ausgestreckt hielt. Oh man, eher ein Clown am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen...
Ehe das Ganze zu peinlich oder unangenehm wurde, winkte er schließlich lachend ab. "Nein, ich mach' nur Spaß. Wir waren heute nicht verabredet." Glucksend trat er vollends an der Baumgardner vorbei und ließ seine flammenähnlichen Seelenspiegel durch den Raum schweifen. Ohne der blonden Lichtmagierin nahe treten zu wollen, beeindruckte ihn ihr Wohnbereich nicht sonderlich. Diesem Raum fehlte es seiner Meinung nach an Individualität, an Leben, an Inspiration! Mit seinen beiden Händen ein Rechteck mimend, blickte er durch dieses hindurch auf die größte und leerstehendste Wand im länglichen Raum. Oh ja, wenn er hier ein cooles Kunstwerk hinpflasterte, würde der ganze Raum schon ganz anders wirken. Schließlich ließ er seine Arme wieder herunterbaumeln und wandte sich seiner Gildenkollegin mit einem beschämten Lächeln zu. "Bei mir ist alles super, bei dir auch? Hmm obwohl ... nicht ganz.", gab er letztendlich nach kurzem Zögern von sich, wobei er große Ähnlichkeit mit einem Golden Retriever hatte, der etwas ausgeheckt hatte und wusste, dass er das eigentlich nicht durfte. Mit der linken Hand zauberte der junge Mann den erhaltenen Brief aus seiner Hosentasche hervor und wedelte sich damit etwas Luft zu. "Mary, ich ... benötige deine Hilfe. Aber du musst mir hoch und heilig versprechen, dass es unter uns bleibt. Auf deine Ehre als Lichtmagierin!", forderte er sie streng auf und wirkte dabei, als ob es bei diesem Thema um Leben und Tod ging. Nun, zumindest für sein Ego handelte es sich wirklich um eine todernste Angelegenheit, denn bis dato wusste noch niemand, dass er weder in der fiorischen Landessprache lesen noch schreiben konnte. Und wenn es nach ihm ging, dann durfte das auch so bleiben, aber mal sehen, was der Tag so mit sich brachte. Zögerlich reichte er der kleineren Magierin den Brief, als er eine entsprechend zufriedenstellende Antwort erhalten hatte. Was würde nun kommen? "Könntest du mir bitte diesen Brief vorlesen?" Oh, das war doch ziemlich antiklimatisch, was?
Erfreulich, dass Maenor auf einen Besuch vorbei kam, aber noch erfreulicher hätte es Mary gefunden, wenn er sie dabei nicht schon wieder auf den Arm genommen hätte. Wie angewurzelt blieb die Baumgardner neben ihrer Tür stehen, nachdem der Lichtgott in ihr Zimmer getreten war. Eine Hand auf das dunkle Holz des Rahmens gelegt, der auch schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte, weiteten sich die Augen der Jugendlichen. Wirklich? Wir waren verabredet?! Dem Mädchen sah man es nicht an, denn sie bewegte sich nicht - war eher erstarrt - aber in ihrem Inneren pflügte Mary panisch durch Termine und Verpflichtungen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie den heutigen Tag als Verabredung ausgemacht hatten, aber natürlich würde sie sich auch nicht an etwas erinnern, das sie vergessen hatte ... Für einen langen Moment zweifelte die Lichtmagierin an allem, was sie ausmachte: Pflichtbewusstsein, Eifer und Fleiß. Niemals hätte sie sich faulenzend auf ihr Bett geschmissen, wenn sie davon ausgegangen wäre, heute eine Übungsstunde zu bekommen, wo sie doch derart auf eine solche Gelegenheit hinfieberte. Und doch war es passiert? Es kamen nur ein paar gestammelte "I-... Wi-"-Silben aus ihrem Mund, während Maenor wieder seltsamerweise von fremdartigen Sprichwörtern sprach. Er klang ja fast so, als käme er nicht aus Fiore ...
Die Anspannung fiel mit einem Moment von der Baumgardner ab. Der Lichtmagier, der Leute vor allem nebenberuflich hinters Licht führte, offenbarte nämlich, dass er sie auf den Arm genommen hatte und Mary gar keinen Grund hatte, sich Sorgen zu machen und ihre gesamte Persönlichkeit und mentale Gesundheit anzuzweifeln, denn sie waren gar nicht verabredet. Haha, witzig! Die goldenen Augen der Jugendlichen kniffen sich leicht zusammen, und hätte in Mary nicht eine sanfte und freundliche Seele geruht, hätte sie ihrem Lehrmeister in Spe vielleicht für diesen Schabernack beim Vorbeigehen in den Allerwertesten getreten. So musste Maenor aber keine Gewalt fürchten und durfte sich stattdessen das noch etwas karge, aber liebevoll eingerichtete und vor allem saubere Zimmer der Lichtmagierin bewundern. Die lange Wand über dem Bett war schmucklos, aber die gegenüberliegende, an der sich auch Marys wackeliger Schreibtisch befand, hatte immerhin ein Regal und etwas Dekoration bekommen: Ein Zweig eines Baumes von einem für sie besonderen Ort nahe Fallrock, ein mittelmäßig künstlerisch begabtes Bild von zwei Personen, die auf einer Brücke saßen, die über ein Bächlein führte, ein kleines Kettchen aus Idylia und ein im richtigen Licht schimmernder Stein vom Shimmerbright Canyon. Kleine Souvenire ihrer bisher bestrittenen Quests, neben einem Bild einer glücklich strahlenden Familie aus Blondschöpfen. Mary - deutlich jünger als jetzt - war mit einer riesigen Wassermelone mit einem "Erster Preis"-Sticker in den Armen im Zentrum des Bildes zu sehen.
Die Baumgardner ließ zu, dass Maenor ihr Heim beurteilte, lugte auf den Gang und schloss die Tür hinter den beiden. Kurz schrillte die Stimme ihrer Urgroßmutter in ihrem Kopf, dass es skandalös war, Männerbesuch in einem so kleinen Raum zu empfangen, wo die einzige wirkliche Sitzmöglichkeit der Stuhl vor dem Schreibtisch und das Bett darstellten, aber Mary wischte innerlich diesen nervigen Gedanken und das Aufflackern von schlechtem Gewissen weg. "Alles gut bei mir.", meinte sie daher, nachdem sie sich innerlich von der Sache mit den Terminen und dem geistigen Aufschrei der Uromi erholt hatte. Eine steile Falte bildete sich auf Marys Stirn, denn wenn sie das nun richtig deutete, dann ging es Maenor nicht gut? Sofort verlor die Baumgardner sämtlichen gerechten Zorn über dessen alberne Trickserei und schaute ihn stattdessen aufmerksam an. Für ihre Freunde war Mary bereit, alles zu tun, insofern gab es wohl kaum etwas, was der Fice von ihr verlangen könnte, dem sie nicht sofort zustimmen würde, sofern es denn in ihrer Macht lag. Sie nickte daher fest, als sie ihr Freund auf Geheimhaltung einschwor und fragte sich zugleich, welch dunkle Geheimnisse das Lächeln ihres Gegenübers wohl verbergen mochte.
Ein Brief? Mary nahm das Schriftstück entgegen und ließ sich auf den Stuhl sinken, der deutlich weniger bequem als das Bett war, das sie Maenor mit einem Handzeig anbot. Er konnte auch hier stehen bleiben, aber durch die Enge des Raumes fühlte man sich immer dezent, als wäre man in einer Sardinenbüchse gefangen. Zwei normal breite Menschen hatten Probleme, sich nicht mit den Ellenbogen zu berühren, wenn sie versuchten zwei Schritte zu gehen. Auf die Bitte hin, dass Maenor nicht etwa Rat über die Inhalte des Briefes wollte - was ja legitim gewesen wäre - sondern jemanden brauchte, der ihn vorlas, hob die Baumgardner den Blick, der sich bereits auf das Schriftstück gerichtet hatte und musterte den Gottessohn. Er konnte lesen, oder? Natürlich. Jeder konnte lesen. Oder nicht? "Äh, sicher. Also ... 'Werter El Capitaine Maenor Fice' ..." Mary las den Brief vor, doch bei der Anrede schickte sie einen nun deutlich verurteilenden Blick auf ihren Gesprächspartner. Was hatte er der armen Frau für eine Anrede genannt und wieso hatte sie nicht nach fünf Minuten bemerkt, dass es Unsinn war?! In jedem Fall las Mary pflichtbewusst den Brief vor, bis sie mit dem Namen der Schreiberin endete: "Cassandra Alshaytan." Die Lichtmagierin versuchte ihre Neugierde zu unterdrücken und schaffte dies auch, bis sie den Brief wieder faltete und säuberlich auf ihren Schreibtisch legte. Ihre Beherrschung hielt genau so lange an, wie sie brauchte, um sich wieder gen Maenor zu drehen: "Was für Träume? Und was für Pyramiden? Wer ist das? Und wieso hast du den Brief nicht selbst gelesen?" Hey, Maenor mochte doch Aufmerksamkeit, oder nicht?
Maenor bekam gar nicht den finsteren – aber gerechtfertigten – Blick mit, mit dem er von Mary bedacht wurde. Die Aufmerksamkeit des jungen Mannes lag voll und ganz auf dem kleinen und schlichten Zimmer. Die flammenfarbenen Seelenspiegel blickten umher und sogen jegliche Eindrücke ein, auch wenn diese lediglich vereinzelt aus dem Gesamtbild herausstachen. Der Fice hatte die Aussage der kleineren Magierin bei ihrem letzten Aufeinandertreffen nicht vergessen, dass er möglicherweise eine ihrer Wände mit einem Kunstwerk verzieren durfte. Kunst war etwas, bei dem er keinen Spaß kannte und wo er alles für bare Münze nahm. Ganz abgesehen von der Entlohnung, die ein solches Kunstwerk nach sich zog, war es auch eine Frage der professionellen Ehre. Das war auch der Grund dafür, dass er der Baumgardner in den ersten Momenten nicht wirklich viel Beachtung schenkte, sondern vielmehr damit beschäftigt war, die passende Wand für sein kommendes Kunstwerk auszuchecken.
Als sein erster Check schließlich geendet hatte, wandte er sich wieder der kleineren Magierin zu, um zum eigentlichen Thema zu kommen, warum er sie aufsuchte. Er benötigte Hilfe, das Schreiben zu identifizieren, welches sich noch kurz zuvor in seiner Hand befunden und welches er nun der blonden Magierin gereicht hatte. Wortlos bot sie ihm einen Platz auf ihrer Matratze an, was er sich nicht zweimal sagen lassen würde. Sogleich nahm er auf dem Bett Platz und lehnte sich auf seinen ausgestreckten Armen ab, während er gen Decke blickte. Das Ganze war auch so schon unangenehm genug, sodass er für den Moment den Blickkontakt mit seiner Gildenkollegin mied. Als Mary die Einleitung des Briefes vorlas, huschte ein flüchtiges Grinsen über das Gesicht des jungen Mannes. Wie bereits vermutet, handelte es sich bei der Absenderin um Cassandra Alshaytan, einer Crimson Sphynx Magierin, welche er jüngst auf einer Expedition in unerkannte Tiefen der Ruinen am Clover See kennengelernt hatte. Der Würfel auf dem Brief war ihm bereits verdammt bekannt vorgekommen, aber nun hatte er den Beweis dafür, dass er wirklich von der Wüstenmagierin stammt. Die blauhaarige Magierin schien von ihrer Verletzung erholt sein, das war erfreulich. Weniger erfreulich waren jedoch die Pyramiden in West-Fiore, von denen es scheinbar so viele wie Sand am Meer gab – haha, kleiner Schenkelklopfer. Am erfreulichsten war jedoch die Nachricht, dass ihn die Archäologieexpertin kommendes Wochenende besuchen wollte, um sich seine Notizen und Zeichnungen anzuschauen. Jackpot! Damit konnte er vielleicht etwas Licht ins Dunkel bringen … okay, genug der Wortwitze! Als seine blonde Kollegin jedoch die Worte vorlas, dass er Cassandra per Brief seine Adresse mitteilen sollte, fror sein Gesichtsausdruck kurz ein. Argh, verdammt nochmal! Wie zum Teufel sollte er ihr schreiben, wenn er nicht wusste, wie man schrieb? Warum hatte sie sich seine Adresse nicht einfach gemerkt?! Das Problem wurde von Minute zu Minute größer und entwickelte sich allmählich zu einem Super-GAU…
Kaum hatte die blonde Lichtmagierin den Brief beiseitegelegt, überrollte sie ihren leicht überforderten Gildenkollegen sogleich mit einem Schwall an Fragen. Dabei handelte es sich bei ihm für gewöhnlich um den, der wie ein Wasserfall plapperte, nicht wahr? „Cassandra ist eine Magierin und Archäologieexpertin aus Crimson Spyhnx, die ich auf meiner vergangenen Quest in den Ruinen vom Clover Lake kennengelernt habe. Dort sollten wir die freigelegten und unerforschten Ebenen gemeinsam mit Archäologen untersuchen. Oder vielmehr die Vorhut bilden und uns von Fallen und sonstigen Monstern in den Allerwertesten beißen lassen.“, begann er mit einer trocken klingenden Zusammenfassung seines Auftrags, durch den er die Bekanntschaft mit der Wüstenmagierin gemacht hatte. „In den vergangenen Wochen habe ich … seltsame Träume. Von einer Pyramide in der Wüste und einer sich verdunkelnden Sonne, an welcher statt ein Reptilienauge erscheint. Welches einer fetten und fies aussehenden Schlange gehört. Und Cass hat sich meine Zeichnung dazu angeschaut und dabei viel dazu berichten können. Legenden, Mythen, Geschichte und so. Scheinbar symbolisiert diese Schlange den Erzfeind meines Vaters. Allerdings habe ich keine Ahnung davon oder warum ich von so etwas träume, also hoffe ich, dass sie mir diesbezüglich weiterhelfen kann.“, erklärte er seiner Gildenkollegin mit etwas Unbehagen über seinen Traum. „Sie wollte für mich Pyramiden in der Wüste überprüfen, ob diese mit meiner Zeichnung übereinstimmen, aber scheinbar gibt es zu viele, die passen könnten.“ Mit einem Schulterzucken wandte sich Maenor kurz ab, um das Sonnenlicht zu genießen, welches durch das Fenster hineinschein, ehe er sich Mary wieder zuwandte. Die ersten drei Fragen waren völlig legitim, aber ihre letzte Frage … argh, wieso tat sie ihm das nur an? „Öhm, ich habe heute Morgen leider äh etwas ins Auge bekommen. Deshalb kann ich im Augenblick nicht so gut sehen. Muss wohl der Grund dafür sein, dass ich dich vorhin mit dem Typen ganz unten auf dem Gang verwechselt habe.“, flachste der junge Mann eine Notlüge auf die heikle Frage der kleineren Magierin entgegen. Oh man, hoffentlich glaubte sie ihm! „Aus ähm diesem Grund hätte ich auch die Bitte, ob du mir beim Verfassen einer Antwort helfen könntest? Wie du selbst gelesen hast, möchte sie nächstes Wochenende kommen, also sollten wir schnellstmöglich antworten. Und mit wir, meine ich natürlich dich. Weil ich ja gerade nicht so gut sehen kann.“ Wie um seine Aussage zu unterstreichen, winkte er sich vor den Augen um zu zeigen, dass er gerade nicht gut sehen konnte. Sonderlich überzeugend klang er dabei nicht, weshalb es nun abzuwarten galt, wie die Baumgardner auf diese Ausrede und Bitte reagieren würde? Möglicherweise kaufte sie es Maenor ja ab? Aber vielleicht bohrte sie auch etwas nach, warum er denn nicht lesen konnte? Das würde noch interessant werden!
Ein wenig wie auf einer recht klischeebehafteten Therapiesitzung saßen Mary und Maenor in diesem kleinen Zimmer: Doktor auf dem Stuhl, Patient auf der weichen Unterlage. Die Baumgardner hörte aufmerksam zu, nachdem sie den Brief hinter sich auf den Schreibtisch gelegt hatte. Sie wollte ihn nicht behalten, aber offensichtlich hatte er für den Lichtslayer sowieso keinen gesteigerten Wert, wo er ihn doch nicht entziffern konnte. Das Thema würde später angeschnitten werden, denn vorerst galt es, ihrem Freund bei den Dingen zuzuhören, die ihn offenbar belasteten. Darin empfand sich die freundliche und empathische Mary als recht talentiert, so dass sich ihre Schultern auch sogleich hoben und ihr Blick den richtigen Ausdruck von leicht besorgter Offenheit annahm, der in solchen Situationen angemessen war. Insgeheim freute sich die Lichtmagierin natürlich, dass man sich ihr gegenüber öffnete, auch wenn sie davon ausging, dass Maenor keine sonderlich schwer zu knackende Nuss war. Doch das war ja auch gar nicht das Thema ...
Der Name sagte Mary nichts, auch hatte sie noch nie etwas von Clover Lake gehört, aber selbstverständlich wusste die Baumgardner zumindest aus Bildern und Abenteuerromanen, wie eine Pyramide aussah. In Person war sie noch nie bei einem dieser beeindruckenden Bauwerke gewesen, aber ein kurzer Ausflug in ihre Erinnerungen verriet ihr, dass diese Gebäude doch normalerweise als Gräber genutzt wurden und nicht wirklich Häuser im eigentlichen Sinne waren. Zwar kam Mary das eher wie Verschwendung von Ressourcen vor, aber sie hatte auch nicht dasselbe kulturelle Verständnis der Menschen aus dem Westen Fiores, also wer war sie schon, um ein Urteil zu fällen? Vermutlich tippten sich die Wüstenbewohner genauso an die Stirn, wenn sie in ihren wenig fruchtbaren Klimatas sahen, dass man hier ganze Erntekränze voller essbarer Waren spendete und dergleichen. Die Baumgardner nickte an einigen Stellen von Maenors Erzählung und unterbrach ihn an keiner Stelle. Etwas sagte ihr, dass es ihm genauso gut tat sich alles von der Seele zu reden wie es für sie nötig war, das Gesamtbild zu kennen. Er hätte gar nicht so weit ausholen müssen, doch Mary schätzte durchaus, dass ihr solche Informationen anvertraut wurden. Daher bemühte sie sich auch, gut zuzuhören und bereits mehrere Lösungsvorschläge im Kopf auszubrüten, die man Maenor anbieten könnte, sofern er nicht nur etwas Druck ablassen wollte. Es kam ihr in jedem Fall beunruhigend vor, dass ihr Freund von unablässigen Träumen heimgesucht wurde, die mit Gräbern und dem Erzfeind seines Vaters zu tun hatten. Ob es sich dabei wohl um prophetische Nachrichten des Gottes handelte, der Maenor unter seine Fittiche genommen hatte? War er vielleicht in Gefahr?
Als Maenor sich abwandte, hin zum Sonnenlicht, von dem er zehren konnte wie eine Pflanze, schürzte Mary in der für sie üblichen nachdenklichen Geste die Lippen. "Glaubst du, dass dein Vater dir vielleicht etwas mitteilen möchte? Oder könnten die Träume von dem Erzfeind deines Vaters sein, der versucht, dich zu beobachten?" Allein beim Gedanken, dass ein göttliches Wesen es im Sinn haben könnte, Marys Leben und/oder Unterbewusstsein zu durchforsten, jagte es ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Ihre Besorgnis für Maenor wurde auch nicht gerade dadurch gemindert, dass er nun sagte, dass er Probleme mit den Augen hatte. Hatte er ihr nicht gerade gesagt, dass er seltsame verfluchte Augen in seinen Träumen sah, und nun war seine Sichtfähigkeit eingeschränkt? Natürlich kam die Baumgardner nicht auf die Idee, dass er ihr hier aus Peinlichkeit einen Bären aufband. Stattdessen runzelte Mary die Stirn und rutschte von ihrem Stuhl. Die paar Schritte durch das Zimmer zu Maenor waren schnell getan. Dankenswerterweise saß er gerade auf dem Bett und überragte die höhenkompakte Mary nicht um seine üblichen Köpfe, so dass sie nur die Hand ausstrecken musste, um dem Gottessohn sachte die Fingerkuppen an die Wange zu legen. Sofern er nicht sofort sie oder sich selbst in den Orbit jagte, war ihr Ziel, seinen Kopf so im einfallenden Sonnenlicht zu drehen, dass sie Maenors Augen beobachten konnte. Die eigenen goldenen Iriden reflektierten dabei in ähnlicher Art wie die Sonne das Licht und schienen vor Sorge und Konzentration geradezu zu glühen. "Ich helfe dir, aber willst du dir das nicht ansehen lassen? Was, wenn es etwas mit deinem Traum zu tun hat?" Im Augenblick konnte die Lichtmagierin nichts erkennen, aber sie war ja auch keine Ärztin. "Wenn es so schlimm ist, dass du Leute verwechselst, dann macht mir das Sorgen." Mary, die ihren Freunden stets vertraute und gar nicht darüber nachdachte, dass man sie belügen könnte, hatte Maenor also nicht nur geglaubt, sondern betüdelte ihn nun auch noch und machte sich Sorgen ...
Man konnte durchaus sagen, dass Mary viel zu gut für diese Welt war ... oder Maenor eben ein viel zu großes Schlitzohr, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man die Situation betrachtete. Zum wiederholten Male band ihr der Fice einen Bären auf - nicht nur zu Beginn ihres Aufeinandertreffens, sondern auch im Laufe ihres Austausches. Aber später mehr dazu. Zunächst lauschte die kleinere Lichtmagierin den Worten ihres Gildenkollegen aufmerksam und zurückhaltend, ohne ihn mit Gegenfragen zu unterbrechen. Nachdem der braunhaarige Magier eine kleine Pause zum Sonnenbaden einlegte, nutzte die Baumgardner die Gelegenheit, um eine Frage bezüglich des Ursprungs seiner seltsamen Albträume zu stellen. "Nein, das denke ich nicht, sonst hätte er mir das einfach im Traum mitgeteilt. Wenn mich Ra im Traum besucht, dann fühlt sich das wirklich real an. Als ob ich wach wäre. Verstehst du?", probierte sich der Fice an einem Versuch, die seltsamen Traumbesuche seines göttlichen Ziehvaters zu erklären. Damit offenbarte er der blonden Lichtmagierin auch, dass ihn Ra dann und wann in seinen Träumen besuchte, wenn schon nicht im wahren Leben. "Traumfriedensbruch nennt man das übrigens.", brummte er ihr belustigt entgegen, ehe ein Schein von Ernsthaftigkeit auf seinem Gesicht auftauchte. "Puh, ich hoffe nicht, dass irgendeine übermächtige Schlangengottheit ihr Auge auf mich geworfen hat. Ich werde ungerne gestalkt ... brr, wird nur mit kalt oder spürst du auch, wie es dir eiskalt den Rücken runterläuft?", fragte er seine Gildenkollegin witzelnd, während er mit seinen Händen seine Oberarme rieb, ganz so, als ob ihm gerade bitterkalt war.
Als der exzentrische Künstler eine Ausrede zum Besten gegeben hatte, warum er nicht in der Lage gewesen war, den Brief selbst zu lesen, erhob sich Mary und trat zu ihm. Neugierig folgte sein Blick der jungen Frau, bis sie zu ihm getreten und sein Gesicht mit ihren kleinen Händen ergriffen hatte. "Ja, dasch ischt mein Geschischt.", teilte er ihr nuschelnd mit, als sie ihre Finger auf seine Wangen legte und seinen Kopf gen Sonnenlicht drehte. Zumindest leistete er keinen Widerstand, als seine Seelenspiegel fachmännisch von Dr. Baumgardner untersucht wurden. Bei Marys sorgenvollen Worten überkam den Lichtgodslayer beinahe ein schlechtes Gewissen, dass er sie anflunkerte ... beinahe. Der Scham über seine nichtvorhandenen Lese- und Schreibkünste überwog noch das schlechte Gewissen, weshalb er sein Schauspiel nicht auflöste, sondern weiter darauf herumritt. "Schagen Schie esch mir Doktor ... ischt esch schehr schlimm?" Derart genuschelt, kam sein Witz vermutlich nicht ganz so gut an wie mit klarer Stimme, aber er hatte sich ja selbst da reingeritten, also musste er das Ganze nun ausbaden. Zum Glück wusste die blonde Magierin nicht, mit wem Maenor sie da "verwechselt" hatte, denn sonst wäre ihr wohl bewusst gewesen, dass er gerade mal wieder Blödsinn vom Feinsten von sich gab. So aber zog er sein Gesicht behutsam aus ihren Händen und nickte ihr bestätigend zu. "Du hast schon recht. Weißt du was? Wenn wir fertig sind, suche ich später noch einen Arzt auf, der sich das mal anschauen soll." So weit, so gut. Allerdings war aufgrund von Marys Art zu befürchten, dass sie es sich wohl nicht nehmen ließ, ihn zu begleiten. Also musste er eine Art Nebelkerze zünden. Und wie funktionierte das am besten? Richtig, indem man für Ablenkung sorgte. "Das wäre übrigens nicht meine einzige Bitte, Mary...", begann der braunhaarige Magier langsam und erhob sich bei diesen Worten, um sich zum Fenster zu begeben und sich von seiner kleineren Gildenkollegin abzuwenden. Er musste einige Momente Kunstpause einbauen, um die Spannung möglichst aufzubauen, ehe er sich schließlich wieder der Baumgardner zuwandte. "Ich habe vor Kurzem zum ersten Mal meinesgleichen getroffen ... eine Godslayerin." Boom, damit war die Bombe geplatzt und das Interesse von Mary hoffentlich geweckt!
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