Beschreibung: Was? Dir sagt der Name Fallrock nichts? Dann… nunja, entsprichst du vermutlich dem Durchschnittsbürger des Königreiches Fiore. Bei Fallrock handelt es sich um eine kleine Siedlung in Süd-Fiore, in dem kaum mehr als hundert Seelen leben und das über die vergangenen Jahrzehnte ein wenig von der Zivilisation vergessen wurde. Die einfachen, aber stabil gebauten Steinhütten der Einheimischen wirken wahllos über die Fläche verteilt und werden nur mittels Trampelpfade miteinander verbunden. Rund um das Dorf herum befinden sich nicht nur diverse Anbauflächen für Obst und Gemüse, sondern auch dicht bewaldete und kaum vom Menschen erforschte Gebirge, über die sich diverse Mythen und Sagen erzählt werden. Alles in allem handelt es sich bei Fallrock um ein sehr beschauliches Örtchen. Fremden gegenüber verhalten sich die meisten Menschen aufgeschlossen, wenngleich sie auch keinen Hehl daraus machen, dass sie genauso wenig Interesse an der restlichen Welt haben wie umgekehrt. Change Log: Sobald sich innerhalb des Rollenspiels etwas an dem Ort ändert, wird es hier kurz vermerkt.
Als das unverhoffte Schlagloch kam, hielt Mary schnell eine schützende Hand über ihre Quarkbällchenbox. Doch davon ab, dass sie den Boden dieser Kutsche nicht mit Teig und Zucker bekrümeln wollte, hatte sie die süßen Köstlichkeiten in ihrem Reisegepäck schon fast wieder vergessen. Wälder und Äcker zogen am Fenster der Kutsche vorbei, idyllische Landschaften und im Sonnenlicht nur so funkelnde Bäche, aber die Lichtmagierin war zu sehr auf ihr Gegenüber konzentriert, um die Schönheit der Natur zu bewundern, die es ihr unter normalen Umständen durchaus angetan hätte. Etwas an Esmées Art, in Gedanken zu versinken, brachte auch Mary zum Nachdenken. Seit sie in ihrer Gilde war, hatte sie schon mit vielen Personen zu tun gehabt, die ein wenig neben der Spur waren. So waren Künstler wohl einfach - immer am Überlegen. Sie erschufen Welten hinter ihren Stirnen, die irgendwann auf Leinwänden, in den Einbänden von Büchern oder in Form von Statuen das Licht der Welt erblicken würden. Aber so schaute Esmée nicht. Ihre Nachdenklichkeit war anders. Die Art von Nachdenklichkeit, bei der man am Ende zwar auch Geschichten liest, doch diese waren alle vom echten Leben geschrieben, in dem es viele Bösewichte und selten Helden gab.
Ob Mary deshalb so energisch auf ihre Ziele beharrte, weil sie wusste, dass es Personen wie Esmée gab? Die Lichtmagierin sah in der Älteren nicht nur eine Kameradin - jemanden, den sie nun, dass die Gildenzugehörigkeit und der Auftrag sie aneinander band, mit ihren bescheidenen Mitteln beschützen würde - sondern auch das Exempel der Art von Person, für die sie der Gilde beigetreten war. Solange es auf dieser Welt Räuber gab, die Familien zerstörten und Leuten wie Esmée und ihrem Vetter die Heimat raubten, musste es Magier geben, die sich ihnen in den Weg stellten. Natürlich glaubte Mary ihrer Partnerin jedes ihrer Worte - blickte sie mit großen Augen an, in denen Mitgefühl, aber kein Mitleid steckte. Weil sie nun wusste, dass Esmée etwas Trauriges, etwas Schreckliches widerfahren war, veränderte das ihre Stellung zueinander nicht. Mary, die selbst noch nie in ihrem Leben mit Grausamkeit konfrontiert gewesen war, hatte einfach keine Vergleichspunkte, daher kam sie auch nicht auf die Idee, dass etwas an der Geschichte nicht stimmen könnte. Hinter vielen lächelnden Gesichtern verbargen sich dunkle Abgründe. "Wenn einem schlimme Dinge passieren", meinte die Lichtmagierin also unvermittelt, als Esmée erzählt hatte und klappte, nachdem beide sich eine Weile nicht mehr an den Bällchen bedient hatten, die Box wieder zusammen, "dann hat man immer zwei Möglichkeiten." Das Landei unterbrach den Blickkontakt, um die Lunchbox wieder ordnungsgemäß im Rucksack zu verstauen, aber sie sprach mit fester Stimme weiter und hob einen Finger, die erste Möglichkeit anzeigend. "Erstens: Man fühlt sich schrecklich und möchte, dass andere sich genauso fühlen, genau so leiden, wie man selbst gelitten hat." Mit einem Seitenblick aus dem Kutschenfenster bemerkte Mary, dass sich die Szenerie allmählich geändert hatte und die Berge in Sicht kamen. "Zweitens: Man fühlt sich schrecklich und möchte, dass niemand anderes sich genauso fühlt und tut alles, um zu verhindern, dass andere so leiden, wie man selbst gelitten hat." Trotz der Tatsache, dass sie hier schon wieder neunmalkluge Sprüche klopfte, sah sie Esmée dabei wieder ernst an, als wollte sie unbedingt, dass die Ältere ihr zuhörte und ihre Worte verstand. "Du und dein Cousin, ihr seid einer Gilde beigetreten, die Leuten hilft. Damit habt ihr euch für die zweite Variante entschieden, die viel schwieriger ist als die Erste. Das braucht Mut und Biss. Ich bin froh, dass du meine erste Quest leitest, Esmée. Von dir kann ich noch viel lernen."
Dabei lächelte Mary so breit und ehrlich, dass sich ihre Augen zusammenkniffen - und fiel Esmée beinahe in den Schoß, als die Kutsche mit einem plötzlichen Ruck anhielt und die Kutscherin mit gelangweilter Stimme verkündete, dass dies das Ende der Tour war. Blinzelnd schob sich die Lichtmagierin Haarplüsch aus den Augen, der ihr beim unfreiwilligen Vorlehnen überallhin geraten war und streckte, ein bisschen wie ein Hund, der nach Luft schnappen wollte, den Kopf aus dem Fenster. Mit großen Augen nahm Mary die Bergfassade, das winzige Dorf und die wenigen Hütten in sich auf. Sich am Rahmen des Fensters feshaltend, glitt ihr Blick vor allem über die Wäldchen, die um das kleine Dorf herum lagen, als würde sie erwarten, dass sich sofort ein Gott bei ihnen vorstellte. "Ich glaube, wir sind da."
Der Mund der de Bosco öffnete sich einen Spalt breit, während sie den Worten von Mary gebannt lauschte. Das, was die Blonde aussprach, entsprach der Wahrheit: Wann immer einem schlimme Dinge widerfuhren, gab es zwei Möglichkeiten, damit umzugehen. Entweder man wollte, dass es anderen Menschen genauso erging, vielleicht sogar noch schlimmer, damit man sich selbst besser fühlen konnte. Oder… nunja, man verstand den Schmerz und wollte verhindern, dass noch mehr Menschen diesen schrecklichen Schmerz verspüren mussten. Esmée wusste, wie es sich anfühlte, eine Familie und ihre komplette Heimat zu verlieren. Sie wusste, wie es war, wenn Menschen vor den eigenen Augen starben – starben, weil man sie als Prinzessin des Königreiches hatte beschützen wollen. Diese Menschen waren unter anderem gestorben, weil die Dunkelhaarige sich nicht aus eigener Kraft hatte schützen können und darauf angewiesen gewesen war, dass man sie vor Angriffen bewahrte. Auch die schlimmen Wunden, die Erial ihretwegen auf der Flucht nach Fiore eingesteckt hatte, kamen der 19-Jährigen in den Sinn. Bisher war Esmée davon ausgegangen, dass sie der Gilde Satyrs Cornucopia nur beigetreten war, weil es ihre einzige Möglichkeit gewesen war, um in diesem fremden Königreich zu überleben. Aber jetzt, wo Mary mit ihr sprach, ging der Dunkelhaarigen auf, dass das höchstens ein Bruchteil ihrer Beweggründe war. Denn ehrlich gesagt… ja, auch Esmée wollte stärker werden. Nicht nur für sich, sondern auch für ihre Familie und für ihre Heimat. Irgendwann musste sie dorthin zurückkehren und dort weitermachen, wo ihre Mutter einst unterbrochen worden war. Sie wollte Frieden nach Bosco bringen und das Land davor bewahren, dass es noch mehr Opfer gab, dass es noch mehr Familien gab, die gewaltsam auseinandergerissen wurden. Aber das konnte die de Bosco nur erreichen, wenn sie selbst nicht mehr auf Schutz angewiesen war. Wenn sie es endlich schaffte, vollständig für sich selbst einzustehen. Sie musste zu einer Königin werden, zu der man aufblicken und auf die man sich verlassen konnte. Und um dieses Ziel zu erreichen, musste sie vorher zu einer Magierin werden, die den Menschen in Fiore helfen konnte. Die hellblauen Seelenspiegel der 19-Jährigen erwiderten den direkten Blickkontakt mit Mary und die Mundwinkel hoben sich zu einem warmen Lächeln an. Die Blonde konnte also noch viel von der de Bosco lernen? „Mir scheint, das beruht auf Gegenseitigkeit.“ Als sie heute Morgen vor dem Questboard auf die Jüngere getroffen war, war es schlicht der Wunsch nach Ablenkung gewesen, weshalb Esmée sich auf die Quest eingelassen hatte. Doch je länger sie gemeinsam mit Mary unterwegs war, desto klarer wurde der jungen Frau, dass dieser Auftrag gemeinsam mit dem Landei wohlmöglich das Beste war, was ihr hatte widerfahren können. Esmée hatte zuletzt überhaupt nicht mehr gewusst, wer sie war oder wer sie sein wollte. So langsam hatte die junge Frau aber das Gefühl, ihren eigenen Pfad nach langem Irrweg endlich wiederzufinden - nicht zuletzt dank der Aufrichtigkeit von Mary.
Auch die Explosionsmagierin wurde ordentlich in ihren Sitz zurückgedrückt, als die Kutsche abrupt zum Stehen kam. Während Mary ihre wild durcheinanderfliegenden Haare vergebens versuchte, zu bändigen und danach den Kopf aus dem Fenster streckte, um einen Blick auf ihren Zielort zu erhaschen, wandte Esmée den Kopf genau zur anderen Seite. Draußen erklangen Schritte und keine Sekunde später wurde ihnen die Kutschtür geöffnet. “Willkommen in Fallrock“, verkündete die Kutschfahrerin mit einem Schmunzeln und bedeutete den beiden Magierinnen, dass sie aussteigen konnten. Die Prinzessin folgte der Aufforderung, überwand die wenigen Treppenstufen hinab auf den staubigen Boden und sah sich ihrerseits um. Die Luft war… auffallend frisch. Und ein Blick gen Himmel verriet, dass Mary und ihr auch der Wettergott gewogen war. Keine einzige Wolke und ein strahlend blauer Himmel. Was wollte man mehr? “Die Rechnung lasse ich der Gilde Satyrs Cornucopia zukommen.“ Ach stimmt! Die Kutschfahrerin hätte Esmée beinahe wieder vergessen. Sie drehte sich herum, nickte der Dame einmal zu, die sich bereits zurück auf ihre Kutsche begeben hatte. “Viel Erfolg! Ich glaube, die Menschen hier bekommen ziemlich selten Besuch aus der Stadt. Aber eigentlich sind die Einwohner hier ein ganz netter Haufen.“ Mit diesen saloppen Worten gab die Kutschfahrerin ihrem Pferd ein Signal und die Kutsche holperte davon. „Lass uns zuerst in das Dorf gehen. Vielleicht können die Einwohner…“ Esmée wollte noch etwas sagen, aber erschrak, als irgendetwas an ihrem Oberteil zupfte. Sie sah an sich hinab und die hellblauen Augen wurden riesig groß. Das war ein ausgewachsenes Schaf! Und noch viel schlimmer: Ein Schaf, das ihr Oberteil fressen wollte! „H-hey!“, stammelte die Prinzessin und riss an dem Shirt, aber das Schaf wollte nicht so recht loslassen, sodass ein heftiger Kampf zwischen Explosionsmagierin und Tier entfesselt wurde. Esmée merkte nicht einmal, dass sich ein braunhaariges Mädchen mit auffallend vielen Sommersprossen im Gesicht näherte, die höchstens vierzehn Jahre alt sein konnte. “Penny, bist du schon wieder ausgebüchst?!“, rief sie, mehr amüsiert als wirklich erzürnt.
Kaum aus der Kutsche gestiegen, stellte sich den Magierinnen schon ihr erster Widersacher in den Weg. Hätte man bei gehörnt und verfressen noch auf sagenumwobene Dämonen oder Oni schließen könnten, entpuppte sich die Gefahr nach der ersten, erschrockenen Musterung allerdings nur als flauschige Bedrohung, die dann doch keine Hörner, aber einen erstaunlich hartnäckigen Appetit besaß. "Tch", entkam es Mary, die sich sofort eine Hand vor den Mund hielt, um ihr Kichern zu verbergen, das im Moment nicht besonders nett war. Natürlich hatten die beiden gerade so etwas wie Freundschaft geschlossen und über tiefschürfende Themen gesprochen, doch dass ausgerechnet die modebewusste und adrette Prinzessin hier von einem Schäfchen angefallen wurde, erschien Mary so ein wenig wie kosmische Gerechtigkeit. Da sie in der Fressattacke des Wollknäuels keine ernsthafte Gefahr für Esmée erkannte, wandte sich die Lichtmagierin der Szenerie zu, verbeugte sich respektvoll vor der Kutscherin, die mit fliegenden Straßenkieseln und schnaubenden Pferden wieder von dannen zog und nahm das verschlafene Dörfchen genauer in Augenschein. Ihr Heimatort sah eigentlich ganz ähnlich aus, nur gab es bei ihr weniger Berge und Wälder, sondern eher weite Ebenen, Wiesen und Flüsse. Das hier kam Mary weniger wie reines Farmland vor. Wahrscheinlich verdienten die Einwohner ihren Lebensunterhalt auch mit der Jagd und der Försterei, was ihnen auf der Quest sicher zu Gute kommen würde. Man musste im Zweifelsfall nur einen Waidmann fragen, um einen soliden Überblick über die Umgebung zu bekommen. Mary kannte sich zwar nicht so sehr damit aus wie es jemand aus einem Waldgebiet getan hätte, aber auch sie hatte ihren Vater schon öfter zu Holzfällereien und Köhlern begleitet, die meistens auch eine gute Ahnung von ihrem Arbeitsgebiet hatten. Als Schmied durften die Feuer eben nie erlöschen, daher war ein Vorrat von Feuerholz und guter Kohle fast ebenso wichtig wie der an Metallen und anderen Rohstoffen.
Mary bezweifelte, dass Esmée sich über Exkurse in das Schmiedehandwerk oder die Försterei in ihrer derzeitigen Lage freuen würde, weswegen die Baumgardner sich nun endlich wieder ihrer Questpartnerin zuwandte, gerade, als ein Mädchen sich anschickte, das Schaf zu maßregeln. "Keine Sorge! Glaube sie mag den Duft von Esmée hier!", ließ Mary verlauten und klopfte der Explosionsmagierin leicht auf die Schulter, ungeachtet dessen, ob sie noch mit ihrem Schaf kämpfte. Gegen ein solches würde sie als B-Rang-Magierin ja wohl nicht verlieren, auch wenn es Mary ungerne gesehen hätte, dass es Schafsbraten gab. Dass sie dabei ein wenig aussah, als wäre sie der Hirte von Esmée und die Bosco ihrerseits ein verirrtes Schäfchen war dabei keineswegs beabsichtigt - Mary sah eben wenige Probleme! Sie schluckte ein paar Wortwitze von wegen "zum Fressen gern" und "zum Anbeißen" herunter, um sich stattdessen dem sommersprossigem Mädchen zu nähern und eine Hand auszustrecken. Die zum Einschlagen war die Rechte, der linke Arm wurde aber ebenso leicht erhoben, damit sie gleich das Gildenzeichen sehen konnte und wusste, dass sie hier auf offizieller Mission waren. Eigentlich war die andere ja die Questleiterin und Mary würde auch ihre Autorität nicht weiter untergraben (sofern diese nicht demnächst noch mit Kühen und Hühnern kämpfte), doch einen ersten Eindruck konnte man nicht wiederholen! Es war sehr wichtig, ihre Gilde positiv zu repräsentieren, vor allem gegenüber den kleinen Dörfern, die Magiern vielleicht misstrauisch gegenüberstanden. "Mein Name ist Mary Baumgardner! Wie heißt du denn? Wir sind gekommen, um dem Dorf zu helfen. Esmée?" Nun konnte die Lichtmagierin doch nicht anders; ihre fürsorglichere Seite siegte und sie besah sich ihre Anführerin - oder hatte das Schaf sie bereits verzehrt und ihren Platz eingenommen?
Wie konnte es dieses Schaf nur wagen?! Sie war eine Prinzessin! Hatte dieses Tier überhaupt eine Ahnung, mit was für einem gigantischen Königreich es sich hier anlegte?! Wo war Erial? Wo Álvaro? Irgendwer musste diesem Schaf eindeutig beibringen, wo sein Platz in dieser Welt lag!! Die Dunkelhaarige riss und zerrte, aber das flauschige Wollknäuel wollte einfach nicht aufgeben und die Verzweiflung in der de Bosco stieg weiter an. Dieses Oberteil hatte ein Vermögen gekostet! Ein Vermögen, das sie nicht gänzlich selbst besessen hatte, weshalb sie auch ein paar der Einkünfte des Novel hatte stibitzen müssen, um es überhaupt finanzieren zu können. Esmée hörte ein leises Reißen im Stoff und ihr Herz sackte ihr in die Hose – bis die Stimme von Mary ertönte. „Mein Geruch?!“ Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein! Natürlich achtete die junge Frau darauf, dass sie nicht nur gut aussah, sondern auch entsprechend angenehm roch. Aber dass ihr Parfüm Schafe anzog? Das hatte man ihr in der Parfümerie vorenthalten! Das Tier und auch die Prinzessin hielten gleichermaßen in ihrem Kampf inne, als sich ein braunhaariges Mädchen dem Trio näherte. Stammte diese Fremde aus dem Dorf Fallrock? Es musste eigentlich so sein. Mary übernahm die erste Vorstellung – sowohl hinsichtlich der Namen, als auch der Gildenzugehörigkeit – und verwies erst danach auf die Explosionsmagierin. Die stockte, warf einen kurzen, ziemlich verärgerten Blick auf das Schaf an ihrer Seite und entriss ihm dann, mit einem beherzten Ruck, endlich ihr Oberteil. Esmée bemühte sich zwar im Nähertreten, den zerknitterten und vollgesabberten Stoff glatt zu streichen, wirklich erfolgreich war sie in diesem Versuch allerdings nicht.
„Eure Tiere sind ziemlich aufdringlich…“, murmelte die 19-Jährige, atmete dann tief durch und drehte sich zu dem braunhaarigen Mädchen. Okay, der erste Eindruck war wichtig und sollte nicht verspielt werden. Mit der Rechten deutete die 19-Jährige auf sich selbst. „Wie Mary schon sagte: Mein Name lautet Esmée. Esmée Arnault. Wir sind Magier der Gilde Satyrs Cornucopia.“ Aufmerksam beobachtete die Prinzessin, ob der Name der kleinen Bäuerin etwas sagte. Und tatsächlich: Erkennen blitzte in den hellbraunen Augen auf. “Oh, die Magier! Wir haben alle schon ganz sehnsüchtig auf euch gewartet!“ Die Stimme des Mädchens war laut und ein bisschen zu schrill für Esmées Geschmack, aber das war ein Urteil, das sie lieber für sich behielt. Die Braunhaarige wollte wohl noch etwas ergänzen, doch dann sah sie hinab, direkt hinter Esmée und lachte. “Oh nein, Penny. Einmal reicht!“ Erst jetzt merkte die de Bosco, dass sich dieses vermaledeite Schaf schon wieder genähert hatte, um nach ihrem Oberteil zu schnappen. Bevor es zum erneuten Angriff kam, trat das Mädchen dazwischen. Während Esmée sich vollkommen abgerackert hatte, um das Wollknäuel loszuwerden, schien das für das Mädchen keine besonders große Herausforderung darzustellen. Lachend drängte sie Penny zurück. “Ich heiße Freda. Und mein Vater hat den Brief an die Gilde Satyrs Cornucopia geschickt. Wenn ihr möchtet, bringe ich euch zu ihm.“ Sie warf einen Blick auf das Schaf. “Penny hier muss ich sowieso dorthin zurückbringen. Und dann könnt ihr bald aufbrechen, um diese schrecklichen Wilderer aufzuhalten!“ Ungeduldig deutete sie Mary und Esmée an, dass sie folgen sollten. Die de Bosco sah nur kurz zu ihrer Kollegin, nickte dann und setzte sich in Bewegung. Darauf achtend, genügend Sicherheitsabstand zu diesem verfressenen Schaf beizubehalten…
Damit hatten sie also ihren ersten Widersacher besiegt. Penny, die bissige Flauschkugel von Fallrock, hatte sich durch den heroischen Einsatz von Esmée und ihrer Besitzerin Freda entschieden, ihrer Vorliebe für Bosco zu entsagen und sich - im wahrsten Sinne des Wortes - wieder auf die rechte Bahn führen lassen, während Mary den beiden Damen folgte. Wenn der Vater des Mädchens den Brief geschickt hatte, in dem er die Gilde um Hilfe bat, vermutete die Lichtmagierin, dass es sich bei dieser Person um irgendeine Form von Dorfsprecher handeln musste. Für einen Bürgermeister war diese Siedlung wohl zu klein und ein Fürst oder ein anderer Adeliger war in Ermangelung eines Prunkschlosses auch nicht zu vermuten. Kurz war die Baumgardner irritiert, dass nicht mehr Leute gekommen waren, um sie zu begrüßen oder zumindest anzustarren (das wäre bei ihr Zuhause nämlich ganz gewiss passiert), aber insgeheim war Mary recht froh darum, noch eine Weile in Ruhe nachdenken zu können, ohne bohrende Fragen beantworten zu müssen.
Auf dem Weg durch das Dorf schaute sich Mary die Häuser etwas genauer an und versuchte an ihnen zu erkennen, wie es deren Bewohnern wohl ging. Auf sie wirkten diese größtenteils intakt und freundlich, weder von kultischer Symbolik heimgesucht noch zerstört. Prunkvoll war es hier in Fallrock nicht, aber die simple Struktur des Dorfes gefiel der Lichtmagierin ohnehin besser als die Stadt, die sie kannte. Wenigstens war es recht schwierig, sich hier zu verlaufen, da die meisten Dörfer mehr oder weniger im Kreis um Wasserstellen verliefen und man die größeren Gebäude - Gasthaus, Rathaus, Schmiede - oft schon von Weitem sehen konnte. Zu sehr bemühte sich Mary zunächst nicht um Smalltalk. Einerseits war sie ja eher eine ruhige Persönlichkeit, die nicht die ganze Zeit plappern musste (Anm. d. Erzählers: Die zukünftigen Questpartner werden es danken, denn sie sind beinahe allesamt Quasselstrippen), andererseits wollte sie auch erst einmal die Informationen, die man ihnen gegeben hatte, in ihrem Kopf ordnen. Die Menschen hier wirkten zurückgezogen, aber bisher hatte Mary keinerlei Anzeichen dafür gesehen, dass die Leute hier in Angst lebten, denn zugezogene Fensterläden und wimmernde Kinder fehlten recht eindeutig. Mochte das bedeuten, dass die Einwohner die Bedrohung als gering einschätzten? Oder vertrauten sie ihrem Waldgott wirklich so sehr? Die Wilderer schienen allerdings Eindruck hinterlassen zu haben, denn immerhin war die Abneigung gegen sie schon zu den Kindern durchgedrungen. Freda mochte zwar mit einem der Dorfältesten verwandt sein, doch sie kam Mary nun nicht vor, als wäre sie hier eine sonderlich größe Persönlichkeit, der man die neuesten Entwicklungen sofort erzählte. "Habt ihr hier öfter mit Wilderern zu tun?", fragte Mary unvermittelt, während sie über einen Stein hüpfte, der sich vor ihr aus dem Erdboden gebohrt hatte. Natürlich nicht in dem Moment, aber bei ihrem Geschick mochte es genauso gut ein Bein sein, das ihr jemand gestellt hatte. Sie schaffte es zum Glück ohne Zwischenfälle weiter und hob neugierig den Blick zu ihren Partnerinnen, Penny natürlich eingeschlossen. "Ist das Dorf denn betroffen? Was denkt du denn von der Lage hier, Freda?" Das war nicht ganz unwichtig zu wissen, denn nach großartigen Sicherheitsvorkehrungen sah hier nichts aus. Gewiss würde Fredas Vater ihnen noch alle Informationen geben, die sie brauchten, doch manchmal war es besser, wenn man die Finger direkt an den Puls des Dorfes legte - oder wie auch immer das Abenteurer in ihren Romanen bezeichneten. Kundenbindung?
Während Mary in diesem kleinen, entlegenen Örtchen Parallelen zu ihrer eigenen Heimat erkannte und sich vielleicht sogar ganz wohl in der ländlichen Umgebung fühlte, verhielt es sich bei Esmée gänzlich anders. Sie war in einem prunkvollen Palast großgeworden, war damals von Menschen umgeben gewesen, die nicht nur adrett gekleidet gewesen waren, sondern sich mindestens genauso förmlich verhalten hatten. Tiere einfach so frei herumlaufen lassen und mit einem Lachen beobachten, wie diese einem Menschen zu nahe kamen? Sogar die Kleidung eines Fremden zerstörten? Ein Unding, einfach unvorstellbar für eine makellose Umgebung wie den Königspalast von Bosco. Es war nicht so, dass sich die Prinzessin direkt unwohl fühlte, es war einfach nur… befremdlich. Als sie gemeinsam mit Erial aus der Heimat geflohen und nach Fiore gekommen war, hatten sie gezwungenermaßen auch in dem einen oder anderen Dörfchen Halt machen müssen. Aber auch das hatte nicht dazu geführt, dass sich die Explosionsmagierin besser in die hiesigen Menschen hätte hineinversetzen können. Esmée fand das junge Mädchen, das sich selbst als Freda vorgestellt hatte, grundsätzlich sympathisch und mit den vielen Sommersprossen im Gesicht durchaus niedlich. Aber wirklich wissen, was in dem Köpfchen des braunhaarigen Mädchens vorging, konnte die 19-Jährige nicht. Ein wenig wurmte das die Dunkelhaarige schon. „Nein! Es ist strengstens verboten, in unseren Wäldern zu wildern!“, antwortete besagtes Mädchen derweil auf die Frage, die Mary gestellt hatte. Sie sprach die Worte mit Nachdruck aus, sodass man die Empörung über diesen Umstand deutlich erkennen konnte. Freda drehte sich herum und ging rückwärts weiter, um Mary bei den nachfolgenden Worten direkt in die Augen zu blicken. Die de Bosco war durchaus beeindruckt, denn sie selbst wäre vermutlich bei so einer Aktion über die erste Wurzel gestolpert, die sich aus dem Boden kämpfte. Aber Freda? Sie musste nicht einmal hinsehen, um über die Unebenheiten des Bodens hinwegzusteigen. Das konnte eben nur jemand, der schon sein Leben lang in diesem Dorf lebte und es daher in- und auswendig kannte. „Tatsächlich waren diese fremden Männer nur einmal bei uns im Dorf und haben sich nach Del erkundigt. Sie nannten nicht seinen Namen, aber als sie nach einem Hirsch fragten, der schneeweißes Fell und feuerrote Augen besitzt, war klar, dass sie nur ihn meinen konnten. Del ist der Waldgott, der über dieses Dorf, aber auch über die uns umgebenen Wälder wacht“, erklärte das Mädchen und hielt dabei den rechten Zeigefinger belehrend in die Höhe. Schneeweißes Fell und feuerrote Augen? Durchaus möglich, dass es keine Gottheit, sondern schlicht ein Albino war. Allerdings kannte Esmée aus ihrer Zeit in Bosco viele Glaubensgemeinschaften – nicht zuletzt die Familie von Erial – weshalb ihr beim Blick in die braunen Äuglein der 14-Jährigen klar wurde, dass sie vollkommen überzeugt davon war, dass Del tatsächlich eine Gottheit war. Esmée hatte nicht vor, hier irgendwie zu intervenieren. Warum auch? Wohlmöglich hatten die Dorfbewohner mit ihrer Vermutung ja sogar recht? Übernatürliche Wesen gab es in Earthland zu genüge. „Keine Ahnung, wie sie von Del erfahren haben, aber sie hatten Gewehre auf dem Rücken. Wir haben ihnen klargemacht, dass sie sich von Del fernhalten müssen. Dass ein Unglück geschieht, wenn sie die Gottheit verletzen. Aber diese Leute wollten nicht hören… und als sie nicht mehr von uns erfahren haben, sind sie in die Wälder verschwunden.“ Das Grüppchen blieben vor einem Stall stehen und Esmée drang nicht nur der Duft von frischem Heu in die Nase, sondern auch der Geruch von… Pferden? Freda jedenfalls war noch nicht fertig: „Wir alle fürchten um Del. Und deshalb hat Papa entschieden, dass wir Magier um Hilfe bitten müssen, bevor sie Del wirklich finden.“ Okay, also dieses ganze Dorf steckte sämtliche Hoffnung in die beiden jungen Frauen, das war mehr als deutlich geworden.
Ob sie dieser Erwartung auch gerecht werden konnten? Woher sollten sie überhaupt wissen, ob diese Wilderer Del nicht vielleicht bereits gefunden und auch angegriffen hatten?
„Papaaaaa?“, rief Freda schließlich unvermittelt und sprang ins Innere des Stalls. Und Penny? Das Schaf… blieb einfach draußen stehen. „Hätte sie das Schaf nicht zuerst zurück in ein Gehege bringen sollen?...“, murmelte Esmée fragend in Marys Richtung, entschied sich dann allerdings dafür, Freda lieber schnell zu folgen. Nicht, dass Penny die Gelegenheit nutzte, um nochmal auf die Kleidung von Esmée loszugehen. „Freda!“, konnte sie eine lachende Männerstimme aus dem Stall hören. „Nicht so stürmisch.“ Damit hatten sie den Vater also auch gefunden. Ob er genauso herzlich war wie seine Tochter?
Na, das brachte die beiden Magier doch schon ein ganzes Stück weiter. Mary dachte sich nichts dabei, dass Freda den Weg teilweise rückwärts zurücklegte - sie selbst hätte es bei sich Zuhause wohl nicht anders gemacht. Höflichkeit spielte auch auf dem Land eine große Rolle, selbst wenn Städter den Bauern oft ein primitives Wesen und tölpelhaftes Auftreten unterstellten. Man brauchte keine Züge und gepflasterte Straßen, um sich in die Augen zu sehen und einen angenehm festen Händedruck zu pflegen! Hier auf dem Dorf, da kannte man sich untereinander und half einander - hier lebte man das einzige Leben, das Mary nicht vorkam, als würden die Menschen in Fiore aneinander vorbei leben. Entsprechend wohl fühlte sich die Lichtmagierin hier auch, hatte ein Lächeln auf den Lippen und eine neugierige, aufgeschlossene Miene aufgesetzt, die nicht einmal wirklich gespielt war. Leider wurde Freda nicht zu spezifisch mit ihren Aussagen, doch das hatte Mary auch nicht von einem Kind erwartet (egal ob sie selbst nur ein paar Jährchen älter sein mochte ...), das im Zweifelsfall einfach andere Schwerpunkte setzte.
Ein weißer Hirsch mit roten Augen, der auf den Namen "Del" hörte oder wenigstens vom Dorf so genannt wurde. Der Glaube schien stark zu sein, wenn er so positiv aufgenommen wurde und stand sicher irgendwie in Zusammenhang mit den Regeln zur Wilderei. Gesetze gegen das unbefugte Erlegen von Wild waren nicht ungewöhnlich, aber meistens stand solchen der Besitzer des Waldes oder der hiesige Adelige vor, der seine Wälder kontrollieren wollte. Nicht immer war solches Verhalten gierig oder schlecht - wenn jemand zu viele Wildtiere erlegte, dann konnten Beutetiere schließlich irgendwann eine solche Überzahl erlangen, dass sie sich ihr Futter auf Feldern suchten. Mary erinnerte sich noch daran, als sie es auf dem Hof mit einer Kaninchenplage zu tun hatten, weil ein junger Lordling um seine Freunde zu beeindrucken zu oft zur Jagd geritten war. Es hatte Monate gebraucht, bis die Tiere wieder eingedämmt gewesen waren. Hier in Fallrock handelte es sich offenbar aber um religiöse Motive, denn das Dorf wirkte auch weiterhin idyllisch auf Mary. Es war also ein weißer Hirsch mit roten Augen, der das Dorf beschützte und auch über die umliegenden Wälder wachte, und Menschen mit Gewehren, die sich in den Kopf gesetzt hatten, diesen zu töten. Bevor die Lichtmagierin nach weiteren Details fragen konnte, verdünnisierte sich ihre wertvolle Informantin jedoch und ließ nur ihre flauschige Assistenz zurück, die Mary zwar weise, aber auch wenig gesprächig aus schwarzen Augen anblickte. Die Baumgardner streichelte sachte über den krausen Pelz des zahmen Tieres und schürzte die Lippen, während sie auf ein Lebenszeichen von Fredas Vater wartete. In normaler Gesprächstonlage, aber etwas verminderter Lautstärke, beugte sie sich vom leise blökendem Schaf zur Prinzessin. Diese wurde nicht gestreichelt, nur angesprochen: "Wir sollten nachfragen, wie viele Männer es genau waren und ob sie irgendein Erkennungszeichen trugen, vielleicht von einer anderen Gilde." Mary bildete dabei außerdem ein körperliches Schutzschild zwischen Penny und Esmée, darauf achtend, sich in den Weg zu werfen, sollte das Tier die Köstlichkeit des Oberteils noch einmal erproben wollen. "Ich frage mich, wieso diese Leute den Gott des Dorfes töten wollen - was versprechen sie sich davon? Weiße Hirsche sind selten, aber selten genug, um den Zorn eines ganzen Dorfes auf sich zu laden? Und bekannt genug wirkt der Gott auch nicht, dass man es für den Ruhm tun könnte." Bei ihrem nachdenklichen Gesichtsausdruck hätte man das weiße Schaf mit einer Katze ersetzen können und einen Spionageagenten vor Mary platzieren können, so gedankenverloren wurde dieses gekrault. Stattdessen schaute sie aber nur Esmée mit ernstem Blick an, den sie erst zum Eingang des Hauses lenkte, als man eine männliche Stimme vernehmen konnte. Wo genau man Penny hinstellen sollte, das ließ Mary unbeantwortet - das Schaf war offenbar eher ein Draufgänger und konnte von solch lächerlichen Dingen wie Zäunen nicht geknechtet werden.
Misstrauisch beobachtete Esmée das flauschige Monstrum, das von Mary gestreichelt und verwöhnt wurde, bereit, einer neuerlichen Attacke jederzeit auszuweichen. Erst in dem Moment, als die blonde Kollegin sie ansprach, wechselte die Aufmerksamkeit der 19-Jährigen: Weg vom Tier, hin zu dem menschlichen Wesen. „Ich hoffe, es waren nicht allzu viele“, kommentierte die Prinzessin im ersten Moment, denn das würde es deutlich schwerer machen, die Männer aufzuhalten. Wie genau sie das anstellen würde, musste sich die de Bosco ohnehin noch überlegen. Sie bezweifelte irgendwie, dass es erlaubt wäre, sie in die Luft zu jagen… ganz davon ab, dass sie – wie bereits angemerkt – ohnehin schon seit einer Weile keine Explosionen mehr hatte zünden können. Ob die Magierinnen den Konflikt auch mit einem Gespräch lösen könnten? „Aber ja, das ist ein guter Hinweis.“ Die Frage, warum Wilderer einen weißen Hirsch erlegen wollten, stellte sich Esmée jedoch nicht in dem Ausmaß wie Mary es tat. Vielen Menschen war egal, was ihre Taten für Auswirkungen hatten – gerade in einem Königreich wie Bosco lernte man das sehr früh – weshalb die Schwarzhaarige fest davon ausging, dass die Jäger einfach eine Trophäe haben wollten. Die Seltenheit eines weißen Hirsches – egal ob Gottheit oder nicht – reichte da als Beweggrund schon aus. Die Tatsache, dass Mary glaubte, dass der wohlmögliche Zorn eines kleinen Bauerndorfes am Rande Fiores ausreichend wäre, um Wilderer hieran zu hindern, zeugte von ziemlich viel Gutgläubigkeit. Esmée kam nicht dazu, diese Gedanken zu äußern, denn just in diesem Augenblick erschien ein braunhaariger Mann vor ihnen.
„Willkommen in Fallrock“, begrüßte der Herr, den die Explosionsmagierin vielleicht auf Mitte vierzig geschätzt hätte. Die Haare – in genau gleichem Farbton wie jene von Freda – waren zu einem lockeren Zopf nach hinten gebunden. Dazu passend trug der Herr einen längeren Bart, der vielleicht nicht bis ins letzte Detail gepflegt und getrimmt, aber dennoch nicht direkt unordentlich aussah. Die tiefliegenden Augen des Mannes waren haselnussbraun, auch das erinnerte an Freda. Ein paar Krähenfüße um die Augen ließen vermuten, dass dieser Herr gerne lächelte und lachte. Esmée kam zum Schluss, dass der erste Eindruck durchaus sympathisch war. “Freda hat so schnell gesprochen, dass ich Schwierigkeiten hatte, zu folgen.“ Besagtes Mädchen war inzwischen ebenso nach draußen gekommen und kümmerte sich wieder um Penny, wobei sie es sich nicht nehmen ließ, ihrem Vater nochmal gespielt verärgert die Zunge rauszustrecken, bevor sie das Schaf auch tatsächlich wegführte. Der Mann grinste amüsiert, ehe er Mary und Esmée nochmal zunickte. „Aber zumindest habe ich verstanden, dass ihr die Magier von Satyrs Cornucopia seid. Vermutlich hätte ich das auch ohne Freda gewusst – schließlich kennt hier jeder jeden und Fremde fallen entsprechend schnell auf.“ Insbesondere die de Bosco wurde während dieser Worte gemustert, denn vermutlich liefen die Menschen in diesem Dorf nicht unbedingt in hübschen Markenklamotten durch die Gegend. Was auch immer der Mann hiervon hielt, er ließ es unkommentiert und sprach weiter: „So oder so ist es gut, dass ihr hergekommen seid. Wir brauchen wirklich dringend eure Hilfe. Mein Name lautet Edgar Brady. Ich bin der Dorfvorsteher von Fallrock. Freda, die ihr bereits kennengelernt habt, ist meine bezaubernde Tochter.“ Ein gewisser väterlicher Stolz lag in der Stimme von Edgar, jedoch konzentrierte er sich schnell wieder auf das Wesentliche. Auch er erzählte von den Männern, die vor wenigen Tagen nach Fallrock kamen und sich nach dem weißen Hirsch erkundigten, der in den nahegelegenen Wäldern hauste. Offensichtlich hatte es eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen den Dorfbewohnern und besagten Männern gegeben, ehe diese von dannen gezogen waren. “Ich bin überzeugt, dass sie losgezogen sind, um Del zu finden und zu erlegen. Wir wollten ihnen zuerst folgen, aber sie waren bewaffnet. Ich hatte Sorge, dass die Situation eskalieren könnte… deshalb entschied ich, lieber Magier zu beauftragen“, endete die Erzählung des braunhaarigen Mannes, der inzwischen die Arme vor der Brust verschränkt hatte und über dessen Stirn sich nun tiefe Falten zogen. „Das war sicherlich die richtige Entscheidung. Man weiß nie, was im Affekt alles geschehen kann.“ Auch hier hatte die Prinzessin bereits genügend Erfahrungen sammeln können. Esmée legte eine Hand ans Kinn und ließ die Informationen, die sie bisher erhalten hatten, nochmal Revue passieren. Kurz sah sie zu Mary, dann wieder zu Edgar. „Ihr sagtet, es waren drei Männer? Und sie trugen Waffen?“ Der Mann nickte. „Was ist Euch sonst an ihnen aufgefallen?“ Die übertrieben förmliche Anrede schien den Herren kurz zu irritieren, aber das merkte Esmée zu spät. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, ihre Wortwahl hier in Fiore allgemein mehr anzupassen. Aber gerade, wenn sie in Gedanken versunken war, rutschte der Prinzessin dann eben doch manchmal wieder die Art zu sprechen heraus, zu der sie erzogen worden war. Edgar zeigte zum Glück auch hier Professionalität, indem er einfach auf die Frage antwortete. „Sie trugen allesamt Filzhüte mit einer hölzernen Brosche darauf, auf dem der Umriss eines Hirsches abgebildet ist. Ich kenne dieses Wappen, es zählt zu einer größeren Jagdgesellschaft aus Süd-Fiore. Allerdings… ist es das erste Mal, dass sie hierhergekommen sind, um zu jagen. Dass es verboten ist, in den hiesigen Wäldern zu jagen – erst Recht nach Del – interessierte sie nicht. Natürlich könnte ich Beschwerde einreichen und das werde ich auch. Aber sollten sie Del erwischen, dann hilft uns die Beschwere auch nicht weiter.“ Darum die Magier, die die Jäger aufhalten sollten, bevor sie ihr Vorhaben auch in die Tat umsetzten. Die Zeit drängte also. „Hier.“ Edgar holte ein gefaltetes Stück Papier hervor und überreichte es Esmée. „Das ist eine Karte der hiesigen Wälder. Ich habe die Punkte, an denen ich vermute, dass Del sich dort aufhalten könnte, markiert. Vielleicht hilft es euch weiter.“ Die hellblauen Seelenspiegel der Prinzessin wurden ein Stückchen größer, als sie das Stück Papier entfaltet und einen Blick darauf geworfen hatte. Das Gebiet war riesig. Vor allem die Wasserstellen waren jene, die der Dorfvorsteher eingekreist hatte. „Natürlich habe ich diesen Wilderern keine Informationen gegeben, wo sie Del finden könnten. Aber ich mache mir nichts vor: Diese Männer sind erfahren. Sie werden Del auch so finden. Aber vielleicht konnten wir ein bisschen Zeit gutmachen.“ Erneut musterte Edgar Mary und Esmée, ehe er den Kopf leicht neigte. „Bitte, beeilt euch. Und haltet sie auf. Del darf nichts geschehen.“ Gab es noch Fragen? Wenn nicht… nun, dann sollten sie sich wohl auf den Weg machen, oder?
Aufmerksam hörte Mary dem Dorfvorsteher dabei zu, wie er Fredas doch eher knapp ausgefallene Geschichte ergänzte. Die Lichtmagierin legte dabei die Hände an die Riemen ihres Rucksacks und blickte unverwandt in das freundliche Gesicht des Mannes, der sich ihnen als Edgar vorgestellt hatte. Eine Vielzahl an zusätzlichen Informationen sprudelte über sie herein, die ihren Auftrag noch einmal konkretisierten. Es handelte sich also um drei Männer, die Teil einer Jagdgesellschaft waren und sich in den Kopf gesetzt hatten, den weißen Hirschen von Fallrock zu erlegen. Jagdgesellschaften waren offiziell sanktionierte Gemeinschaften, oder nicht? Mit einem Stirnrunzeln grübelte Mary, welche Gründe solche Personen haben könnten, um einen Hirsch zu jagen, der keine Gefahr für ein Dorf darstellte, sondern eher noch positive Auswirkungen hatte. Ganz so abgebrüht wie Esmée war Mary leider nicht, dass ihr in den Sinn gekommen wäre, dass manche Leute einfach Vergnügen an mutwilliger Zerstörung und Tötung empfanden und gar keinen Grund brauchten, um der Welt ihre schlechte Seite zu präsentieren. Dennoch war diese ganze Sache auch weiterhin ziemlich eigenartig. Wenn sie es mit erfahrenen Jägern zu tun hatten, dann mussten sie vorsichtig sein, um am Ende nicht selbst zur Beute zu werden.
Es war wohl tatsächlich gut, dass die Dorfbewohner ihnen nicht in den Wald gefolgt waren. Zwar hätten sie dann vielleicht einen klaren Anhaltspunkt, wo diese Wilderer sich aufhielten, doch wenn der Preis dafür ein größerer, blutiger Konflikt war, dann irrte Mary lieber ein paar Stunden durch einen Wald. Mary hatte nicht die Erfahrungen gemacht, die das Leben ihrer Questpartnerin geprägt hatten - sie persönlich kannte Schlachten und Kriege nur aus Abenteuerromanen - aber mit der Heimattreue und der Starrköpfigkeit der Südfiorer kannte sich Mary dann doch zur Genüge aus.
Die Lichtmagierin machte ebenso wie Esmée große Augen, als ihnen doch tatsächlich eine Karte gereicht wurde und näherte sich der Explosionsmagierin, um ebenfalls einen Blick auf das Schriftstück zu erhaschen. Das Areal war - wie zu erwarten - überaus groß. Die Karte würde ihnen außerordentlich weiterhelfen, denn eine Suche ohne jeden Anhaltspunkte hätte bei der schieren Fläche Tage dauern können. Auch Mary fiel auf, dass einige Wasserstellen eingekreist waren, was interessante Fragen aufwarf. War Del nun ein Hirsch oder ein Gott? Mussten Götter trinken? Die Baumgardner begann an der Göttlichkeit des Wesens zu zweifeln, doch selbstverständlich erwähnte sie nichts dergleichen. Einerseits könnten es die Einwohner Fallrocks als Blasphemie ansehen und am Ende ihnen mit Fackeln und Mistgabeln hinterherjagen und andererseits wünschte sich Mary, dass die Legenden wahr waren. Es wäre schön, wenn es Götter gäbe, die einfach so auf kleine Dörfer achteten und ihre große Macht nutzten, um anderen zu helfen. Der Gedanke erfüllte sie mit Wärme und Zuversicht, was, wenn sie es so recht bedachte, sicherlich auch der Grund war, wieso die Dorfbewohner überhaupt an Del glaubten und ihn verehrten. "Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Brady. Wir werden unser Möglichstes tun, um Del zu beschützen und den Konflikt zu lösen." Mary spezifizierte absichtlich nicht, ob dieser Konflikt durch Worte oder Fäuste gelöst wurde, denn so ganz sicher war sich die Baumgardner da selbst nicht. Ob ihre Handvoll schwacher Zauber etwas gegen erfahrene Wilderer ausrichten konnte? Dass sie bewaffnet waren, hatten sie ja bereits erfahren. Und Mary konnte höchstens jemanden mit ihrem Rucksack erschlagen. Aber sie durften nicht verzagen, bevor sie es nicht versucht hatten!
Mit bemüht fröhlichem Winken verabschiedete sich Mary von Penny, Freda und Edgar und schlug den Weg durch die einzige befestigte Straße Fallrocks ein. Statt das Dorf weiter zu betrachten, lenkte Mary nun ihren Blick auf die Umgebung, als könnte über einem der Wälder ein großes, rotes Ausrufezeichen erscheinen, das auf den weißen Hirsch deutete. Leider war ihr kein solches Glück beschieden, weswegen sie sich erneut an die Rucksackriemen griff und einen skeptischen Blick zu Esmée lenkte. "Ich schlage vor, dass wir zuerst zur nächsten markierten Stelle gehen und dort nach Spuren suchen." Mit einer Karte in der Tasche und in der "Wildnis" fühlte sich Mary bizarrerweise sicherer als in der objektiv betrachtet gewiss deutlich geschützteren Stadt. Aber wie sagte man so schön? Den Teufel, den man kannte ... "Wenn wir die Wilderer sehen, versuchen wir mit ihnen zu reden? Oder feuern wir direkt los?"
Sie würden ihr Möglichstes tun, um Del zu beschützen? Hoffen wir, dass das Möglichste auch gut genug ist. Esmée war alles andere als eine Expertin im Fährtenlesen (die Sache mit dem miserablen Orientierungssinn hatte ja schon Erwähnung gefunden) und alleine kämpfen müssen hatte die Dunkelhaarige trotz ihres Magierranges auch noch nicht. Eigentlich… hatte die 19-Jährige sich in der Vergangenheit immer auf ihre Begleitungen bei Quests verlassen können, sodass sie nicht selbst für den Erfolg eines Auftrages verantwortlich gewesen war. Aber jetzt? Die hellblauen Seelenspiegel wanderten prüfend hinüber zu Mary. Heute war es anders, denn Esmée bezweifelte stark, dass das junge Mädchen an ihrer Seite eine Vielzahl an Fähigkeiten in den Auftrag einbringen konnte – so als Frischling bei Satyrs Cornucopia. Was für Zauber waren es eigentlich, die die Blonde beherrschte? Sie waren bis zur Information der Lichtmagie gekommen, aber was genau bedeutete das eigentlich? Und wie genau könnten sie das für die Suche nach Del oder die Abwehr von Wilderern nutzen? Die de Bosco nahm sich vor, das zu thematisieren, sobald sie das Gespräch mit dem Dorfvorsteher beendet hatten.
Und so kam es auch, als Esmée und Mary auf den Wald am Rande des Dorfes zuschritten. Sie lauschte den Anmerkungen der Jüngeren und warf ihr einen Seitenblick zu. „Das kommt darauf an: Hättest du denn etwas, dass du losfeuern könntest?“, stellte die Prinzessin die entsprechende Gegenfrage. Nach einer kurzen Pause fuhr die 19-Jährige fort: „Du hast mir noch nicht erzählt, welche Zauber du mit deiner Lichtmagie beherrschst. Kannst du mir das beschreiben?“ Theoretisch wäre zwar auch eine Vorführung möglich, aber Mana war ein kostbares Gut, wie auch Esmée schon am eigenen Leibe hatte erfahren müssen. Man sollte nicht zu verschwenderisch damit umgehen. „So oder so müssen wir vor einem Angriff zuerst das Gespräch suchen. Alles andere wäre Unrecht“, entschied die 19-Jährige nach kurzer Bedenkzeit. Wilderer hin oder her, sie mussten eine Gelegenheit bekommen, um umzukehren. Vielleicht reichte die Erscheinung von zwei Magiern, die androhten, Magie anzuwenden, ja aus, um die Wilderer von ihrem Vorhaben abzubringen? Zweifelhaft, aber nicht vollkommen ausgeschlossen! „Aber ja, der Plan klingt gut. Lass uns zur markierten Stelle gehen.“ Die Prinzessin war schon drauf und dran, der Baumgardner die Karte abzunehmen, doch dann… besann sie sich. Ehrlich gesagt wusste die de Bosco, dass sie inmitten dieser Wildnis vollkommen verloren wäre. Da half auch eine Karte nicht wirklich weiter. Daher war es durchaus sinnvoll, wenn Mary hier die Leitung übernahm, oder? Immerhin kam sie doch vom Lande! Anstatt der Blonden die Karte abzunehmen, lächelte Esmée und ermutigte die Kollegin dazu, die Karte in den Händen zu behalten: „Geh ruhig vor, ich folge dir.“ Ein Vertrauensbeweis der ranghöheren Magierin gegenüber dem Neuling? Oder die Möglichkeit für die Jüngere, sich zu beweisen? Hoffentlich erkannte Mary nicht, dass es einzig die fehlenden Fähigkeiten der Prinzessin waren, die sie zu diesem Schritt bewogen. So oder so gingen die beiden Magierinnen los und hatten schon bald die ersten Baumreihen hinter sich gelassen.
Okay, um es zusammenzufassen: Mary und Esmée suchten Ewigkeiten.
Und wenn man von Ewigkeiten sprach, dann meinte man das auch genau so. Die Prinzessin wollte sich gar nicht vorstellen, was für ein unmögliches Unterfangen das alles gewesen wäre, wenn sie keine Karte mit Markierungen gehabt hätten. Die erste Wasserstelle war zwar schnell gefunden worden, doch weder konnten sie hier Del, noch die Wilderer finden. Auch die Suche nach Spuren war nicht sonderlich ergiebig, sodass Mary und Esmée weitergezogen waren. Es war ein Prozedere, das sich noch über fünf weitere Wasserstellen gezogen hatte und um ehrlich zu sein hatte die Prinzessin nicht nur die Orientierung, sondern auch ihr Zeitgefühl gänzlich verloren. Da das dichte Blätterwerk über ihren Köpfen keinen direkten Blick gen Himmel ermöglichte und der gesamte Waldboden im Zwielicht lag, konnte die de Bosco auch nicht sagen, welche Tageszeit sie konkret hatten. Alles, was sie wusste, war, dass sie erschöpft war. Das perfekte Outfit vom Morgen war ebenso bereits hinüber: Matsch und Dreck an den Hosenbeinen, Grasflecken am Oberteil und einzelne Äste, die sich in dem dichten Haar der Prinzessin verknotet hatten. Tja – dass Esmée nicht passend für einen Ausflug in die Wildnis gekleidet war, war bereits am Morgen klar gewesen. Es hatte also früher oder später ohnehin dazu kommen müssen. „Wie weit noch bis zur nächsten markierten Stelle?“, fragte die Dunkelhaarige Mary und kämpfte sich zum zigten Male an diesem Tage durch irgendein Gebüsch. Hoffentlich hing hier nicht noch irgendein Spinnennetz herum. Esmée hatte die Reste des letzten Netzes, in das sie blindlings gelaufen war, immer noch nicht gänzlich aus dem dunklen Haar entfernt bekommen und schlug sich sich seitdem mit dem unangenehmen Gefühl herum, dass irgendwelche Spinnen über ihren Körper krabbelten... „Wollen wir dort vielleicht eine kurze Pause einlegen?“, schob sie hinterher und strich sich eine der vielen, verirrten Haarsträhnen seufzend hinters Ohr.
Nun, das war doch die Frage aller Fragen, oder nicht? Was konnte Mary eigentlich ...? Hätte man eben diese Frage mit passiv-aggressiver Stimmlage formuliert, hätte das die Baumgardner sicherlich zerstört, denn sie war recht stolz auf ihre magischen Fähigkeiten. Der Stolz bezog sich aber leider nicht auf deren unfassbare Stärke, sondern darauf, dass diese überhaupt vorhanden waren. Ihre Macht konnte man wohl bestenfalls als mickrig bezeichnen, vielleicht sogar als lächerlich oder gar als nonexistent. Doch das würde sie Esmée nicht genau so sagen. Die Baumgardner war überzeugt davon, ihrer Gilde zu helfen und auf der Quest kein Klotz am Bein zu sein, weswegen sie auch die Navigation übernommen hatte. Dass Esmée sich generell in komplizierten Arealen noch schlechter zurechtfand als der metaphorische Blinde mit Krückstock hatte Mary ja schon in Maldina erlebt, daher hatte sie auch gar keine Intention, das Zurechtfinden im Wald aus der Hand zu geben. "Ich kann Licht erschaffen und Lichtstrahlen verschießen. Letztere schmerzen, wenn man sie abbekommt.", antwortete sie also wahrheitsgemäß und ließ dabei absichtlich sämtliche wertenden Adjektive unter den Tisch fallen. Zumindest die Dunkelheit konnte sie sehr sicher vertreiben, ob ihr Light Beam aber schneller war als das Geschoss eines Wilderers würde sich zeigen müssen - Mary wagte es zu bezweifeln. Darum ging es aber auch gar nicht, da sie ja immerhin mit den mutmaßlichen Verbrechern verhandeln wollten. Wie die beiden halben Portionen - das Topmodel und die Nonne auf Freigang - irgendeine Art von Bedrohung darstellen sollten, war zwar auch fraglich, doch auch diese Zweifel teilte Mary nicht. Motivation war wichtig. Deshalb lächelte sie auch breit und bestimmt, als man ihr großzügigerweise die Karte überließ und begleitete Esmée scheinbar voller Tatendrang, sich gegenüber ihres höherrangigen Gildenmitglieds zu beweisen. Innerlich dachte sich Mary zwar, dass sie mit Esmée bestimmt eher gegen die Bäume gerannt wären, doch auch dies blieb verschlossen - nicht nur, weil Mary hier eigene Pläne verfolgte, sondern auch aus dem weniger hinterhältigem Grund, dass sie die Gefühle ihrer Partnerin aufrichtig nicht verletzen wollte.
Nach der Ewigkeit, die sie suchten, war sie sich da aber nicht mehr so sicher. Auch Mary, die neben der Karte ja auch noch einen Rucksack spazieren trug, kam langsam aber sicher außer Atem. Sie waren ohne Pause stundenlang durch den Wald gelaufen und hatten sich von einer Wasserquelle zur nächsten begeben. Mary konnte sich nur an einigen Landschaftsmerkmalen orientieren und war konzentriert dabei, nicht falsch abzubiegen und sich in den Wäldern zu verlaufen. Das würde sehr einfach sein, auch mit Karte, deshalb musste sie ständig ihre Himmelsrichtung ungefähr im Gedächtnis behalten. Natürlich wollten sie auch keine Wildtiere aufscheuchen oder Wilderer auf sich aufmerksam machen, doch das gestaltete sich etwas schwierig, da Mary scheinbar keine zarte Gazelle, sondern ein Rhinozeros auf ihre Quest mitgenommen hatte. Wie konnte ein B-Rang-Magier nur so nutzlos in der freien Natur sein?! Esmée schien hier eine Ort naturelles Bingo zu spielen. Ob es einen Preis gab, wenn sie alle Spinnenweben, Dornenbüsche und niedrig hängenden Äste des Waldes gefunden hatte? War das irgendein Teil ihrer Magie, dass sie einfach die Umgebung in ihre Haare absorbierte? Mary hatte es natürlich auch nicht ohne Dreck durch das Unterholz geschafft, denn gewiss war der Waldgott nicht so gnädig, sich nur auf gut besuchten Trampelpfaden zu bewegen. Und den Wilderern konnten sie auch nicht folgen, da diese entweder keine Spuren hinterließen oder nur solche, für die weder Mary noch Esmée die nötigen Spurenlesekünste beherrschten. Auf die ungeduldige Nachfrage, wie weit es noch war, blähte die Lichtmagierin, die Esmée gerade den Rücken zudrehte, kurz die Nüstern. Sie kämen hier deutlich schneller voran, wenn ihre Begleitung nicht versuchen würde, zu einem Penthouse für Vögel und Eichhörnchen zu mutieren. Noch einige Schritte tätigte Mary, die sich gerade ernsthaft zusammenriss, durch den weichen Waldboden und kniff die Augen zusammen, um im Zwielicht des Unterholzes etwas zu erkennen. "Nicht mehr weit. Wir können aber nur kurz Pause machen, Esmée. Die Bewohner verlassen sich auf uns." Trotz des Ärgers in ihrem Bauch klang Marys Stimme sanft, wenn auch bestimmt. Es brachte nichts, sich hier zu streiten, aber die Baumgardner würde es sich auch nicht verzeihen, wenn die Wilderer den Gott töteten, während sie keuchend auf ihrendwelchen Moosen herumlagen. Nicht, wenn sich so viele Leute auf sie verließen und sie es dem Ältesten versprochen hatte ... nicht auf ihrer ersten Quest!
Als die nächste Wasserstelle in Sicht kam, hielt Mary kurz inne. Das Bächlein lag dunkel im Dämmerlicht da, das das dichte Blätterdach gerade so erlaubte und plätscherte vor sich hin. Inmitten der raschelnden Zweige klang es wie das Flüstern einer Stimme, die einem animierte, näher zu treten. Vielleicht war es auch die verlockende Aussicht auf kühles Wasser, in das man kurz die schmerzenden Beine versenken konnte, doch diese Wasserstelle kam Mary anders vor, verwunschener. Es war zu dunkel, um viel zu erkennen, doch vereinzelte Lichtstrahlen bohrten sich durch die Bäume und schienen leuchtende Säulen auf die Oberfläche des Baches und des Waldbodens zu werfen. Staub, Pollen und Laubfetzchen tanzten träge im Licht. Reflexartig streckte Mary einen Arm aus, um Esmée daran zu hindern, allzu gedankenlos auf die Lichtung zu preschen. Die Lichtmagierin spitzte die Ohren und legte einen Zeigefinger auf ihre eigenen Lippen. Mit großen Augen beobachtete die Baumgardner die Umgebung und versuchte angestrengt, möglichst wenige Geräusche von sich zu geben. Plötzlich wurde sie von einer Bewegung aus den Augenwinkeln abgelenkt: Ein dickes, haariges Spinnenvieh seilte sich gerade von Esmées Haaren an ihrem Ohr ab und machte Anstalten, ihr entweder in den Gehörgang oder die Halsseite hinab zu kriechen. Oh je ...
Es war nicht so, dass Esmée mit Absicht jedes Blatt, jeden Ast, jedes Gestrüpp und absolut jedes verdammte Spinnennetz mitnahm, das sich den beiden ungleichen Magierinnen in den Weg stellte. Die Prinzessin schien es einfach anzuziehen wie ein Magnet das Eisen. Selbst wenn sie sich darum bemühte, auszuweichen, lief das Model wenige Sekunden später schnurstracks in das nächste Geäst und musste sich ernsthaft zusammenreißen, um nicht wenig königliche Flüche lautstark in die Welt zu posaunen. Das alles hier war einfach nicht richtige Umgebung für die 19-Jährige! Aber was erwartete man auch? Esmée hatte ihr gesamtes Leben hinter den sicheren Mauern eines Palastes verbracht. Wenn überhaupt, dann war sie in Städten unterwegs gewesen und hatte sich dort mit Menschen und Zivilisation beschäftigt. Aber riesige, verworrene Wälder ohne einen einzigen, befestigten Pfad? Das war ganz sicher nicht die Gegend gewesen, in die man eine Prinzessin führte, die – vor allem früher – fast ausschließlich in teuren, edlen Kleidern und auf hohen Schuhen stolzierte.
Mit dem Ergebnis dieser Erziehung musste sich nun die Baumgardner herumschlagen.
Mary hatte sich den gesamten Tag über als sehr geduldige, freundliche und fröhliche junge Frau gezeigt. Aber nicht einmal an Esmée ging vorbei, dass die Stimmung in den letzten Stunden zunehmend gekippt war. Auch wenn die Jüngere keine direkten Äußerungen tätigte, täuschte dieses Schweigen über die Vielzahl an kleineren Anzeichen nicht hinweg: Die Baumgardner wich dem direkten Blickkontakt zunehmend aus, starrte stoisch nach vorne oder drehte der de Bosco bewusst den Rücken zu. Manchmal dauerte es auch ein oder zwei Sekunden länger, bis Mary auf Fragen antwortete und Esmée konnte nur vermuten, dass es daran lag, dass die 16-Jährige sich vorher sammelte und zusammenriss, um ihren Unmut möglichst für sich zu behalten.
"Du kannst nicht derart blind sein. Du kannst nicht nicht wissen, wie du mit deiner Umwelt umgehst."
Wieder war es der Satz von Arkos, dieser schreckliche Vorwurf, der sich in den Geist der Dunkelhaarigen schummelte. Auch wenn es heute nicht der Aurelius war, mit dem sie unterwegs war, sondern Mary, brachte es Esmée doch ins Grübeln. Ob die Jüngere das gleiche dachte wie der Schmied, es nur nicht aussprach? Die hellblauen Seelenspiegel legten sich nachdenklich auf die Lichtmagierin, die vollkommen versunken darin war, den richtigen Weg zu finden und die Dorfbewohner sowie Del nicht im Stich zu lassen. Aber wenn sie genervt von Esmée war, sich gar von ihr aufgehalten fühlte… warum sagte sie es dann nicht? Warum schluckte sie jedweden Kommentar herunter, in der Gefahr, daran zu ersticken? Die Prinzessin war sich sicher: In dem Köpfchen von Mary ging deutlich mehr vor, als sie gewillt war, der Umwelt mitzuteilen. Stille Wasser sind tief, dachte sich die 19-Jährige nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Wie passend, dass die beiden Magierinnen just in diesem Augenblick die nächste Wasserstelle erreichten.
Trotz der Erschöpfung und der vielen Grübelei konnte auch die Prinzessin sich der magischen Atmosphäre der kleinen Lichtung nicht erwehren. Leise murmelnd floss das Bächlein an den Sträuchern der Umgebung vorbei, glitzerte im leichten Licht der Sonnenstrahlen, die sich durch das Blätterdach des Waldes bis zum Boden kämpften. Aus der Ferne war es schwer auszumachen, aber Esmée glaubte, auch die eine oder andere Bewegung in dem Bächlein wahrzunehmen. Waren das Fische? Der Hinweis von Mary wäre nicht einmal notwendig gewesen, auch so hätte die Explosionsmagierin innegehalten. Dennoch nickte sie, ließ die Umgebung auf sich wirken und sah sich, ähnlich wie die Blonde, um. Auf Anhieb konnte die junge Frau auch an diesem Ort weder einen weißen Hirsch, noch drei bewaffnete Wilderer entdecken. Wieder ein Fehlschlag?, dachte sich die de Bosco resigniert und bemerkte dadurch erst mit Verzögerung, dass die hellbraunen Seelenspiegel der Kollegin sie entgeistert anstarrten. Esmée, die nicht wusste, was los war, wandte sich der Blonden zu und neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was…“
Doch der Satz fand kein Ende, denn vorher setzte das Herz des Models aus.
Sie musste es nicht sehen, um es dennoch an ihrem Hals zu spüren. Spinne, formten ihre Lippen tonlos, dabei Mary anstarrend. Eine Spinne, bewegten sich ihre Lippen immer noch weiter. Ein eiskalter Schauer rieselte den Rücken der Dunkelhaarigen herab und sie wollte springen, wollte kreischen, wollte um sich schlagen. Obwohl dieser Drang so unglaublich übermächtig war… sie tat es nicht. Zumindest eine Sache konnte Esmée, wenn es darauf ankam: Sich zusammenreißen und die eigenen Ängste herunterschlucken, ganz gleich, wie schwer es auch fiel. Es war, als würde sie die Stimme ihrer Mutter hören, die ihr einbläute, sich zusammenzureißen und sich nicht gehen zu lassen – dass sie als Prinzessin auch in Momenten größter Not immer auf ihre stolze Haltung zu achten hatte. Größte Not… ja, das hier zählte eindeutig in diese Kategorie. Esmée biss also die Zähne zusammen, anstatt den Wald lautstark zusammenzuschreien und bat Mary im Flüsterton. „Nimm sie bitte weg…“ Es fühlte sich unendlich lange an, bis die kleinere und von dem haarigen Biest vollkommen unerschrockene Mary herangetreten war und Esmée von der Spinne befreit hatte. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn dieses haarige Monstrum unter ihr Oberteil gekrochen wäre! Erst als die 19-Jährige in Sicherheit war, hockte sie sich auf den Boden und streichelte sich selbst über die Oberarme, um die Gänsehaut zu vertreiben, die sich überall auf dem Körper der jungen Frau breitgemacht hatte. „Was muss noch alles passieren?“, wisperte sie, an niemand bestimmten gerichtet und bezog sich damit natürlich allem voran darauf, dass Esmée in diesem Wald vom Pech verfolgt zu werden schien. Erst danach sah sie wieder zu Mary. „Danke.“ Ein ernsthafter Dank, der auch genauso gemeint war, wie er ausgesprochen wurde. Die hellblauen Äuglein sahen sich nochmals in der Umgebung um, aber immer noch waren weder ein Hirsch, noch Wilderer zu entdecken. So nutzte Esmée die Gelegenheit, die sich bot (vielleicht auch, um das Ereignis mit der Spinne zu verdrängen) und fragte ziemlich offen heraus: „Kann es sein, dass du ziemlich viele Dinge, über die du nachdenkst, lieber für dich behältst? Hat das einen bestimmten Grund?“ Durchaus möglich, dass Mary in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Oder es war doch nicht mehr als das Ergebnis ihrer Erziehung?
Mit geschickter Koordination der acht haarigen Beinchen kletterte das Spinnentier über die sonnengebräunte Hand des Mädchens. Vorsichtig hatte sie es aus Esmées Haaren gelöst und nahm sich nun, wo die Gefahr eines Schreikrampfes von Seiten der Prinzessin erst einmal abgewendet schien, einen Augenblick Zeit, um das Wesen zu betrachten. Viele Menschen fanden Insekten und Spinnen widerlich, aber Mary sah das Ganze eher pragmatisch. Sie ging nicht so weit, dieses unschuldige Lebewesen süß zu finden oder sich eine Variante davon als Haustier zu wünschen, aber die Baumgardner verstand, dass ohne deren Existenz viele Abläufe in der Natur nicht so reibungslos wären. Die meisten Menschen - vor allem jene aus großen Städten - wollten aber möglichst wenig darüber wissen, welche Organismen für ihren Konsum schufteten. Viele Frauen kleideten sich gerne in Seide, doch deren Produzent würden sich vermutlich die Wenigsten um die Schultern schlingen. So war es nun einmal - Personen aus unterschiedlichen Blickwinkeln verstanden sich oft nicht oder liefen gegen Wände, wenn es darum ging, einen grünen Zweig zu finden. Ob es zwischen Mary und Esmée nun auch so weit war, dass ihre Verschiedenheit sich auf die Quest auswirkte? Das Landei und die Prinzessin könnten gewiss nicht unterschiedlicher sein, doch Mary hatte sich schon zu Beginn der Quest entschlossen, nicht in Lücken, sondern Brücken zu denken. Als die junge Lichtmagierin das Spinnentier vorsichtig am ausgestreckten Zeigefinger zurück auf einen der Büsche krabbeln ließ, hoben sich ihre Mundwinkel ein Stück. Esmée beschwerte sich über die Ungerechtigkeit des Tages - oder zumindest kam es Mary so vor. Es stimmte, dass die Prinzessin in den letzten Stunden etwas durch die Mangel gedreht worden war, doch war es wohl eher ihre eigene Schuld, dass sie sich nicht passend für eine Quest gekleidet hatte. Mary selbst sah zwar nicht gerade umwerfend aus in ihrer weiten, schlichten Garderobe, doch immerhin war jedes ihrer Kleidungsstücke stabil und ihr Schuhwerk durchaus dazu geeignet, stundenlang durch wilde Natur zu wandern - genau dafür waren sie nämlich gemacht. "Wiedersehen, kleines Spinnlein. Such dir einen besseren Ort für dein neues Zuhause", sandte Mary das Wesen auf seinen Weg. Ein prüfender Blick galt zunächst der Umgebung, in der sich noch immer weder Waldgötter noch Wilderer befanden, dann erst blickte sie zu der soeben geretteten Esmée. Ihrer Vorgesetzten. Auf den Dank ihrer Partnerin lächelte Mary nur sachte, deutlich milder gestimmt als eben noch, was sicherlich der friedvollen Atmosphäre der Lichtung zu verdanken war, aber eben auch der Prinzessin. Sie hätte Mary ja genauso gut zusammenkreischen können oder ihre Fassung verlieren, aber indem sie sich zusammengerissen hatte, obwohl ihr das Wesen offensichtlich unangenehm gewesen war, hatte sie bewiesen, dass ihr Auftrag ihr nicht unwichtig war - und das machte aus Esmée eben weniger ein verwöhntes Gör, sondern einfach eine Person, die nicht in ihrem Element war. Das Gefühl verstand Mary gut, und sie besaß auch genug Selbstreflexion um zu verstehen, dass in anderen Situationen und Umständen sie es sein würde, die Esmées Hilfe brauchte. Aber so musste es in einem Team sein, oder nicht? Man half einander und ergänzte einander, sonst konnte man auch gleich nur ganz alleine auf seine Quests gehen.
Mary striff sich den Pullover über die Schultern und band sich das graue Teil um die Hüfte - dadurch, dass nun das Kleidungsstück nicht mehr sackartig an ihr herabhing, konnte man sehen, dass sie tatsächlich eine solche besaß und nicht einfach nur ein Block Heu war, der sich mit Kleidung dekoriert hatte - und offenbarte eine helle Bluse mit einer roten Schleife am Kragen. So langsam war es etwas warm und stickig geworden, zumal die Wanderung sie ins Schwitzen gebrachte hatte und sie den Wilderern nicht unbedingt mit dem Gestank vollgesiffter Wolle ihren Standort verraten wollte. Sie war gerade fertig damit, sich das Teil um die Hüfte zu binden und den Rucksack wieder anzuziehen, als Esmées Frage die Lichtmagierin überraschte. So einfach wie die oberste Schicht Kleidung ließ sie sich emotional allerdings nicht entblättern. Ein, zweimal blinzelten die goldenen Augen verwirrt. Es stimmte; sie redete nicht viel. Allerdings redete nach ihren Erfahrungen nach das durchschnittliche Mitglied von Satyrs Cornucopia dafür überdurchschnittlich viel, wodurch sich die beiden Dinge meistens ausglichen. Ob es dafür einen bestimmten Grund gab? Nun, sie war nun einmal lieber Zuhörer - unterstützen war einfacher als reden und sie hatte nur wenig Ahnung von der Welt, daher wollte sie sich nicht auch noch verbal blamieren, schaffte sie das doch eh schon oft genug durch andere Dinge. Der wahre Grund aber ... Nun, der war ein wenig trauriger, vermutlich. "Uh? Das kann sein - aber ich bezweifle, dass meine Gedanken in den meisten Fällen interessant genug sind, um sie zu teilen." Sie hätte nun den wertvollen Ratschlag einer berühmten Hasenmutter wiederholen können, dass man besser gar nichts sagte, wenn man nichts Nettes zu sagen hatte, doch das war nicht einmal wirklich der Kern des Ganzen. In einer Welt voller Sprecher waren Zuhörer selten - und Mary hatte einfach nie das Gefühl bekommen, ihre Aussagen wären außerordentlich wertvoll. Zuhause hatten sich ihre Eltern dank ihrer wilden Brüder über Stille mehr gefreut als über tiefschürfende Gespräche mit ihrer braven Tochter und in der Gilde hatte sie bisher eben vor allem Leute getroffen, die gerne auf der Bühne standen - nicht einmal auf böswillige Weise. Sie befand sich inmitten von Hauptdarstellern, wer achtete da schon auf die Nebenrollen? "Mach dir keine Sorgen, wir finden Del ganz sicher irgendwann. Wir dürfen nur nicht so schnell die Flinte ins Korn werfen." Der Prinzessin streckte sich der sonnengebräunte, kräftige Arm der Bauerstochter entgegen, um sie mit ihrer Erlaubnis wieder auf die Füße zu ziehen. Mary hatte sich bereits wieder zur Wasserstelle umgewandt, drehte den Kopf aber doch noch einmal zurück und lächelte Esmée sachte an, die Sonnenstrahlen und den funkelnden Bach im Rücken. "Ich weiß, dass du dein Bestes gibst. Wenn es gar nicht mehr geht, dann stoppen wir - aber ich denke, in dir steckt mehr als von einer Spinne und einem Haufen Moos besiegt werden könnte, mh?"
Die Prinzessin stellte überrascht fest, dass Mary doch den Hauch von Modebewusstsein besaß. Das Oberteil, das unter dem mausgrauen Pullover zum Vorschein kam, entsprach vielleicht nicht den allerneusten Trends und einen Platz auf dem Titelbild einer angesagten Modezeitschrift hätte sich die Baumgardner damit auch nicht gesichert. Aber die helle Bluse mit der roten Schleife am Kragen konnte sich durchaus sehen lassen – eher klassisch, nicht zu auffällig, aber grundsätzlich konnte man damit nichts falsch machen. War Mary etwa ein Diamant, der nur darauf wartete, geschliffen zu werden? Esmée konnte nichts dagegen unternehmen, dass sich ihre Gedankenwelt für einen winzigen Augenblick einfach um die verschiedenen Outfits drehte, die von der Blonden getragen werden könnten und die sicherlich ganz hervorragend aussehen würden! Zum Glück besann sich die Prinzessin schnell wieder, denn es gab wichtigere Dinge als Kleidung – unter anderem die Antwort auf die zuletzt gestellte Frage. Und diese Antwort ließ tatsächlich ein paar Momente auf sich warten, während Mary die Kollegin irritiert anblinzelte. Es überraschte die 19-Jährige nicht, vermutlich hätte sie selbst ebenso irritiert reagiert, wenn sie so direkt auf Gedankengänge angesprochen wurde, die sie – bewusst oder unbewusst – für sich behielt. Es war auch ein Eindringen in die Privatsphäre der Baumgardner und nicht unbedingt höflich, vielleicht auch nicht taktvoll, aber Esmée hatte echtes Interesse daran, Mary besser kennenzulernen. Auch das war eine Sache, die ihr von ihrer Mutter beigebracht wurde: Eine Prinzessin musste oft sprechen und Entscheidungen für die Allgemeinheit fällen, aber genauso musste eine Prinzessin die Fähigkeit besitzen, gezielt Fragen stellen und zuhören zu können. Das war es, woran Esmée sich gerade jetzt versuchte. Ob mit Erfolg, würde sich noch zeigen.
So kurz die Antwort schlussendlich auch ausfiel, so viel sagte es über die Baumgardner aus. Ihre Gedanken wären in den meisten Fällen nicht interessant genug, um sie zu teilen? Die de Bosco fand das einen ziemlich traurigen Beweggrund und stellte im gleichen Gedankengang erneut fest, wie unterschiedlich sie und die Blonde waren. Während Esmée in einer Welt großgeworden war, in der sich im Zweifel alle Blicke auf sie richteten, damit sie ein abschließendes Urteil fällte, verweilte Mary (fast schon amüsant für eine Lichtmagierin) eher im Schatten anderer Menschen. Selbst wenn die Prinzessin sich früher oft genug gewünscht hatte, ebenso im Schatten anderer abtauchen zu können – anderen Leuten das Zepter zu überlassen – so war das für sie in den seltensten Fällen möglich gewesen. Seit dem Tod ihrer Mutter und ihres Bruders gar nicht mehr. Das hatte nicht zuletzt dazu geführt, dass die junge Frau heutzutage dazu tendierte, immer das letzte Wort haben zu müssen. Kein Wunder, dass einige Menschen in der Gilde Satyrs Cornucopia der 19-Jährigen eine gewisse Hochnäsigkeit nachsagten. Dabei kannten sie Esmée und ihre Vergangenheit nicht. „Wenn ich an unser Gespräch in der Kutsche oder deine Einwände im Dorf denke, möchte ich das doch stark bezweifeln.“ Vermutlich war das ein Urteil, auf das Mary gar keinen allzu großen Wert legte und die de Bosco glaubte auch nicht, dass sich deshalb das Wesen der Blonden von jetzt auf gleich änderte. Dennoch war es Esmée wichtig, es zu äußern. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass in deinem Kopf viele Gedanken herumgeistern, die eine ziemliche Bereicherung wären. Vielleicht gerade weil du eine gute Zuhörerin bist. Ich kann dir jedenfalls aus eigener Erfahrung sagen, dass deine Gedanken vieles waren, aber mit Sicherheit nicht uninteressant.“ Die dargebotene Hand nahm Esmée mit einem Lächeln entgegen und ließ sich so von Mary aufhelfen. Sie würden Del finden? In ihr steckte mehr, als ein wenig Moos und Spinnen besiegen könnten? Die Dunkelhaarige erwiderte das Lächeln und öffnete die Lippen, um etwas zu sagen.
Aber dann ertönte ein lauter Knall und unmittelbarer Nähe.
„Was…“ Esmée drehte sich auf dem Absatz herum, da brach bereits am anderen Ende der hübschen Lichtung ein majestätisch anmutender Hirsch aus dem Dickicht. Nicht irgendein Hirsch – schneeweiß war er, mit stechend roten Augen und einem ebenso weißen und mächtigen Geweih. Im ersten Moment wirkte dieses Wesen wie ein Geist, der über den Boden schwebte, anstatt über ihn zu laufen. Ein Lebewesen, das nicht von dieser Erde stammen konnte. Er steuerte direkt auf die Magierinnen zu und erst jetzt erkannte Esmée die pure Panik, die von diesem Tier ausgestrahlt wurde. Die roten Augen waren weit aufgerissen, die Ohren angelegt – ein weiterer Knall ertönte. “Hinterher! Wir hatten ihn fast“, schrie eine Männerstimme. „Del…“ Verwechslung ausgeschlossen. Immer noch steuerte der Hirsch direkt auf die Magierinnen zu. Spürte er wohlmöglich, dass dort seine Rettung liegen könnte? Aber dann… dann waren das die Wilderer, die direkt hinter dem Hirsch her waren? Sie mussten etwas unternehmen!
Dies hätte nun der Moment sein können, in dem die beiden ungleichen Questpartnerinnen ein tiefschürfendes Gespräch führen konnten. Womöglich hätten sie sich, angespornt von der idyllischen Natur, sogar dazu hinreißen lassen, sich gegenseitig einige Geheimnisse zu offenbaren. Aber wieder einmal entschied sich das Schicksal dafür, dass Spannung und Gefahr eine höhere Priorität besaß als eine zart erblühende Freundschaft - oder weniger hochtrabend ausgedrückt: Das Objekt ihrer Quest entschied sich endlich dazu, die Bühne zu betreten. Gerade noch hatte die Baumgardner den Mund geöffnet und wollte etwas zur Explosionsmagierin erwidern, als sich die Ereignisse überschlugen. Etwas Großes brach durch das Unterholz wie eine wütende Wildsau und Mary, die in ihrem Leben zwar noch kein Wildschwein, aber wütende Farmtiere erlebt hatte, machte augenblicklich einen Schritt zur Seite. Weit aufgerissene, goldene Augen folgten einem Blitz aus Weiß, der nur knapp vor ihr aus dem Blätterwerk sprang. Die rohe Kraft des Sprunges zog die Luft mit sich, so dass Marys Bluse und die langen Strähnen ihrer Haare hinter dem Wesen flatterten. Die Lichtmagierin hob eine Hand, um sich die Sicht freizuhalten, und obwohl alles in ihr nach Gefahr schrie, konnte sie nicht anders, als dieses wunderschöne Tier einen Augenblick lang zu betrachten und von seinem Anblick gefangen zu sein. Es strahlte eine solche Würde aus, als wäre das Geweih eine Krone. Das anmutige Gesicht, die von Intelligenz erfüllten, roten Augen und die schiere Größe des Wesens verwandelten Marys erschrockenes Gesicht bald schon in eine Mimik der Ehrfurcht. Doch auch der Baumgardner entging nicht, dass die Wesenheit Angst ausstrahlte. Sie hatte gespürt, wie der Atem in Stößen aus den Nüstern des Hirsches getreten war, als er an ihr vorbei gen Lichtung gesprungen war. Der Moment, in dem die Männerstimmen zu hören waren, reichte daher aus, um Marys faszinierte Trance zu durchbrechen. Die Magierin blickte noch einmal zurück, um zu sehen, wohin Del - zweifelsohne handelte es sich hierbei um das Götterwesen des Waldes! - floh, dann blickte sie zu Esmée. Sie würde nichts Gravierendes tun, bevor die Ranghöhere ihr keinen Befehl gegeben hatte, doch ganz tatenlos dastehen wollte Mary auch nicht, immerhin handelte es sich hier womöglich um eine Verfolgungsjagd. Die Männer, die dem Hirsch auf der Spur waren, würden sich vermutlich nicht zu einem Kaffeekränzchen und einem netten Plausch überreden lassen, denn bei ihnen schien dem Klang nach eher Eile angesagt zu sein. Mary positionierte sich also in etwa dort, wo der Hirsch aus dem Unterholz gekommen war, in der Annahme, dass die Männer den Spuren und Geräuschen folgten. Das Mädchen baute sich dort zu ihrer nicht gerade beeindruckenden Größe auf. Sie war dadurch zwar vermutlich eher ein Stolperstein als eine Blockade, doch das interessierte sie in diesem Moment nicht - sie wollte den Gott des Waldes beschützen! Dies war ihr erster Auftrag, ihre erste Quest, und davon ab ging es um das Gleichgewicht der Natur. Diese Wilderer würden zur Rede gestellt werden und wenn sie sich uneinsichtig zeigten, von diesem Ort vertrieben, so wahr sie hier stand!
Das Geraschel im Unterholz wurde lauter und schon bald erklangen die Stimmen aus deutlicher Nähe. Die Männer schienen sich gegenseitig anzuspornen, klangen jedoch mittlerweile etwas außer Atem. Ob sie schon eine längere Zeit hinter Del her waren? Womöglich handelte es sich hier um die letzten Etappen einer Hetzjagd? Wie grausam ... Mary hob die Hände an, bis ihre Handflächen in vertikaler Position auf den Wald zeigten. Die Augen zusammengekniffen, konzentrierte sich die Baumgardner auf das Mana, das in ihrem Körper ruhte und spürte, wie die warme Kraft ihrer Lichtmagie sich von ihrer Brust gen ihren Händen ausbreitete. Noch war das kein Zauber, aber die Vorbereitung darauf. Das konnte nun in mehrere Richtungen gehen. Je nachdem, wie sich ihre Kameradin entschied diese Angelegenheit zu händeln, würde sie entweder für besseres Licht oder für eine Überraschung für diese Wilderer sorgen ... Also, welchen Befehl würde die Prinzessin der Bäuerin geben?
Del ließ sich auf seiner waghalsigen Flucht durch den Wald auch nicht von zwei halbstarken Magierinnen aufhalten. Kurzzeitig befürchtete Esmée, von dem majestätischen Wesen einfach niedergetrampelt zu werden (was sicherlich ziemlich schmerzhaft gewesen wäre) aber im letzten Augenblick machte das Tier zum Glück doch noch einen Satz nach links. Nur knapp preschten die Hufe an Mary und der de Bosco vorbei und auch die zerzausten, dunklen Strähnen der Prinzessin flatterten durch die Luft, was eine Kostprobe der schieren Kraft war, die der gigantische Hirsch aufbrachte. So schnell, wie Del erschienen war, verschwand er auch schon wieder. Zurück blieben die zwei jungen Frauen, die nun wortwörtlich zwischen mehreren Wilderern auf der einen Seite und ihrem ausgemachten Ziel auf der anderen Seite standen. Wieder war es ein Schuss, der irgendwo aus dem Dickicht ertönte, genauso wie das wütende Gebrüll der Fremden, die sich gegenseitig anstachelten, an der Verfolgung des Hirsches festzuhalten. Esmée und Mary mussten diese Männer aufhalten. „Unternimm nichts, bis ich nicht das Signal dazu gebe“, sprach die Prinzessin zu ihrer Kollegin, die bereits die Hände erhoben hatte, eindeutig in Vorbereitung für einen Zauber. Es war gut, dass Mary sich bereit machte – aber zuerst mussten sie das Gespräch suchen. Die Explosionsmagierin wollte nach den vielen Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht hatte, Gewalt nur als letztes Mittel verwenden. Bisher hoffte sie noch, an die Vernunft dieser Wilderer appellieren zu können und um das zu erreichen, mussten sie den Fremden zuerst einmal klarmachen, dass neben dem Hirsch auch andere Menschen im Wald anwesend waren – nicht, dass sie gleich nochmal ins Nirgendwo schossen und dabei versehentlich Esmée oder Mary trafen. Die Prinzessin holte daher tief Luft und rief mit nachdrücklicher Autorität in der Stimme: „Hört sofort auf damit!“
Und tatsächlich – der Ruf schien seine Wirkung zu entfalten. Dort, wo eben noch mehrere Männerstimmen wild durcheinander gebrabbelt hatten, folgte nun eine Totenstille. Auch keine weiteren Schüsse wurden mehr abgesetzt, sodass es höchstens das Zwitschern von Vögeln war, das man aus den Baumkronen heraus vernehmen konnte. Da auch in den darauffolgenden Sekunden keine Geräusche erklangen, fragte sich Esmée schon fast, ob der Ruf alleine bereits ausgereicht hatte, um die Wilderer zum Umkehren zu bewegen. Das… wäre doch etwas zu einfach gewesen, oder? Just in dem Augenblick, als die de Bosco ihrer Kollegin einen entsprechend skeptischen Blick zuwerfen wollte, kam doch nochmal Bewegung in die Sache. “Was wollt ihr hier, heh?!“, blaffte eine dunkle Stimme den Magierinnen aus dem Dickicht entgegen, ehe es drei Männergestalten waren, die sich durch das Gestrüpp kämpften. Es waren ältere Herren, die sich hinsichtlich Alter, Größe und den eher verhärmten Gesichtsausdrücken kaum unterschieden. Aber ein gemeinsames Merkmal fiel Esmée besonders auf: Der Filzhut mit der hölzernen Brosche. Das mussten die Männer sein, von denen Edgar Brady gesprochen hatte. Es waren die Wilderer. „Wir sind Magierinnen. Und wir sind hier, um euch aufzuhalten. Ihr müsst die Jagd nach dem Hirsch sofort beenden.“ Die Männer blinzelten verwundert, musterten sowohl Mary als auch Esmée argwöhnisch und warfen sich dann gegenseitig Blicke zu. Vermutlich sahen sie nur zwei junge Frauen, die eine sah aus, als hätte sie sich im Wald verlaufen, die andere, als würde sie selbst aus dem Bauerndorf stammen. Zwei wenig imposante Gestalten, alles in allem. Die drei Wilderer kamen offensichtlich zu dem Schluss, dass sie keine Angst vor diesen Mädchen haben mussten. Es war wieder der vorderste Mann, der das Sprechen übernahm: “Ich weiß nicht, was euch geritten hat, hier aufzukreuzen, aber ich sage es euch nur ein einziges Mal: Geht uns sofort aus dem Weg. Wir haben gerade wichtigere Dinge zu tun, als eure albernen Spielchen zu spielen.“ Der Mann nickte seinen beiden Kumpanen zu und sie wollten an der Explosionsmagierin vorbeitreten – doch diese machte einen Schritt zur Seite und stellte sich den Männern erneut in den Weg. Esmée ließ sich nicht beirren. „Auch ich sage es nur noch ein einziges Mal: Lasst von der Jagd nach dem Hirsch ab. Das, was ihr hier macht, ist ein Verbrechen. Wir sind Magierinnen der Gilde Satyrs Cornucopia und werden nicht zulassen, dass ihr auf Fiores Boden gegen geltendes Recht verstößt. Also kehrt auf der Stelle um.“ Der Mann schien wahrlich verblüfft über die Ansage, doch dann schnaubte er und knurrte: “Aha? Und wenn nicht, was dann? Leif, hilf mir mal.“ Einer der anderen Wilderer machte einen Satz nach vorne und gemeinsam traten sie auf Esmée zu, in dem Versuch, sie zu packen. Die Augen der Prinzessin verengten sich – na schön, wenn sie ihnen nicht glauben wollten, dass sie Magier waren, dann mussten sie eben fühlen. „Mary, jetzt!“ Wäre es vielleicht schlauer gewesen, vorher darüber zu sprechen, was für einen Zauber Mary überhaupt vorbereitet hatte? Ein Gedanke, der Esmée leider zu spät kam. Sie hoffte inständig, dass die Baumgardner etwas passendes parat hatte…
So schnell konnte die Stimmung umschlagen. Gerade noch hatten die beiden jungen Magierinnen die Idylle der Lichtung bewundert und nun lagen nicht nur Sonnenstrahlen und tanzende Blätter, sondern auch eine beinahe greifbare Anspannung in der Luft. Mary wurde, wie sie da so stand, die Hände erhoben und bereit, die ihr innewohnende Magie jeden Moment freizulassen, bewusst, dass sie womöglich zum ersten Mal in ihrem Leben in ernsthafter Gefahr schwebte. Bisher hatte es das (zugegeben eher kurze) Leben der Baumgardner recht gut mit ihr gemeint - andere hatten in ihrem Alter schon alle möglichen Torturen überstanden, doch das Gefährlichste, was Mary bisher begegnet war, das waren vermutlich übel gelaunte Bauernhoftiere. Sicher waren auch einige gefährliche Magier bei den Gästen im Wirtshaus ihrer Eltern dabei gewesen, doch diese hatten es eher weniger auf die schüchterne und freundliche Tochter der Person abgesehen gehabt, die ihnen die Verpflegung servierte. Bis zu diesem Moment hatte Mary nicht einschätzen können, wie sie auf eine Gefahr reagieren würde, doch mit einem Mal änderte sich dies.
Die Geräusche von Schüssen kamen Mary unwirklich laut vor, so als habe man sie direkt neben ihren Ohren abgefeuert. Esmées kräftige, befehlsgewohnte Stimme schnitt jedoch durch das Chaos, das Geraschel der Blätter und die Kakophonie der Verfolgungsjagd wie ein heißes Messer durch Butter. Für einen Augenblick kam es Mary so vor, als gäbe es in ihrer Welt nichts Anderes als diese Stimme. Die Stille, die darauf folgte mochte auch daher rühren, dass der Baumgardner beinahe das Herz stehen blieb. Sie hatte keine Angst - diesen Umstand bemerkte sie fast mit nüchterner Distanz zu sich selbst - sie war angespannt. Jeder Muskel ihres Körpers war bereit zu tun, was nötig war. Obwohl es in diesem Wald warm war, so warm, dass ihr der Pullover um die Hüften baumelte und ihr die Haare verschwitzt am Nacken und den Wangen klebten, spürte sie fast so etwas wie einen kühlen Windhauch - nur kam der nicht von außen, sondern von innen.
Esmée trat den vorlauten, frechen und für Mary als widerlich gebrandmarkten Wilderern mutig in den Weg. Sie missachteten die Befehle und Warnungen, die sie ihnen gaben und versuchten, ihre Partnerin zu packen. Vielleicht würden sie versuchen, Esmée zu überwältigen oder zu fesseln, vielleicht würden sie diese in die Büsche schubsen - aber vielleicht, und dieser Gedanke sorgte dafür, dass Mary das Gefühl hatte, dass ihr Blut zu brodeln begann, vielleicht würden sie ihr wehtun. Esmée war ihre Begleiterin, ihre Freundin und ihre Questleiterin. Vor allem jedoch war sie eine Person, die nett zu der Baumgardner gewesen war, die ihr vertraut hatte und die dieses Vertrauen auch jetzt bewies, indem sie ihr ein Zeichen gab. Sie war diesen Waldschraten in den Weg getreten, weil sie wusste, dass sie nicht alleine war. Mary wurde in dem winzigen Moment, den sie brauchte, um zu handeln klar, dass sie unter anderen Umständen vielleicht eingefroren wäre. Dass sie Panik bekommen hätte, vielleicht sogar weggelaufen wäre. Menschen behaupteten gerne von sich, dass sie treu waren, doch oft reichte diese Treue nur so weit, bis sie selbst in Gefahr schwebten. Manche nannten das feige, doch Mary konnte solchen Personen keinen wirklichen Vorwurf machen, immerhin wollte niemand Schmerzen haben oder gar sterben. Esmée wusste vermutlich nicht, was sie getan hatte, doch die Explosionsmagierin hatte Mary gerade entscheidend geprägt. Sie hatte sich auf eine quasi Wildfremde verlassen und ihr damit viel mehr gezeigt, als es eine ausgestreckte Hand, ein aufmunterndes Lächeln oder ein Befehl hätte tun können, den die Baumgardner nur stumm folgen hätte müssen.
Der Hut eines der Wilderer flog durch die Luft. Das metallische Abzeichen darauf reflektierte für einen kurzen Moment Licht, das es in diesem Wald eigentlich nicht gab, wo über ihnen doch ein dichtes Blätterdach ruhte. Ein gleißender Lichtstrahl war aus zwei Fingern von Marys Hand hervorgebrochen und hatte nur für einige Wimpernschläge in der Luft gehangen, gerade genug, dass sich die Wilderer kurz über die Augen fahren mussten, weil ihnen aufgrund der leicht blendenden Eigenschaft der Lichtmagie Lichteffekte vor den Augen tanzten. Der Hut landete lautlos im Gebüsch, das Einschussloch, das der Strahl hindurchgebrannt hatte, rauchte noch leicht. Der Mann hob irritiert eine Hand an seinen Kopf, wo die Haare ebenso qualmten und ließ damit von Esmée ab. Mary wartete nicht, bis der Überraschungsmoment verstrichen war. Sie hatte die Augen geschlossen, um von ihrem eigenem Licht nicht geblendet zu werden und war bereits losgerannt. Das Landei war klein, doch das platzierte ihre Schulter in etwa auf Brusthöhe der anderen Person, die Esmée bedrängen wollte. Ein dumpfes Geräusch des Wilderers verriet Mary, dass der Aufprall ein Erfolg gewesen war. Noch während Schmerz in ihrer Schulter erblühte, ballte sie die rechte Hand zur Faust und schmetterte dem Gerammten das Fäustchen in die Wange, so dass dieser zurück stolperte und sich einen Moment neu orientieren musste. Unermessliche Stärke besaß Mary nicht, aber dort, wo ihre Faust eingeschlagen hatte, erblühte bereits eine rote Stelle und eine leichte Schwellung. Direkt neben Esmée stehend, hob Mary zwei Finger je einer Hand und visierte damit unterschiedliche Wilderer an. "Das nächste Mal gibt es keinen Warnschuss."
Der Körper von Esmée war bis in den letzten Muskel angespannt, während sie darauf wartete, was geschah. Ja, sie wollte sich auf Mary verlassen. Ja, sie traute der jungen Frau auch durchaus zu, diese Situation zu meistern. Aber verdammt – es wäre trotzdem tausend Mal sinnvoller gewesen, sich vorher darüber auszutauschen, wie genau sie den Wilderern eigentlich gegenübertreten wollten. Und was genau Mary für einen Zauber einsetzen wollte, um die Gegner bei einem Angriff aufzuhalten. Hatte die Baumgardner nicht mehrfach betont, dass das hier ihre aller erste Quest war? Dass es ihr an Erfahrung mangelte und sie deshalb auf die Anleitung der Prinzessin angewiesen war? Die de Bosco schluckte und konzentrierte sich darauf, sich die Unsicherheit nicht nach außen hin anmerken zu lassen. Die Hände der beiden Wilderer kamen näher, bewegten sich für die hellblauen Augen der Questleiterin wie in Zeitlupe, darauf aus, sie zu packen.
Und dann erstrahlte ein Blitz.
Zumindest war es das, was Esmée im ersten Moment dachte. Tatsächlich war es allerdings kein Blitz, sondern vielmehr ein Lichtstrahl, der durch die Luft schoss und den im Halbschatten liegenden Waldboden kurzzeitig erhellte. Obwohl die Satyrs Magierin gewusst hatte, welche Magieart Mary beherrschte, hatte sie mit der intensiven Helligkeit doch nicht gerechnet. Genauso wie die Wilderer hatte auch die 19-Jährige ihre Augen schließen müssen und kämpfte auch Sekunden nach dem Konter noch mit Lichtpunkten, die ihr Sichtfeld merklich einschränkten. Aber die wichtigsten Dinge bemerkte das dunkelhaarige Model dennoch: Der Hut des Wilderers, der durch die Luft flog und am Ende – ein qualmendes Einschussloch reicher – auf dem Laubboden landete. Und auch Mary selbst, die sich geschwind vor Esmée drängte und dem übriggebliebenen Wilderer – Leif, wie Esmée mittlerweile wusste – die zierliche Faust todesmutig ins Gesicht rammte. Okay, mit der ersten Aktion hätte die Prinzessin rechnen können. Aber dass die Baumgardner spontan zum Boxkampf gegen einen mindestens zweimal so großen und dreimal so breiten Mann ansetzte? Nein, das machte die Prinzessin dann doch sprachlos.
Zumindest kurzzeitig.
Denn nicht nur Esmée war überwältig von der Kampfkraft des Landeis, sondern auch die drei Wilderer. Es war ein Moment, den die Magierinnen für sich nutzen mussten, wenn sie das hier einigermaßen reibungslos über die Bühne bringen wollten. So sortierte die Explosionsmagierin geschwind ihre wild umhertanzenden Gedanken und öffnete den Mund. „Ihr habt meine Mitstreiterin gehört“, bekräftigte die junge Frau die Worte von Mary und sah jeden der Wilderer mit streng zusammengezogenen Augenbrauen an, bemüht darum, so auszusehen, als wäre sie nicht mindestens genauso überrumpelt von den Aktionen wie die Wilderer selbst. Sie hob belehrend den Zeigefinger an, ehe sie entschieden fortfuhr: „Wir haben euch mündlich darüber in Kenntnis gesetzt, dass wir Magierinnen sind, die den Auftrag haben, eure Jagd aufzuhalten. Wir haben einen Warnschuss abgesetzt, damit ihr seht, welche Fähigkeiten wir besitzen.“ Das hier war nicht mehr als Improvisation, aber summa summarum war Esmée ganz zufrieden mit den Worten, die sie in der Eile zusammenklaubte. „Solltet ihr weiterhin Widerstand leisten, ist es uns erlaubt, unsere Angriffe direkt auf euch zu richten.“ War das so? Um ehrlich zu sein war die Prinzessin sich nicht sicher, aber es klang plausibel. Irgendwie. Natürlich hoffte die junge Frau, dass es dazu nicht kommen würde, aber die stillen Sekunden, die nach ihren Worten folgten, machte klar, dass die Wilderer zumindest nicht sofort nachlassen wollten. Sie grübelten, wechselten mehrfach Blicke miteinander. „Verdammte scheiße…“ Es war Leif, der zwar fluchte und sich über die geschwollene Wange rieb, aber tatsächlich einen Schritt nach hinten trat. Etwas, das Esmée als Zeichen der Kapitulation verstand. Und auch der Mann, dessen Filzhut von Mary durchgeschossen worden war, schnalzte missbilligend mit der Zunge, verstand jetzt aber, dass sie im Nachteil waren – auch er trat nach hinten. Das … das war es gewesen? Die Wilderer würden umkehren und von ihrer Jagd ablassen? Sollte es nach dieser nervenaufreibenden Suche wirklich so einfach sein?
“Als würde ich mir von zwei Gören die Trophäe meines Lebens versauen lassen!“
Es ging schnell – zu schnell. Es war der dritte – bisher unbeteiligte – Wilderer, der keifte und zu Esmées Entsetzen tatsächlich seine Waffe anhob. Moment. Hatte dieser Typ vollkommen den Verstand verloren? Immerhin: Die anderen beiden Wilderer schienen diesen Gedankengang mit der de Bosco zu teilen, denn es war wieder Leif, der ansetzte: „Ey! Was tust du…“ Aber Leif wurde noch vor Beendigung seines Satzes unterbrochen: „Ihr lasst euch von zwei verdammten Kindern einschüchtern! Aber nicht mit mir, nicht jetzt, nicht hier…“ Kein normaler Mensch hätte mit seiner Waffe auf einen Menschen geschossen, insbesondere nicht nach dem, was eben geschehen war. Aber dieser Mann, dieser Glanz, der in seine Augen trat… Esmée war sich nicht mehr sicher, ob dieser Mann ein normaler Mensch war. Oder jemand, dem man das Führen einer Waffe schon lange hätte verbieten müssen. Unglaublich schnell wandte er die Öffnung des Gewehrs in Marys Richtung, was eine Adrenalin-Explosion im Körper der Prinzessin auslöste. Was dann geschah, nahm die 19-Jährige nur beiläufig wahr: Ihr dunkles Haar veränderte sich, nahm einen goldblonden Farbton an – genau so wie damals bei ihrer gemeinsamen Quest mit Flux. Aber dieses Mal blieb es nicht nur bei der veränderten Haarfarbe, hinzu kam eine strahlend weiße Robe, die magisch erschien und sich sanft über die Schultern der jungen Frau legte. Esmée spürte eine Wärme, tief aus ihrem Inneren strömen und die Stimme, mit der sie sprach, besaß einen fremden, etwas dunkleren Unterton: „Hör sofort auf!“ Ein Befehl, der keine Widerworte duldete. Doch der Mann ließ sich nicht beirren, der Zeigefinger zuckte…
Rumms.
Es war kein Schuss, der ertönte, sondern das lautstarke Meckern eines Ziegenbockes, der wie ein geölter Blitz aus dem Dickicht des Waldes sprang und dem verrückten Wilderer die Hörner voraus in die Seite stieß. Der Mann ließ seine Waffe fallen, ächzte und man hörte das schmerzvolle Knacken von Knochen, ehe sein Körper durch die Luft segelte und in irgendeinem der nahenden Gebüsche wieder zu Boden prallte. Die Ziege verschwand – das weiße Gewand sowie die hellblonden Haarsträhnen der de Bosco hingegen blieben. Wo war dieses Tier hergekommen? Und… wohin war es verschwunden? Esmée spürte eine Verbindung und war sich sicher, dass das wirklich etwas mit ihr zu tun haben musste. Aber was genau sie eigentlich getan hatte, das wusste die Prinzessin nicht. „Fuck…“, fluchte Leif, nahm seine Waffe und warf sie als Zeichen der Kapitulation zu Boden. Sein Kumpel tat es ihm gleich – vermutlich wollten sie verhindern, dass sie entweder von einem Lichtstrahl durchlöchert oder von einem Ziegenbock die Rippen gebrochen bekamen. Die Explosionsmagierin schluckte, ignorierte ihre goldenen Haarsträhnen und sah stattdessen zu Mary, darum bemüht, selbstsicher zu klingen: „Hilf mir, ihnen die Hände zu verbinden. Und dann bringen wir sie ins Dorf. Er dort…“ Sie nickte in die Richtung des Mannes, der vom Ziegenbock getroffen worden war und immer noch ächzend im Gebüsch lag. „… braucht medizinische Versorgung.“
Huntress in the Mountains: Dali Soul TYP: Elementlose Magie ELEMENT: --- KLASSE: III ART: Fernkampf MANAVERBRAUCH: 125 pro 5 Minuten MAX. REICHWEITE: Selbst | Effekt bis zu 30 Meter SPEZIELLES: Full-Body Take Over VORAUSSETZUNGEN: Manaregeneration Level 6,Willenskraft Level 5, Glistening Locks: Dali Soul BESCHREIBUNG: Bei diesem Zauber wächst das Haar des Anwenders zu einem sehr langen, goldblonden Schopf an, der in der Sonne wunderschön glänzt. Außerdem wird der Körper in eine glatte, strahlend weiße Robe gehüllt und macht allgemein einen etwas zarteren und traditionell hübscheren Eindruck. Wie die Göttin Dali kann der Anwender nun Verbote für Jäger aussprechen, kann also anderen Menschen verbieten, bestimmte Lebewesen anzugreifen. In dem Moment, in dem eine andere Person als der Anwender gegen ein verbotenes Ziel einen Angriff starten will, erscheint der Geist einer Bergziege und rennt auf ihn zu mit der Absicht, ihn mit ihren Hörnern zu rammen. Die Ziege löst sich erst auf, wenn ihr Ziel getroffen wurde oder die Reichweite verlässt, und jagt ihn bis zu diesem Zeitpunkt mit einer Stärke und Schnelligkeit entsprechend der Willenskraft des Anwenders mit einem Maximum von Level 8. Jede Person, die das Verbot bricht, erhält ihre eigene Ziege. Ausgesprochene Verbote wirken nur auf Personen in der Reichweite des Magiers und erlöschen mit Auflösung des Zaubers.
Die kühle Entschlossenheit, die von Mary Besitz ergriffen hatte - wenn auch weniger verwunderlich wie der Take Over von ihrer Begleitung - hielt auch dann noch an, als die Männer sich neu sammelten und Esmée ihnen erklärte, dass sie hier im Nachteil waren. Die Baumgardner war eine ehrliche Person; sie wusste, dass die Prinzessin bluffte. Gewiss hatte Mary soeben bewiesen, dass sie kein kleines Gänseblümchen war, das man einfach so pflücken konnte, doch es war noch immer ihre erste Quest und sie hatte für ihren Mut durchaus bezahlen müssen. Selbst den Manaverlust durch so einen geringen Zauber wie den Light Beam spürte sie als Zwicken der Erschöpfung, und darüber hinaus pochte ihre Schulter mindestens so unangenehm wie ihre Fingerknöchel. Sie hatte noch nicht zu ihnen hinabgeschaut, da sie krampfhaft Blickkontakt zu ihren Gegnern hielt, doch das Brennen der frischen Luft und das unangenehme Ziehen beim Bewegen der Finger ließ darauf schließen, dass die Haut dort aufgebrochen war. Das Gesicht des Landeis ließ sich jedoch keinen Schmerz anmerken - jedes noch so kleine Anzeichen von Schwäche musste eliminiert werden. Ihre einzige Chance, gegen bewaffnete Gegner zu bestehen war es, ihnen zu verklickern, dass es eine ganz blöde Idee war, sie herauszufordern. Kurz: Ihr Bluff musste sitzen. Und dafür musste Mary die Augenbrauen zusammenziehen, sich stolz aufrichten und vergessen, dass sie vor Antritt dieser Quest noch nie etwas Gefährlicheres als das Auskratzen von Pferdehufen getan hatte. Vielleicht war sie keine Musikerin, kein Model und keine Künstlerin, aber wie viele in Satyrs Cornucopia verstand es die Baumgardner in diesem Moment, was es hieß, auf einer Bühne zu stehen und eine Rolle zu spielen. Die der Heldin, der Beschützerin des Waldes und vor allem die der treuen Kameradin, die nicht zulassen würde, dass Esmée zu Schaden kam.
Und dann schaute Mary plötzlich in den Lauf einer Waffe. Von einem Moment auf den anderen verwandelte sich die kühle Ruhe in ihrem Blut zu stechendem Eis. Ihre Gliedmaßen fühlten sich an, als wären sie zu Stein erstarrt und ihre Brust bekam eine Schwere, die ihr den Atem aus den Lungen quetschte. Die goldenen Augen wurden groß, weit aufgerissen, der Mund hing schlaff geöffnet, als wollte sie etwas sagen, obwohl die Zunge ihr am Gaumen klebte. Einen schrecklichen Moment lang war sich Mary absolut sicher, dass sie sterben würde. So sicher, dass sie keinen Blick auf Esmée und deren Transformation werfen konnte, nicht einmal mitbekam, dass die Kameraden des Schützen dessen Aktion ebenfalls verurteilten. Dann war da plötzlich ein Wesen. Zuerst dachte Mary, dass sich vielleicht der Hirsch entschieden hätte, sie zu retten, doch statt des majestätischen Wesens erschien eine Bergziege und rammte denjenigen zur Seite, der die Baumgardner mit Tötungsabsicht anvisierte. Es knackte unangenehm, doch Mary hatte keine Augen dafür, denn in dem Moment, wo der Lauf von ihr genommen wurde, sank sie auf die Knie und brach in Tränen aus.
Leise wimmernd liefen ihr die Tränen von den Wangen, die Lippen aufeinandergepresst und die Augen riesengroß. Die Umgebung kam ihr vor, als wäre sie aus weiter Ferne, wie durch eine undurchdringliche Mauer an Wackelpudding wahrgenommen. Dumpf bekam sie mit, dass sie einen Auftrag erhalten hatte, doch das Adrenalin verließ den Körper der Baumgardner mit einem Mal. Es war ihr egal, dass sie hier ihren bedrohlichen Eindruck gegenüber den Wilderern revidierte, und es war ihr auch egal, dass sie sich zu einem Moment der Schwäche hinreißen ließ. Die Schultern zuckten, das Mädchen zitterte wie Espenlaub und spätestens jetzt mochte man erkennen, dass sie keine erwachsene Gildenkämpferin war, sondern eine Jugendliche. Jemand, der beinahe erschossen worden wäre. Bibbernd blickte Mary auf die Wunden an ihren Fingerknöcheln, das Blut daran, das ihr grotesk von der sonnengebräunten Haut hervorzustechen schien. Nur langsam hob sie den Blick gen Esmée. Tränenschweres Gold betrachtete sie, deren Haare nun dieselbe Farbe wie die Augen des Landeis besaßen und deren Körper in Weiß gehüllt war. Ihre Mutter hatte Mary manchmal von solchen Wesen erzählt, als sie nicht schlafen konnte; Engel und Götter, die über Sterbliche wachten und ihnen Schutz versprachen. Von ihrer Position auf dem Boden des Waldes kam ihr Esmée überlebensgroß vor, wie eine Wesenheit aus einer anderen Welt. Vielleicht hätte Mary, die durchaus viel über Magie gelesen hatte, verstanden, dass das hier einfach nur ein Take Over war, wenn sie ihre Sinne beisammen gehabt hätte, doch die Nahtoderfahrung hatte sie noch relativ fest im Griff. So fest, dass sie einen langen Augenblick nichts Anderes tun konnte, als Esmée anzustarren. Zum Glück waren die Wilderer in einer ähnlichen Schockstarre gefangen, sonst hätten sie diese Gelegenheit vielleicht genutzt, um abzuhauen. Mary hätte nicht einmal weglaufen können, wenn sie es gewollt hätte: Ihre Knie bestanden aus demselben Wackelpudding, der den Befehl von eben nur dumpf an sie herangetragen hatte. Dennoch schöpfte die Baumgardner Kraft aus dem Anblick von Esmée, aus den auf dem Boden liegenden Waffen und ihrem Sieg. Noch immer wurde Marys Atmen von leisen, hicksenden Schluchzern unterbrochen, doch sie stemmte sich mit ernstem Gesichtsausdruck nach oben und stiefelte auf die Wilderer zu, noch während sie Stoffbahnen aus ihrem Rucksack holte. Die waren zwar eigentlich zum Verbinden von Wunden gedacht, doch wenn man sie fest genug zurrte, eigneten sie sich auch hervorragend als Fesseln. Während dieser ganzen Aktion hatte Mary kein Wort gesagt - die ehemaligen Schützen sprachen ebenso wenig, bis Leif beim Gefesselt werden ein "Was zum Teufel bist du?" gen Esmée rausrutschte. Der Blick der Lichtmagierin, der seinen Worten folgte ließ darauf schließen, dass sich Mary eine ähnliche Frage stellte - wenn auch mit eher dankbarem als verängstigtem Unterton.
Esmée war blind auf das Schauspiel hereingefallen. Genauso wie die ahnungslosen Wilderer hatte sie sich von der Baumgardner an der Nase herumführen lassen, hatte inmitten des Gefechts vergessen, dass die Blonde noch ein junges Mädchen war, das erst vor kurzem der Gilde Satyrs Cornucopia beigetreten war. Mary hatte ihr bisheriges Leben irgendwo auf dem Land verbracht hatte, umgeben von Familie und Freunden, beschützt und vermutlich behütet. Sie war vermutlich betraut gewesen mit Aufgaben, die man eben als Bauer zu erfüllen hatte. Die Gefahr, in der sich die Lichtmagierin bis eben befunden hatte, just in dem Augenblick, als der Wilderer mit seiner Waffe direkt auf sie gezielt hatte, war vermutlich eine Erfahrung, die das Landei noch nie in solch einer Intensität hatte aushalten müssen.
Und so war es verständlich, dass die Lichtmagierin schluchzend in sich zusammenbrach und einen Moment brauchte, um die Angst in Form von Tränen loszuwerden.
Esmées Mund öffnete sich einen Spalt breit, sprachlos. Nicht falsch verstehen: Die Dunkelhaarige war nicht sprachlos, weil die Kollegin sich nicht zusammenriss, sondern vielmehr sprachlos über ihre eigene Naivität. Wie hatte Esmée entgehen können, dass Mary solch eine Angst hatte? Wie hatte die Prinzessin – anstatt helfend die Arme auszubreiten – der Jüngeren auch noch direkt einen Befehl auftragen können, als wäre überhaupt keine große Sache geschehen? Die Antwort war, wenn man zwei Sekunden länger darüber nachdachte, naheliegend: Weil die 19-Jährige es selbst nicht anders kannte. Man hatte ihr im Königspalast von Bosco ausgetrieben, sich ihre Gefühle – allem voran ihre Ängste – in der Öffentlichkeit anmerken zu lassen. Esmée hatte vor den Augen anderer Menschen zu funktionieren und Tränen durfte sie höchstens vergießen, wenn niemand sonst es sah. Und da die junge Frau im Umfeld ihrer eigenen Familie und offiziell trainierter Wachen großgeworden war, hatten auch die Menschen, mit denen sich die Prinzessin umgab, genauso oder zumindest ähnlich getickt wie sie. Selbst wenn man Angst gehabt hatte – man hatte weiterhin funktioniert. So wie damals, als der Palast angegriffen worden war und Esmée gemeinsam mit Erial aus Bosco hatte fliehen müssen. Bis heute hatte die Prinzessin alle damit zusammenhängenden Gefühlsregungen irgendwo tief in sich selbst vergraben, sodass ein Ausbrechen in Tränen vollkommen undenkbar gewesen wäre. Mary erinnerte Esmée in diesem Augenblick daran, dass es auch anders ging. Dass nicht jeder Mensch so erzogen wurde wie die Angehörige der Königsfamilie. Und ehrlich gesagt beneidete Esmée die Baumgardner auch ein wenig darum, dass sie ihre Angst einfach so zeigen konnte. Es war mit Sicherheit der gesündere Umgang mit den eigenen Gefühlen. Auch wenn die Jüngere sich nach wenigen Minuten schon wieder zusammennahm und der Aufforderung, die sie erhalten hatte, nachkam: Esmée wollte das nicht einfach unkommentiert lassen. „Mary, danke für deinen Mut“, waren die ersten Worte, die die Prinzessin aussprach, kaum dass sie bei der Blonden angekommen war und ihr half, die Wilderer zu fesseln. Dann stockte die 19-Jährige, wurde sich bewusst darüber, dass sie die Ältere und auch die erfahrenere Magierin war. Und deshalb sprach die Dunkelhaarige das aus, was ihrer Meinung nach das Mindeste war, das sie Mary schuldig war: „Und… entschuldige, dass ich dich in so eine Gefahr gebracht habe.“ Esmée sah wirklich zerknirscht aus, als sie diese Worte aussprach – ein Ausdruck, den sie allerdings geschwind ablegte, als Leif sie von der Seite her ansprach.
Was zum Teufel sie war?
Auch das hatte die De Bosco schon fast wieder vergessen, doch ein Blick auf ihre Schulter verriet ihr, dass die Haarsträhnen immer noch lang und blond waren, dass sie immer noch die weiße Robe trug, die ihr doch eigentlich gar nicht gehörte. Ja… was genau war Esmée? Mit ihrer Explosionsmagie konnte all das hier nicht zusammenhängen. Die Satyrs Magierin wusste noch nicht so recht, was sie auf die Frage von Leif antworten sollte, was man der 19-Jährigen vermutlich auch sehr gut ansehen konnte.
Dann raschelte es in einem nahegelegenen Gebüsch. Ein weiterer Akteur betrat sie Szenerie – ein Akteur, mit dem zumindest Esmée nicht mehr gerechnet hatte: Es war Del.
Langsam trat der weiße Hirsch mit dem mächtigen Geweih näher, überquerte die Lichtung, die es von den beiden Magierinnen und den drei Wilderern trennte. Dann blieb Del stehen, die Ohren des Hirsches zuckten aufmerksam und die roten Knopfaugen fixierten sowohl Mary wie auch Esmée durchdringend. Sekunden verstrichen, ohne dass auch nur ein Ton gesagt wurde… nie im Leben war das vor ihnen ein normales Tier. Hatten die Einwohnerinnen und Einwohner von Fallrock wohlmöglich Recht? War Del wirklich eine Gottheit? „Die Göttin Dali hat Euch gesegnet.“ Eine Stimme hallte durch den Wald und zuerst verstand die Explosionsmagierin nicht, woher diese Stimme kam. Dann ging ihr auf: Sie musste von Del stammen. Der Hirsch fokussierte seinen Blick auf die Prinzessin. „Göttin Dali?“, Esmée verstand nicht, was hier geschah. Die Irritation wurde auch nicht weniger, als das Tier sein Haupt mit dem mächtigen Geweih senkte – so als wolle es sich vor Mary und auch Esmée verbeugen. „Ich danke Euch, dass Ihr mein Leben gerettet habt. Ihr, die ihr die Kraft der Göttin Dali im Herzen tragt. Und auch Euch gilt mein Dank, Lichtbringerin.“ Del erhob sich wieder und schnaubte durch die Nüstern. „Solltet Ihr je in meinen Wäldern in Gefahr geraten, seid Euch gewiss, dass ich an Eurer Seite kämpfen werde. Heute habe ich allerdings nur noch eine Bitte: Schafft sie fort von hier.“ Der Hirsch deutete auf die Wilderer und erst jetzt erkannte Esmée, dass die drei Männer die Stimme des Tieres offenbar gar nicht hörten. Es war ihrem irritierten Gesichtsausdruck allzu deutlich anzusehen. War es eine Stimme, die nur für Mary und für die Prinzessin bestimmt war? „Wir werden uns wieder begegnen“, waren die letzten Worte, die Del an die beiden Magierinnen richtete und dann sprang – über die Magierinnen und auch die drei Wilderer hinweg. Damit verschwand das Tier, verschmolz erneut mit dem Dickicht des Waldes. Und irgendwie hatte Esmée im Gefühl, dass auch ein bisschen Magie bei diesem Verschwinden im Spiel war. Apropos Magie! „W-was…“ Kaum dass der weiße Hirsch verschwunden war, löste sich auch der Zauber auf, der auf Esmée gelegen hatte. Die blonden Haarsträhnen wichen dem schwarzen Schopf, den man sonst von der 19-Jährigen kannte und die weiße Robe löste sich Faser für Faser auf, bis auch diese vollständig verschwunden war und nur die alte - teilweise durch die lange Suche im Wald eingerissenen oder dreckigen - Kleidungsstücke von Esmée übrigblieben. Nur die Wärme im Inneren der Satyrs Magierin blieb noch ein bisschen länger erhalten. Sie erinnerte sich an die Worte von Del – sie trug einen Teil der Göttin Dali in sich? Konnte das wirklich sein? Es wäre zumindest eine Erklärung... „Mary, du hast das auch mitbekommen, oder? Bitte sag mir, dass ich mir das nicht nur eingebildet habe.“ Die Prinzessin schüttelte benommen den Kopf. Das musste sie erstmal sacken lassen. „Lass uns lieber gehen.“
Gewiss hatte Mary eine behütete und fröhliche Kindheit genossen - Esmée hatte bei ihrer Einschätzung durchaus Recht. Großen Gefahren war sie nie ausgesetzt gewesen, doch der Denkfehler der Prinzessin lag darin, dass Angst der primäre Motor für Gefühle war. Hätte Mary etwas über deren Vergangenheit gewusst, dann hätte sie den Denkweg aber sofort verstanden: Wessen negative Emotionen von Angst bestimmt waren, der konnte schlecht an andere Dinge denken. Mary konnte ihre Gefühle zeigen, doch die meistens schweigsame und passive Baumgardner hatte durchaus Ahnung davon, was es hieß, ihre wahren Gefühle und Gedanken zu verbergen. Vor jemand anderen in Tränen auszubrechen wäre ihr komisch vorgekommen, wären all ihre rationalen Gedanken nicht von der Todesangst kurzgeschlossen worden, die jede Faser ihres Körpers durchdrungen hatte. Auch Mary wusste, wie es war, wenn man lächelte, obwohl man sich fühlte, als würde die Brust zersplittern. Wie man seine eigenen Sorgen herunterschluckte, damit es anderen besser ging. Und das tat sie auch jetzt, schenkte Esmée nur ein breites, aufmunterndes Lächeln, als die Ältere in der Gottestracht sich bei ihr entschuldigte - als wäre es die Prinzessin, die gerade noch heulend auf dem Boden gehockt hatte. Die Hände der Lichtmagierin schlangen Verbände um die Hände der Wilderer, die sich zum Glück nicht wehrten. Was auch immer Esmée und ihre Ziege einem ihrer Freunde angetan hatten, es war schmerzlich genug gewesen, dass sie sich nicht trauten, den Zorn der Prinzessin erneut auf sich zu ziehen. Mary fürchtete sich nicht vor ihr, jedenfalls nicht mehr nach ihren Worten, denn in diesem Körper steckte noch immer die Persönlichkeit ihrer Partnerin. Sie hatte Mary beschützt, auch wenn die Baumgardner das Gefühl beschlich, dass sie dabei keine so aktive Rolle gespielt hatte, wie es zuerst schien. Gerade steckte sie die beiden Wilderer nebeneinander, als würde sie ein paar widerborstige Farmtiere zusammentreiben, da raschelte es im Wald hinter ihnen.
Die Lichtmagerin wirbelte herum, die Augen groß und erschrocken. Die Tränen, die ihr auf die Wangen gesickert waren hatten Salzkrusten hinterlassen, die sie brechen spürte, als sich die Augen noch mehr weiteten. Dort vor ihnen stand ein majestätischer Hirsch - und er blickte sie an. Wie zuvor konnte sich Mary auch hier nicht bewegen, doch diesmal war es keine Angst, sie sie an Ort und Stelle behielt. Die Präsenz dieses Wesens durchflutete ihre Gedanken und verursachte ein warmes Gefühl in ihrem Bauch, ähnlich der angenehmen und positiven Kraft, die Lichtmagie in ihr entfaltete, wann immer sie diese wirkte. Ehrfurcht und Bewunderung fesselte sie auf diesen Waldboden. Der Hirschgott Del sprach mit ihnen. Er hatte sich Esmée offenbart, weil sie diese Wilderer besiegt hatte und bedankte sich bei ihr für sein Leben. Aus den hinteren Reihen, nahe der Festgenommenen, beobachtete Mary dieses Schauspiel und konnte nicht anders, als etwas Neid zu empfinden. Die Prinzessin war wunderschön, offenbar von irgendeiner göttlichen Macht berührt und konnte nun, ohne es zu wollen, auch noch mit Göttern sprechen. Dennoch freute sich Mary für Esmée - sie hatte diese Ehre wirklich verdient. Doch dann richteten sich die roten Augen des Hirsches unvermittelt auf sie, als hätte das Wesen ihre Gedanken gelesen. Die Schultern des Mädchens hoben sich an, als wollte sie sich ducken, doch es gab keine Rüge für ihre kurzzeitig egoistischen Gedanken, sondern Dank. Lichtbringerin. Die Jugendliche mit den trocknenden Tränen auf den Wangen, der zerschlissenen Kleidung und den aufgeplatzten Fingerknöcheln sollte eine Lichtbringerin sein? Del versprach ihnen, an ihrer Seite zu stehen, über sie zu wachen, wann immer sie seine Wälder betreten würden - und Mary konnte nicht anders, als diesem erhabenen Wesen jede Silbe zu glauben, die aus dem Unterholz in ihre Ohren flutete. Sie kam gerade noch dazu, verwirrt zu blinzeln, als der Hirsch mit einem mächtigen Sprung über sie hinwegsetzte und verschwand, begleitet von den Sonnenstrahlen, die sich durch das Blätterdach kämpften und dem Vogelgesang, von dem Mary gerade erst bemerkte, dass es still geworden war, als der König des Waldes gesprochen hatte.
Als Tochter eines Bauern war Mary mit der Natur verbunden - sie hatte viele Stunden ihres Lebens mit den Händen in der Erde verbracht, den Wolken am Himmel beim Wandern zugesehen und war durch Wälder und Wiesen gestriffen. Aber nie zuvor hatte sie so eine intensive Verbundenheit zur dieser urtümlichen Lebenskraft gespürt wie gerade. Dels Worte hatten eine helle Saat in ihre Brust gepflanzt, eine tiefe Dankbarkeit und auch das Gefühl, dass ihr hier in diesem Wald kein Leid geschehen konnte. Es war wie Wasser für einen Verdurstenden; die Angst in ihrer Brust schrumpfte zusammen und verschwand schließlich ganz. Das Wissen darum, dass sie ein Gott (und eine Göttin) beschützt hatte, brach die Dornen der schrecklichen Erinnerungen an den Gewehrlauf ab und ließ nichts zurück als Wärme. Wärme und Entschlossenheit. "Ich habe es auch gesehen und gehört.", bestätigte Mary die Verwirrung ihrer Questpartnerin und beobachtete, wie sie zu ihrer ursprünglichen Form zurückkehrte. War das ihre wahre Form? Mary wusste es nicht, aber es war egal, wie Esmée aussah - sie hatten es geschafft.
Zusammen mit der Explosionsmagierin und den Wilderern schafften sie es, den Verletzten aufzuladen und sich durch das Unterholz zu kämpfen. An einigen Stellen befürchtete Mary, dass ihre Gefangenen sich einfach aus dem Staub machen würden, doch sie waren offenbar nicht vollends herzlos: Sie machten keine Versuche, ihren verletzten Kameraden in Stich zu lassen. Jetzt, wo man nicht mehr jedes Blatt umdrehen musste, um nach dem Gott zu suchen, war der Rückweg geradliniger und würde daher auch schneller vonstatten gehen. Es dauerte dennoch eine gute Stunde, bis die beiden Magierinnen und ihre Fracht die Ausläufer von Fallrock erreichten. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont entgegen und tauchte das verschlafene Dörfchen in ein warmes Rot. Erschöpft, den Verletzten an der Schulter und einen der Wilderer am Arm haltend, schlurfte Mary zusammen mit ihrer Partnerin dem Dorf entgegen. Auf dem Weg hatten sie nicht viel gesprochen - die Wilderer versuchten sich nicht zu erklären und Mary fragte nicht nach. Was konnte es für Gründe geben, die Jagd auf einen Gott zu rechtfertigen? Gier und Habsucht, mehr nicht. Der Drang nach Ruhm. Ob es sich für sie gelohnt hatte? Die Baumgardner war nicht in der Stimmung, den Gefangenen eine Moralpredigt zu halten, denn ihre Schulter schmerzte und ihre Hand brannte wie Feuer. Rufe wurden laut, als Esmée und Mary in das Dorf einbogen und ehe sie sich versahen, hatten schon einige kräftige Männer und Frauen ihre Arme gepackt und ihnen die Last der Gefangenen abgenommen. Jubelschreie, dankbare, tränenreiche Freudenbekenntnisse und wildes Geplapper wusch an Mary heran. Sie lächelte schwach. Die Wanderung hatte ihre Kraftreserven ordentlich ausgelaugt, doch sie bekam gerade noch mit, wie Edgar Brady, der Dorfvorsteher, sich durch die Menge kämpfte und vor ihnen stehen blieb. "Ihr habt es geschafft! Ihr habt unseren Gott gerettet! Wir sahen ihn über den Wald springen!" Mary nickte sachte - mittlerweile konnte sie sich durchaus vorstellen, dass dieses geheimisvolle Götterwesen mit einem Satz ganz Fiore umspannen mochte. "Bitte, bleibt bei uns! Wir werden ein Festmahl für euch abhalten! Hoch leben unsere Retter!" Wilde Jubelrufe schwollen an, und Mary sah gerade noch, wie zwei Personen die gefesselten Wilderer in ein Haus trieben und sich eine Gruppe um den Verletzten geschart hatte. Andere begannen auf die Versprechung eines Festmahles hin in ihre Häuser zu laufen. Auf dem Dorfplatz entstand bald ein wildes Sammelsurium an Tischen und Stühlen und in der Mitte wurde ein Feuer aufgeschichtet. "Ich danke euch." Die Stimme Bradys riss Mary noch einmal aus den Gedanken, denn er legte den beiden Magiern jeweils eine Hand auf die Schulter. "Ich spüre Dels Dankbarkeit an euch. Auch die meine ist euch gewiss." Die Baumgardner nickte knapp, hob die Mundwinkel sachte an und winkte, als der Vorsteher des Dorfes sich den Vorbereitungen für das Festmahl anschloss. Mit einem Geräusch, als würde sämtliche Luft aus ihren Lungen entweichen, streckte Mary die Hand aus und legte sie sanft auf Esmées Oberarm. Als die Prinzessin ihr dadurch Aufmerksamkeit schenkte, lächelte Mary sie strahlend an. "Wir haben es geschafft!", ließ die Lichtmagierin verlauten und lachte leise. Schon von klein auf hatte Mary davon geträumt, Gutes zu tun und mit ihrer Magie den Menschen in ihrer Umgebung zu helfen. Hatte es als ihre Pflicht angesehen und diesen Weg so klar vor ihr gesehen wie noch nie etwas zuvor in ihrem Leben. Bis heute hatte sie daran gezweifelt, ob jemand Schwaches wie sie wirklich das Zeug hatte, in einer Gilde wie Satyrs Cornucopia zu bestehen.
Aber einen Gott zu retten war doch kein schlechter Anfang, oder?
Flott, aber gleichmäßig ratterte die kleine Kutsche auf ihren Zielort zu. Der Blonde, der im Wagen des Pferdegespanns hockte, war schon seit längerem weggenickt. Nichts untypisches für den eher faulen jungen Mann. Seine Energie war schließlich wertvoll und begrenzt und auf seinem Einsatz wollte er unbedingt sein Ganzes geben können. Naja, das und er hatte mal wieder die Nacht durchgemacht. Zu seiner Verteidigung, der neueste Band seines aktuellen Lieblingsmangas 'Lawnmower Woman' war am Vortag herausgekommen und er hatte womöglich ein wenig die Zeit aus den Augen verloren. Die verlorenen Schlafstunden musste er nun auf der Anreise nachholen, auch, wenn diese nicht so lang war, wie er es gerne gehabt hätte. Als die Kutsche schließlich mit einem leichten Ruck zum Stehen kam, fiel der junge Mann fast vorwärts von der Sitzbank. Seinen Hintern konnte er gerade noch so an Ort und Stelle behalten, als er unsanft aus seinem Halbschlaf gerissen wurde, doch sein Kopf klappte unangenehm weit nach vorne, sodass ihm direkt die süßen Katzenöhrchen aus den Haaren rutschten und auf den Boden fielen. Eilig sammelte er sie wieder auf und platzierte sie gerade noch rechtzeitig wieder an ihrem ursprünglichen Ort, bevor der Kutscher die Tür öffnete und ihn herausbat. Puh, Glück gehabt! Mit einem kleinen Satz hüpfte er hinaus und winkte dem alten Mann ein Weilchen hinterher, während dieser sich wieder auf den Rückweg machte. "Tschöhööö~!" Als er aus dem Sichtfeld verschwunden war, ließ Kenni schließlich die Hand wieder sinken. Eilig knöpfte er noch die letzten Zentimeter seiner Jacke zu und faltete den Kragen nach oben, sodass dieser seinen kompletten Hals verbarg. Die blauen Flecken, die er nun schon ein kleines Weilchen mit sich herum schleppte, waren immer noch nicht verschwunden, sodass er immer noch gezwungen war, sie unter dem Stoff seiner Kleidung zu verbergen. Es war nicht selten, dass er irgendwelche Schrammen und Macken hatte, aber as war etwas Anderes. Irgendwie ... schämte er sich dafür. Mh, einfach nicht daran denken. Viel wichtiger war doch eh, wie er jetzt seinen neuen Kollegen fand. Das war jedes Mal auf's neue ein Problem und er hatte noch keine verlässliche Lösung dafür gefunden. Herumirren und hoffen war bisher seine Devise gewesen und irgendwie hatte es immer geklappt - um genau zu sein hatte er es bisher einmal probiert und es hatte einmal funktioniert ... - doch irgendwann würde sein Pech ihn garantiert einholen. Das tat es immer früher oder später. Bisher hatte er sich davon aber nicht abhalten lassen und auch heute würde er das nicht. So marschierte er die kleine, schmale 'Straße' (wohl eher einen etwas breiteren Trampelpfad) entlang, die tiefer in das Dörflein führte, hielt letztendlich bei jeder der wenigen Personen, die seinen Weg kreuzten an, um zu fragen: "Sind Sie Bran?" Zu seiner Enttäuschung hieß die Antwort jedoch stets nein. Oh man, er hatte jetzt schon keinen Bock mehr. Konnte er heim? Nein, konnte er nicht, schließlich wusste der Auftraggeber bereits von seiner Ankunft. Er seufzte. Wie genau hatte sein Bruder das bloß jeden Tag auf's Neue mit vollster Motivation hinbekommen? "Uuuggghhhh", seufzte er und ließ sich auf eine kleine Bank, die am Wegesrand stand, sinken. Bah, wieso war Leben bloß so verflucht anstrengend? Er wollte echt heim, sich in sein Bett verziehen - auch, wenn es sich noch immer komisch anfühlte, darin zu liegen - und mit Mochi und Purin kuscheln. Seine Katzen vermissten ihn garantiert schon und er vermisste sie ebenfalls! Stattdessen musste er hier herumirren. Echt uncool. Wo war dieser Typ bloß? Vielleicht sollte man beginnen, nicht nur den Namen niederzuschreiben, sondern auch ein Bild oder zumindest eine Aussehensbeschreibung. Das würde alles so viel einfacher machen! Ob man da wohl Beschwerde bei der Gilde einreichen konnte? "Maaaaahn, Bran! Kannst du dich nicht einfach neben mir manifestieren oder so? Ich habe so keine Lust, dich weiter zu suchen!" Er legte den Kopf über die Rückenlehne und stöhnte genervt. So funktionierte die Welt leider nicht, aber man konnte es ja zumindest versuchen.
Dort lag der Gefiederte mal wieder mal in seinem Bett und starrte an die Decke. Wie langweilig, dachte er sich. Schon mehrere Male ging er durch seine Büchersammlung, aber er fand nichts, was er noch nicht schon zuvor las. Es war an der Zeit, dass er sich endlich neue Bücher anschaffte, dies ging einfach so nicht weiter. Zu oft las er immer dasselbe, es hing ihm schon zu den Ohren heraus. Mit einer leichten Drehung nach rechts, sah seine Geldbörse auf dem Nachtkästchen. Mit wenig Elan streckte er seine Hand nach der Geldbörse und griff nach ihr, blieb aber in dieser Pose auf dem Bett. Denn er wusste genau, was sich darin befand, nämlich gar nichts, wieder einmal fehlte ihm das Geld, damit er sich weitere Bücher kaufte. Dabei war sein Wissensdurst so hoch, er seufzte aus Frustration und zog sich die Decke über sein Gesicht. Der Tag brach schon lange an und die Sonnenstrahlen schienen durch das Fenster in sein Zimmer. „Wie ätzend“, murmelte er vor sich hin. Manchmal wünschte er sich sein altes Leben zurück, wie er einfach den ganzen Tag im Zimmer saß und sich von einem Buch ins andere wälzte. Doch dann kamen seine Erinnerungen von der schicksalhaften Nacht hoch, die in so sehr prägte und er kehrte wieder zur Realität zurück.
Na ja, es blieb also dem Aviane nichts anderes übrig und er stand endlich aus seinem Bett auf, lief zu seinem Fenster und öffnete dieses, nahm einen tiefen Atemzug und machte sich für den Tag zurecht. Er zog sich seinen langen Mantel über und richtete seine Federn am Hals so, sodass man im ersten Moment nicht erkannte, ob diese ihm oder seinem Mantel angehörten. Langsam stiefelte er in die Gildenhalle, wo sich schon die ersten Magier aufhielten. Auf der einen Seite wollte er mehr sozial sein, auf der anderen Seite plagten ihn die Erinnerungen an den Verrat. Somit stieß er die meisten Leute weg, aber dies ging leider nicht mehr so weiter. Aus diesem Grund schloss er sich doch einer Gilde an, damit er Freunde fand und sich mit anderen verbündete. Er trat Royal Crusade extra bei, da er die gleichen Ziele und Ideale verfolgte. Dennoch fand er keinen richtigen Anschluss zu den anderen Magiern, vielleicht lag es daran, dass er einfach durch seine Nobilität die anderen verschreckte. Ja, das musste es sein, woran anderes lag es bestimmt nicht. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht und einem eigenen Schulterklopfen für seine perfekte Kombinationsgabe verließ er das Gildenhaus von Royal Crusade und schaute sich in Crystalline Town Quests des öffentlichen Quest-Boards an. Siehe da, er wurde ausfindig! Es ging um einen Wäscheklau einer Dame, wie wagte es nur jemand, dass man sowas einer Frau antat! Dies war vielleicht nicht die bestbezahlte Quest, aber er brauchte das Geld, zu sehr wünschte er sich endlich neue Bücher. Anscheinend ging die Frau von Jugendstreichen aus, es schloss aber nicht aus, dass es sich nicht vielleicht doch um einen Erwachsenen handelte.
Die Quest-Details gaben auch her, dass sich die Quest in Süd-Fiore abspielte. Schlagartig krümmte er seinen Hals nach hinten und seufzte wieder, denn er hatte nicht mal genügend Geld für eine Zugfahrt. Er meldete sich für die Quest an und erfuhr den Namen Kenji, ein weiterer Magier, der sich auch schon meldete. Trotzdem machte er sich auf zu dem Bahnhof, denn er hatte noch ein Ass im Ärmel, vielleicht tauschte jemand eine Fahrkarte gegen einer seiner Bücher? Und siehe da, es fand sich jemand, der das Angebot annahm und die Reise mit dem Zug begann! Im Zug ging er die Quest-Details nochmals durch und notierte sich diese in seinem kleinen Notizbuch. Nach einiger Zeit kam er endlich in Süd-Fiore an. Jetzt legte er noch für ein paar Stunden einen Fußmarsch hin und begab sich zu dem vereinbarten Treffpunkt. Bran kam in Fallrock an, es sah nach einer sehr kleinen Siedlung aus, die Wege nicht einmal gepflastert, die Ortschaft sah für ihn ausgesprochen verlassen aus. Er lief an verschiedenen Einheimischen vorbei, die sich einander zuflüsterten, der Brillenträger schnappte jede Information auf, die er konnte. Es handelte sich um einen Magier, der nach einem gewissen Bran suchte. Er sprach eine Einwohnerin an und erkundigte sich über den Aufenthalt der gewissen Person. Keine dreißig Meter weiter sah er, wie eine Gestalt auf einer Bank saß und Trübsal blies. Das musste er sein, langsam näherte er sich der Bank und lauschte, was die Person von sich gab. Wie in Zeitlupe bildete sich ein schwarzer ominöser Schatten über den auf der Bank sitzenden. Mit geweiteten Pupillen betrachtete er ihn, ohne dass er ein Wort sagte. Doch dann unterbrach er die Stille mit einem Lachen, was sich einer kreischenden Krähe ähnelte. „Es sieht so aus, als würden Träume doch in Erfüllung gehen, meinst du nicht auch? Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt haben sollte, wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Bran Kirrin. Ich gehe davon aus, dass du Kenji bist?“.
Manavorrat 95/95
Try to test me, and see what happens
Kenji
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Missmutig schloss der Blondschopf die Augen. Zwar war die Sonne komplett von Wolken verhangen, trotzdem war es fast schon unangenehm hell, wenn man direkt in den Himmel blickte. Das hier war doch echt behämmert. Wenn es schon daran scheiterte, seinen Kollegen zu finden, wie sollte dann erst der Auftrag selbst werden? Maaahhhn, wieso hasste ihn die Welt bloß so sehr? Konnte nicht einmal etwas einfach sein? Etwas so laufen, wie er es gerne hätte? Mh, vielleicht war er für die Magier-Sache genauso wenig geeignet, wie für alles andere auch? Eine Wahrheit, der er nicht ins Auge blicken wollte. Sicherlich musste er nur etwas Erfahrung sammeln. Seine Unerfahrenheit war das Problem, nicht er selbst! Trotz geschlossener Lider merkte er, wie sich langsam ein Schatten über ihn legte. Eine besonders dicke Wolke? Vermutlich ... Langsam atmete er tief aus und wieder ein. In letzter Zeit vergaß er nur zu gerne, zu atmen. Wenn man es nicht mehr musste, gewöhnte man es sich wohl ab. Trotzdem tat er es, denn das Bedürfnis, es zu tun, war trotzdem da, egal, ob man es musste oder nicht. Der Wind bließ sanft den staubigen Weg entlang, ließ die Blätter der vereinzelten, umliegenden Bäume fröhlich tanzen und Rascheln. Doch den Wert der angenehmen Ruhe lernte Kenji erst, als sie ihm unerwartet und fast schon gewaltsam entrissen wurde. Der schrille Ton, der aus dem Nichts seine Ohren erfüllte, ließ ihn von der Bank aufspringen, ähnlich wie eine Katze, die plötzlich eine Gurke neben sich entdeckte. "SCHEEEIIIHHHHH-HEEIII-BENKLEISTER" Instinktiv versuchte er, möglichst viel Distanz in möglichst wenig Zeit zwischen sich und dem Quell des Geräusches zu bringen, scheiterte dabei jedoch kläglich. Seine Füße taten sich viel zu schwer, den hektischen Befehlen zu folgen und stolperten stattdessen nur planlos umher. Trotzdem schaffte er es - wenn auch nur knapp - nicht auf Tuchfühlung mit dem Boden zu gehen. Aus reiner Gewohnheit legte er seine Hand über die Brust, um sein viel zu schnell schlagendes Herz zu spüren. Doch da war nichts. Er war ja tot. Fast schon wieder vergessen. "Alter, was war das bitte für eine Aktion? Übel uncool", keuchte er, als wäre er einen Marathon gelaufen, doch eigentlich war es nur der Schreck, der noch tief in seinen Knochen saß. "Wieso musste ausgerechnet dieser Traum wahr werden? Und wieso so??" Tief durchatmen. Das wirkte auch ohne wirklichen Nutzen für den Körper beruhigend. "Kenji, ja. Ich kann aber gerade echt nicht behaupten, dass ich mich freue, dich kennenzulernen. Sorry man." Konnte man es ihm übel nehmen? Nach solch einem Schock war doch niemand begeistert, oder? Schon gar nicht jemand, der so schreckhaft war die der Ohara. Trotzdem konnte er seine Gedanken langsam wieder sortieren. Auch die Leute, die aufgrund des lauten Schreis ihre Fenster geöffnet hatten, kehrten wieder zurück zu ihrem Alltag. "Meh, das ist mir jetzt echt unangenehm." Er richtete seinen Kragen wieder, sodass dieser wieder ordentlich aufstand und alles verbarg. Auch über seine falschen Katzenohren fuhr er Sicherheit, doch diese hatten sich glücklicherweise nicht vom Fleck bewegt. Immerhin etwas. Vorsichtig trat er wieder etwas näher an den Schwarzhaarigen heran. Musste er ja, schließlich war das sein Kollege. "Äh, also, was geht so? Wie war deine Anreise?" Wie baute man eine halbwegs solide Beziehung zu jemandem auf, der einem gerade einen halben Herzinfarkt verpasst hatte? Vermutlich wäre es ein voller gewesen, wenn Kenji noch ein funktionierendes Herz besäße! Oh man, das war echt viel zu peinlich. Unruhig verlagerte er sein Gewicht immer wieder von einem Fuß auf den anderen. Sollte er vielleicht doch direkt auf die Quest zu sprechen kommen? Man, er hatte doch keine Ahnung von dem Zeugs!
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